Keine Disruption? Zum Potential und der Notwendigkeit von Bürgerräten

Bernhard Pötter schreibt in der taz zu Klimathemen. Ich schätze Ihn sehr. Zur Letzten Generation hat er geschrieben:

Verglichen mit ihrem Pathos und ihrem Störpotenzial sind ihre Forderungen fast banal: Tempolimit, 49-Euro-Ticket­, Bürgerrat, Gespräche mit der Regierung, wie am Beginn der Woche mit Verkehrsminister Volker Wissing. Alles gute Ideen – aber nichts, was uns einer echten Veränderung des fossilen Systems wirklich näher bringt. Keine Disruption.

Bernhard Pötter, Debatte um Letzte Generation: Klimakleben für alle, 06.05.2023, taz

Ich denke, dass Bernhard Pötter das Potenzial der Bürgerräte kollossal unterschätzt und habe ihm deshalb diesen Brief geschrieben:

Lieber Herr Pötter,

Vielen Dank für Ihren Beitrag zur Letzten Generation. Ich schätze Ihre Beiträge in der taz sehr! Insbesondere auch Ihren Humor. Ohne Humor wäre die gesamte Situation sehr schwer zu ertragen. So ist sie nur schwer zu ertragen.

Zu Ihrem Artikel bzgl. Letzte Generation möchte ich aber ein paar Anmerkungen machen. Ich habe mich auch oft gefragt, warum die Letzte Generation so etwas wie Tempolimit fordert und verspricht, die Proteste nach Umsetzung einzustellen. Das kann doch nicht ernst sein. Die Logik dahinter ist: Es ist klar, dass die Gegenseite (Porsche und Wissing) nicht auf dieses Angebot eingehen, obwohl ein Tempolimit nichts kosten würde und sehr einfach umzusetzen wäre. Damit kann man dann immer sagen: „Selbst zu diesen einfachsten Maßnahmen wart Ihr nicht bereit.“

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation bringen Tempo-100-Schilder zum Verkehrsministerium und lassen einige durch die Luft segeln. v.l.n.r Miriam Meyer, Edmund Schultz, Mirjam Herrmann, Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das 9€-Ticket (nicht das Jetzt-noch-49€-Ticket) wäre schon eine Stufe höher, denn dafür müsste der Nahverkehr massiv ausgebaut werden. Deshalb wurde das von Wissing eben auch nicht umgesetzt.

Christina Puciata, 53, Nachrichtensprecherin, und Jens Vierbuchen und zwei weitere Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation blockieren am Schönhauser Tor eine Straße. Berlin, 28.10.22

Die dritte Forderung der Letzten Generation nennen Sie auch zu soft, dabei ist das die Hammer-Forderung schlechthin und der einzige Weg, wie wir aus der Situation kommen, in der wir sind. Fridays For Future wurde dafür gelobt, dass sie (anfänglich) eben keine konkreten Forderungen gestellt haben. Sie haben „lediglich“ die Einhaltung des Pariser Abkommens gefordert. Es ist Sache der Politik, den Prozess der Transformation zu gestalten. Sache der Gesellschaft das irgendwie auszuhandeln. Fridays for Future hat das eingefordert. Nicht viel anders ist es bei der Letzten Generation: Sie haben einige Grundforderungen, Notmaßnahmen, aber die Hauptforderung ist jetzt Klimaneutralität 2030 + Gesellschaftsrat. Das große Problem, das wir haben, ist, dass Politik immer in Legislaturperioden gedacht und gemacht wird. Lobbyist*innen beeinflussen Politiker*innen. Politiker*innen wollen wiedergewählt werden. Das führt dazu, dass nicht im Sinne langfristiger positiver Entwicklungen entschieden wird. Außerdem wählt ein Großteil der Bürger*innen überhaupt nicht mehr. Sie sind durch unser Parlament also nicht repräsentiert. Ja, ihr Wille ist nicht einmal irgendwo erfasst. Diese Probleme wären mit einem Bürgerrat gelöst, denn der würde Deutschland repräsentativ abbilden. Gelost.

Raúl Semmler wird auf Polizeiauto festgenommen. Aktivisten der Letzten Generation fordern einen Gesellschaftsrat zu Klimafragen. Bei einem Slow-Walk-Protestmarsch. Schillingbrücke, Berlin, 19.04.23

Lobbyismus wäre stark erschwert. Wiederwahl egal. Es würden alle berücksichtigt. Man könnte dann – unter medialer Begleitung – aushandeln, was Deutschland bereit wäre zu tun, damit es 2030 oder wann auch immer klimaneutral wird. (Ein sehr schöner Film zum Thema ist When Citizens Assemble, der einen Bürgerrat in Irland dokumentiert. Es ging um Abtreibung, ein Thema, das mit anderen demokratischen Mitteln nicht entschieden werden konnte.)

Manche Ihrer Vorschläge würden vielleicht Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses sein. Andere Dinge, die Sie aufgezählt haben, sind freiwillige Initiativen, die man einfach jetzt schon machen könnte, und der Steuerboykott ist eine Protestform, die man dann vielleicht nicht mehr bräuchte.

Ich möchte Sie bitten, sich die Bürgerräte doch noch einmal genauer anzugucken. Für mich scheint es die einzige Möglichkeit zu sein, wie wir aus dem Schlamassel rauskommen. Die Letzte Generation hat eine gute FAQ zum Gesellschaftsrat auf ihrer Webseite. Die Bürgerräte stehen auf S. 8 schon im Koalitionsvertrag. Frühere Bürgerräte in Deutschland hatten CDU-Schirmherren (Schäubele, Köhler). Das heißt, dass sie parteienübergreifend als mögliche Erweiterung unserer Demokratie gesehen werden.

Das könnte etwas werden. Es muss. „Failure is not an option.“ Noam Chomsky

Herzliche Grüße

    Stefan Müller

Gisbert Fanselow: Ein Klima-Nachruf

Gisbert war nicht nur ein exzellenter Sprachwissenschaftler, was man daran ablesen kann, dass ein Workshop zu seinen Ehren, der all seine Aufsätze vorstellt, drei Tage dauert.

Gisbert war außerdem ein begeisterter Hobby-Ornithologe und von Anfang an in der Klimabewegung aktiv. Dieser Blog-Post will Gisberts Beiträge in der Klimabewegung beleuchten, die Entwicklung der Klimabewegung in Deutschland grob nachzeichnen und die Frage diskutieren, was er wohl von der Letzten Generation vor den Kipppunkten halten würde.

Das folgende Bild zeigt ihn auf der ersten größeren Demo Ende 2018. Zu einer Zeit, zu der es Fridays for Future in Deutschland noch nicht gab.

Kohle stoppen – Klimaschutz jetzt 2018

Der Linguist*innenblock bei Kohle stoppen – Klimaschutz jetzt! Berlin, 01.12.2018, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Scientists for Future 2019–

Gisbert war auch von Anfang an bei Scientists for Future (S4F) aktiv. S4F wurde gegründet, als Lindner in Bezug auf Fridays for Future sagte, die sollten das mal die Profis machen lassen.

Profi von morgen auf Fridays For Future Demonstration in Berlin, 15.03.2019, Bild: Stefan Müller CC-BY

Über 26.800 Wissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum taten sich zusammen und unterzeichneten ein Schreiben, das sich hinter Fridays for Future stellte, die Dringlichkeit der Klimakrise betonte und Maßnahmen forderte.

Researchstrejk – Forschungsmittagspause 2019–2020

Doch das war Gisbert nicht genug. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen der Berliner Unis gründete er im Mai 2019 (vor vier Jahren) Researchstrejk. Das war im Prinzip – wie die Schulstreiks von FFF – eine Aktion des zivilen Ungehorsams: Eine Stunde pro Woche wurde nicht geforscht, sondern mit Passant*innen diskutiert.

Wissenschaftlerinnen von HU, FU und der Uni-Potsdam beim Forschungsstreik bzw. der Forschungsmittagspause vor der Humboldt-Univeristät, Links Prof. Dr. Judith Meinschäfer, Prof. Dr. Heike Wiese, Katrin Neuhaus, Prof. Dr. Malte Zimmermann, Prof. Dr. Gisbert Fanselow, Berlin, 22.05.2019, Bild: Stefan Müller CC-BY

Weil einige seiner Mitstreiter*innen Bedenken hatten, wurde Researchstrejk in Forschungsmittagspause bzw. Climate Wednesday umbenannt. Die Mahnwachen fanden vor verschiedenen Berliner, Potsdamer und Leipziger Unis statt. Mitunter zusammen. Immer Mittwochs.

Forschungspause mit Wissenschaftler*innen von der HU, FU und aus Potsdam vor der FU Berlin. Gelbes Shirt: Prof. Uli Reich, kariert Dr. Hartmut Ehmler, rot Lorena Valdivia-Steel, weiß rechts Prof. Dr. Judith Meinschäfer, vorn kariert Gisbert Fanselow. 05.06.2019, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Bei diesem Protest vor dem Bildungsforum in Potsdam kam irgendwann die Polizei.

Researchmittagspause in Potsdam vor dem Bildungsforum, kariertes Hemd Prof. Dr. Gisbert Fanselow, kariertes Hemd daneben Dr. Hartmut Ehmler, am Transparent daneben: Dr. Lorena Valdivia-Steel, 12.06.19, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich dachte: „Oh, Mist! Nicht angemeldet!“ oder sonst wie Stress. Aber sie waren nur gekommen, um uns zu sagen, dass vor dem Landtag noch eine andere Klimagruppe war, die Verstärkung brauchte.

Proteste vor dem Potsdamer Landtag (mit Unterstützung des Researchstrejks). Links kariert Dr. Hartmut Ehmler, bei 1900 Prof. Dr. Gisbert Fanselow, 1980 Judith Meinschäfer, 2020: Dr. Lorena Valdivia-Steel, Potsdam, 12.06.2019, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Gisberts Idee war, dass viele verschiedene Berufsgruppen solche Aktionen machen sollten: Freitags die Schüler*innen, Mittwochs die Wissenschaftler*innen. „Auch guck mal die Bahn-Mitarbeiter*innen.“ „Nein, heute ist doch Donnerstag, das sind die Sparkassenangestellten.“ Das Medieninteresse an Researchstrejk war damals 0,0000. Aber vielleicht wussten wir auch nur nicht, wem wir wie hätten Bescheid sagen müssen.

Academia, DFG, DGfS, Selbstverpflichtung 2019–2020

Gisbert hat an der Uni Potsdam für Klimaschutz gekämpft, er hat sich in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wo er für Graduiertenkollegs verantwortlich war, und in der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) für Klimaschutz und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen eingesetzt. Gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer von der TU Berlin und mit mir hat er eine Selbstverpflichtungsaktion zum Verzicht auf Kurzstreckenflüge an den Unis in Berlin und Brandenburg gestartet. Die Unterschriften wurden dann beim globalen Klimastreik von Fridays for Future an FFF übergeben.

Verkündung der Ergebnisse der Selbstverpflichtungsaktion gegen Kurzstreckenflüge beim 3. globalen Klimastreik von Fridays for Future am Brandenburger Tor, Berlin, 20.09.2019, Bild: Melanie Quilitz CC-BY

Die Selbstverpflichtungsaktion wurde dann auf das Bundesgebiet ausgedehnt (S4F-Link), hat 4142 Unterschriften bekommen und ist wie so vieles andere in Corona untergegangen.

FFF und das Klimapäckchen 2019

Nach dem Klimastreik mit einer Beteiligung von 1,4 Millionen Menschen in Deutschland entwickelte die schwarz-rote Regierung (mit Olaf Scholz als Finanzminister) ein Klimapaket, das von der gesamten Klimabewegung als absolut unzureichend eingestuft wurde (#Klimapäckchen).

Demonstrationsteilnehmer kritisieren das Klimapaket der Großen Koalition bei der Fridays For Future-Demo . Das Transparent zeigt einen Rücksendeschein, auf dem Checkboxen angekreuzt sind: Der Artikel ist defekt oder beschädigt, zu spät geliefert, Lieferung unvollständig, Der Artikel entspricht nicht der Produktbeschreibung, Berlin, 29.11.19, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das Gesetz wurde im Oktober 2019 beschlossen. Nach einer Klage unter anderem von Rechtswissenschaftlern bei Scientists 4 Future wurde das Gesetz 2021 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Die schwarz-rote Regierung erarbeitet in Windeseile ein neues Klimaschutzgesetz, das Treibhausgas-Neutralität bis 2045 vorsieht und Reduktionspfade für einzelne Sektoren vorgibt. Das geschah gerade noch rechtzeitig vor den Bundestagswahlen 2021.

FFF war die einflussreichste Klimagruppe in Deutschland, aber parallel entwickelte sich auch Extinction Rebellion (XR). Diese Gruppierung ist in Großbritannien viel größer als FFF, was wahrscheinlich auf die jeweiligen Einzelpersonen, die die Organisationen in den entsprechenden Ländern geprägt haben, zurückzuführen ist. XR hat im Oktober 2019 in Berlin große Blockaden gemacht. Sie forderten Klimaneutralität 2025, was ich schon damals für sehr ambitioniert hielt. Jetzt haben wir 2023 und sind immer noch seeeehr weit von der Klimaneutralität entfernt.

All diese Bewegungen und so auch Researchstrejk habe durch Corona einen erheblichen Dämpfer bekommen. Researchstrejk wurde komplett beendet, da es sinnlos gewesen wäre, vor leeren Uni-Toren zu stehen.

Das verwaiste Klimahäuschen an der Humboldt-Universität in Corona-Zeiten, 15.05.2020, Bild: Stefan Müller CC-BY

Klimamontag 2020–2022

Aber es gab einen besseren Nachfolger: Berlin for Future organisierte am Alex jahrelang den Klimamontag. Einmal im Monat um 18:00 gab es Vorträge und Musik.

Gisbert Fanselow (Scientists for Future, Researchstrejk) auf der Montagsdemo für Klimaschutz von Berlin4Future, Berlin, Alexanderplatz, 07.09.20, Bild: Stefan Müller CC-BY

Parteieingründung Klimaliste Berlin 2020

Am 09.08.2020 wurde mit Radikal Klima eine Partei gegründet, die sich noch stärker für Klimaschutz einsetzen will als die Grünen.

Gründungsparteitag radikal:klima: Parteimitglieder, In der Else, Berlin, 09.08.20

Die Partei nennt sich später in Klimaliste um. Aktivist*innen wie Kathrin Henneberger treten in die Grüne Partei ein.

FFF, XR und Hungerstreik, Letzte Generation 2021–

FFF und XR haben aber auch in der Corona-Zeit weitergemacht. Ich habe Carla Hinrichs, Henning Jeschke und Lea Bonasera im August 2021 bei einer XR-Blockade fotografiert, ohne sie zu diesem Zeitpunkt zu kennen (Album).

Henning Jeschke (hinten rufend), Lea Bonasera (vorn mit Rise-Up-Tuch) und Carla Hinrichs (mit Geste) bei der Blockade des Brandenburger Tors angeklebt an einem Tripod, Berlin, 20.08.21, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Die drei waren dann später beim Hungerstreik (Album) aktiv und haben die Letzte Generation gegründet. Zu diesem Zeitpunkt waren die Entwürfe des sechsten IPCC-Reports geleakt worden und die Hungerstreikenden wussten bestens Bescheid.

Jacob, Ruben und Henning vom Hungerstreik der letzten Generation am 13. Tag des Hungerstreiks bei der Medienarbeit. Sie hatten damals schon den geleakten IPCC-Report. Berlin, 11.09.21

Sie waren der Meinung, dass es nicht ausreichen würde, sich ab und zu mit XR zu treffen (Frühlings- und Herbstrebellion) und ein paar Straßen zu blockieren. Ihrer Meinung nach musste der Protest auf eine ganz andere Stufe gehoben werden. Die Letzte Generation begann Widerstand gegen die unzureichenden Klimamaßnahmen zu organisieren. Die erste Aktion war eine Container-Aktion. Sie verteilten gerettete Lebensmittel im und vor dem Kaufland im Wedding (Album). Die Menschen waren dankbar.

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation verschenken weggeworfene Lebensmittel im Kaufland in der Residenzstraße, Mitte Lina Eichler, rechts Henning Jeschke. Berlin, 08.01.21, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Wenig später begannen die im Gespräch mit Scholz angekündigten Autobahnblockaden. Das war aber nicht alles. Die Letzte Generation hat ein wirklich buntes Programm an Protestaktionen entwickelt. Ich glaube, dass die Öl-Aktion vor dem Kanzleramt, bei der sechs Olaf Scholzs nach Nordseeöl gruben (Album), und auch die Weihnachtsbaum-Aktion, bei der LG vor den Augen der Polizei über 20 Minuten mit einer Hebebühne agierte, um die Spitze des Weihnachtsbaums am Brandenburger Tor abzuschneiden (Album), Gisbert gefallen hätten, denn er war für Quatsch aller Art stets zu haben. So war er auch Bestandteil des Kabinetts Müller I, das ich in meinem grenzenlosen Optimismus schon zusammengestellt hatten. Ich war ja 2021 einer der 299 Kanzlerkandidat*innen der Partei Die PARTEI. Gisbert war für den Minister für Post und Fernmeldewesen vorgesehen. Wir wollten die bestehenden Telegrafenverbindungen von der Sternwarte in Mitte zum Telegraphenberg in Potsdam zur DFG nach Köln wieder aktivieren und auch Bayern modernisieren. Leider ist aus meinen Kanzlerplänen nichts geworden, aber immerhin war ich der einzige Kanzlerkandidat, der die Forderung der Hungerstreikenden nach einem Gespräch erfüllt hat.

Aktivistinnen vom Aufstand der letzten Generation in Olaf Scholz-Kostümierung graben vor dem Bundeskanzleramt nach Öl, um auf die Unsinnigkeit der Erschließung neuen Erdöls in der Nordsee hinzuweisen. Berlin, 09.07.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY
Aktivistinnen der Letzten Generation mit Hebebühne am Weihnachtsbaums vor dem Hotel Adlon, im Hintergrund zwei Mannschaftswagen der Polizei, vorn macht Edmund Schultz ein Bild. Berlin, 21.12.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Aktionen wie die mit den sechs Ölafs und dem Weihnachtsbaum wurden jedoch von den Medien weitestgehend ignoriert. Das einzige, was zuverlässig für Schlagzeilen sorgte, waren Autobahnblockaden.

Krieg, IPCC-Bericht, Letzte Generation, Extinction Rebellion und Scientists Rebellion 2022

Am 24.02.2022 begann Putin seinen Krieg gegen die Ukraine. Die Klimakatastrophe war medial abgemeldet. Eine spektakuläre Aktion der Letzten Generation mit Luftballons am BER ging in der Kriegsberichterstattung unter.

Miriam Meyer (vorn) und Lina Eichler vom Aufstand der Letzten Generation springen mit Ballons am Flughafen BER aus einem Transporter. Miriam Meyer hat vorher im Fernsehen angekündigt, die Ballons aufsteigen zu lassen. Miriam Meyer vom Aufstand der Letzten Generation informiert den Tower. Der Aufstand der Letzten Generationen blockiert Häfen und Flughäfen, um die Ausarbeitung eines Gesetzes gegen Lebensmittelverschwendung und eine Agrarwende zu erzwingen, so dass die Ernährung auch trotz Klimakrise gesichert bleibt. Berlin-Schönefeld 25.02.22

Der IPCC-Bericht wird in drei Teilen veröffentlicht. Der erste erscheint am 28.02.2022. Extinction Rebellion blockiert die Marschallbrücke.

Extinction Rebellion zündet Weltkugel an, um auf IPCC-Bericht hinzuweisen. Aktivistin mit Scholz-Maske und Benzin-Kanister, auf dem Lobby steht, gießt weiter Benzin ins Feuer. Marschallbrücke, Berlin, 28.02.2022

Die Zeitungen sind voll mit Kriegsberichterstattung. Immerhin schafft es Antonio Guterres als einziges Nicht-Kriegsthema in die 20:00-Ausgabe der Tagesschau.

Am 5.3.22 eine erneute Blockade der Marschallbrücke durch Extinction Rebellion. Diesmal mit einem raffinierten trojanischen Pferd, in dem vier Personen versteckt und vier weitere mit Lock Ons außen verbunden sind (Album).

Extinction Rebellion blockiert die Marschallbrücke, um auf den IPCC-Report und die Verfehlung des 1,5„-Ziels hinzuweisen. Vier Menschen haben sich mit Lock Ons von außen an die Konstruktion gefesselt. In der Konstruktion sind weitere Menschen miteinander verbunden. Marschallbrücke, Berlin, 05.03.22

Zwei Aktivist*innen von Extinction Rebellion verlesen eine Rede, die man für eine typische Aktivist*innen-Rede halten könnte, aber sie ist von Antonio Guterres, dem UN-Generalsekretär (Rede).

Aktivisten von Extinction Rebellion verlesen während der Blockade der Marschallbrücke die Rede von UN-Generalsekretär António Guterres zum IPCC-Report. Berlin, 05.03.22

Zur selben Zeit sind Wissenschaftler*innen auf einem Platz an der Leipziger Straße aktiv. Mitten auf dem Platz besprühen sie Kittel mit dem Schriftzug Scientist Rebellion. Sie haben einen Eimer mit roter Farbe dabei und eine Schablone mit der „Aufschrift Ukraine Climate War“. Aufgrund des Krieges ist Berlin in erhöhter Alarmbereitschaft. Botschaften und andere Einrichtungen werden besonders bewacht. Die Zentrale von Gazprom ist gleich um die Ecke, zwei Zivilpolizisten mit offen getragener Pistole sind gleich auf dem Platz und zwingen alle auf den Boden. Erkennungsdienstliche Behandlung, Platzverweise.

Wissenschaftler von Scientists Rebellion wurden mit Schablone und Farbeimer in der Nähe der Gazpromvertretung in Berlin festgenommen. Auf der Schablone steht: „Ukraine Climate War“. vlnr. Daniele Artico, Physiker, Doktorand, Kyle Topfer, Umweltwissenschaftler, MSc Student, Christian Bläul, Physiker, Mike Lynch-White, Physiker. Jugendpark der WBM, Berlin, 05.03.22

Am 4.4. erscheint der dritte Teil des IPCC-Reports. Scientist Rebellion hat inzwischen genug Kittel besprüht, ist besser organisiert und Wissenschaftler*innen aus ganz Europa – darunter eine hochschwangere Biologin – blockieren die Kronprinzenbrücke (Album).

Wissenschaftler*innen von Scientist Rebellion blockieren die Kronprinzenbrücke in Berlin, um auf die dramatischen Folgen der Klimakatastrophe laut IPCC-Bericht hinzuweisen. Unter Fahrradverkehrsschild mit Pyro Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim, Geologe aus Bonn, Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22

Klima after work 2022

Heinrich Stößenreuter, Initiator von vielen NGOs und Ereignissen (Changing Cities, German Zero, Critical Mass Berlin) hat mit Wolfgang Oels (CEO von Ecosia), Künstler*innen von Volle Halle und Berlin 4 Future die Klima after Work-Party ins Leben gerufen.

Rebel for Life: Kleines Kind mit Extinction-Rebellion-Jacke und Oma for Future beim ersten Klima after Work, Im Hintergrund mit Mütze Antonio Rohrßen von der Klimaliste Berlin, Invalidenpark vor dem Klimaministerium, Berlin, 01.07.22

Das war im Prinzip eine lowlevelige Variante des Klimamontags. Eine Art Party, die jeden Freitag 17:00–18:00 stattfand. Die Idee Wolfgang Oehls war, dass sich die Teilnehmerzahlen jede Woche verdoppel sollten und bei 10 Mio würde es dann sehr schnell echten Klimaschutz geben. Alle waren mal da, aber zu exponentiellem Wachstum kam es nicht.

Dieser Plan war aber wohl ohne die extreme Individualisierung und Überforderung durch Corona gemacht worden. Klima after Work lief bis Weihnachten 2022.

Volksbegehren / Volksentscheid 2022–2023

Die Initiative Klimaneustart hat über Jahre für ein Volksbegehren und einen Volksentscheid gekämpft. Da Berlin wegen Schlamperei Neuwahlen durchführen musste, hätte es nahe gelegen, den Volksentscheid gemeinsam mit den Wahlen durchzuführen. Die Politik in Berlin hätte dann gewusst, was das Volk in Berlin will, aber die SPD hat das bewusst hintertrieben, hat den Volksentscheid in den März verschoben, auf einen Tag, der wegen der Zeitumstellung eine Stunde kürzer war und an dem ein Halbmarathon stattfand.

Aktion von Extinction Rebellion zum Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030 für einen gemeinsamen Termin mit der Landeswahl: Andreas Geisel, Franziska Giffey und Iris Spranger werfen zerrissene Unterschriftensammelbriefe hoch. Rotes Rathaus, Berlin, 07.11.22

Geht doch in eine/gründet doch eine Partei, startet eine Petition, geht wählen, macht einen Volksentscheid

Ich habe in den letzten Jahren viele Klimaaktionen fotografisch begleitet. Oft haben Polizist*innen mit Aktivist*innen diskutiert und versucht, sie auf den Pfad der Tugend zurück und vom zivilen Ungehorsam abzubringen.

Das Kommunikationsteam der Polizei diskutiert mit Aktivisten während der Blockade des Potsdamer Platzes durch Extinction Rebellion, Aktivist hält ein Banner mit der Aufschrift: „Wir müssen nicht das Klima retten sondern uns selbst!“ Berlin, 19.09.22

Sie hatten viele Vorschläge: Geht in eine Partei! Gründet eine Partei! Startet eine Petition, geht wählen, macht einen Volksentscheid, meldet Eure Demos an. Wie ich oben gezeigt habe, machen Aktivist*innen all das ständig. Manche auch gleichzeitig. Bis zum Burnout. Die Zeit ist knapp, denn es müssen in den nächsten Jahren die Weichen gestellt werden. Im IPCC-Report steht: „Die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen werden sich jetzt und für Tausende von Jahren auswirken.“ So, wie die Weichen jetzt stehen, zeigen sie nicht in Richtung 1,5°! Übrigens: Das 1,5°-Ziel wurde einstimmig vom Bundestag beschlossen. Es ist der Kompromiss. Man muss darüber nicht neu verhandeln. Man muss handeln.

Workshop und Berlin-Blockade 04/2023

Gisbert war ab Januar 2022 schwer krank, so dass ich ihn nicht mehr persönlich getroffen habe. Wir haben nie über die Letzte Generation vor den Kipppunkten geredet. Vom 27.–29.04.2023 fand nun der sprachwissenschaftliche Workshop zu seinen Ehren statt. Vom 24.04. an stört die Letzte Generation mit 800 Menschen den Verkehr in Berlin. Das sind Straßenblockaden mit den üblichen Klebeaktionen. Autobahnauffahrten, mit gemieteten Autos auch Autobahnen mittendrin und dann auch Kreuzungen im Innenstadtbereich. Dazu kommen so genannte Slow Walks, bei denen die Aktivist*innen einfach so die Straße langlaufen. Langsam. (Album)

Slow walk der Letzten Generation. in der Mitte Sonja Manderbach, Rotes Rathaus, Berlin, 24.03.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das erzeugt auch lange Staus. Je nach Situation sorgt die Polizei für gesperrte Straßen, indem sie Aktivist*innen kesselt. (Album)

Aktivist*innen der Letzten Generation werden am Alexanderplatz von der Polizei gekesselt. Berlin, 19.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich habe an alle Workshopteilnehmer*innen geschrieben, dass sie am besten das Rad nehmen sollten, denn beim Nahverkehr gibt es viele Baustellen und die Straßen sind dicht. Am ersten Tag, als ich auf dem Weg zum Festsaal der HU war, leitete die Polizei den Verkehr durch die kleine Nebenstraße, die ich nehme, um die Kreuzung Eberswalder/Schönhauser zu vermeiden. Ich dachte mir, diesen ganzen Verkehr tue ich mir jetzt nicht an, und bin weiter den Radweg gefahren. Auf der Kreuzung saß dann auch die Letzte Generation.

Sie haben sich dann auch unbemerkt in meinen Vortrag beim Gisbert-Workshop eingeschlichen. Sie waren einfach mittendrin auf einer Folie. Ohne Sinn und Verstand! Es hat nicht gepasst. Nur gestört. Die Bildqualität des Beamers war schlecht. Es war mir peinlich.

Einen Tag später saßen sie wieder da. Andere Menschen, gleiche Stelle:

Die Letzte Generation blockiert die Kreuzung Eberswalder/Schönhauser Allee. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich bin dann zum Ernst-Reuter-Platz zu einer angemeldeten Demonstration von Wissenschaftler*innen gefahren, die sich mit der Letzten Generation solidarisch erklärt haben (Album).

Wissenschaftler*innen solidarisieren sich mit der Letzten Generation. Auf dem Schild mit den Warming Stripes steht ein Zitat aus dem IPCC-Report: „Die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen werden sich jetzt und für Tausende von Jahren auswirken.“ Dr. Matthias Schmelzer spricht. Ernst-Reuter-Platz. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Zufällig gab es dann auch drei Straßenblockaden um den Ernst-Reuter-Platz herum.

Wissenschaftler*innen solidarisieren sich mit der Letzten Generation bei einer Blockade des Ernst-Reuter-Platzes. Auf dem Transparent steht: „Die Wissenschaft steht hinter der Letzten Generation“, Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ganz rechts im Bild steht Dr. Hartmut Ehmler, Physiker und Energiewissenschaftler. Er war einer derjenigen, die beim Researchstrejk aktiv waren. Auch Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer hat sich bereits bei einer früheren Solidarisierungsaktion mit der Letzten Generation solidarisiert (Album):

Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer, TU Berlin, Zentrum Technik und Gesellschaft (Wissenschaftliche Geschäftsführerin) spricht bei Veranstaltung zur Solidarisierung mit der Letzten Generation. Im Hintergrund Dr. Helen Feulner, Unter den Linden, Berlin, 17.02.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich fand die Solidarisierungsaktion am Ernst-Reuter-Platz, die genau zeitgleich mit dem Gisbert-Workshop stattfand, interessant und habe mich wieder gefragt, ob er wohl heute hier gewesen wäre.

Als ich später die Bilder ausgesucht habe, habe ich etwas gesehen, was mir vor Ort nicht aufgefallen war:

Firmenfahrzeug der Firma Horst Fanselow passiert Blockade der Letzten Generation am Ernst-Reuter-Platz. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ein großer roter Transporter von Fanselow-Berlin passierte die Blockade. Fanselow ist nun nicht so ein häufiger Name. Es kann also kein Zufall sein. Gisbert hat uns ein Zeichen geschickt und meine Frage beantwortet.

Nachwort

Ellen Brandner hat beim Workshop aus einem frühen Aufsatz von Gisbert zur Bindungstheorie zitiert: „Die Lage ist hoffnungslos aber nicht ernst“ (eine Verdrehung einer Aussage eines Kollegen). So ist es auch mit dem Klimaschutz: Die Regierung von Porschepartei, Klimakanzler und LNG-Grünen ist hoffnungslos vom Kurs abgekommen und will nun sogar auch noch das Not-Klimagesetz, das Scholz selbst mitverantwortet, so aufweichen, dass die Sektoren nicht mehr einzeln verantwortlich sind und auch nicht mehr so oft die Einhaltung überprüft wird. Das alles lässt sich nur mit Humor ertragen. Wir sind also nicht ernst. Ich glaube nicht ernsthaft daran, dass Gisbert über rote Autos mit uns kommuniziert.

Und übrigens: Das ist Ernst:

Ernst Hörmann (72, 8 Enkel), Aktivist vom Aufstand der Letzten Generation, bei der erkennungsdienstlichen Behandlung nach der Blockade der A100, Berlin, 04.02.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Er ist 73, hat 8 Enkel und ist bei der Letzten Generation aktiv.

Gedenkminute für Gisbert Fanselow von seinen Mitstreiter*innen bei Scientist 4 Future, Researchstrejk, Climate Wednesdays. Golm, 23.11.23

Die Letzte Generation vor den Kipppunkten tötet! Einen Baum!

Jetzt ist es passiert. Die Letzte Generation vor den Kipppunkten hat getötet. Ein Lebewesen. Einen Baum. Ich finde das nicht gut und denke darüber nach.

Aktivisten der Letzten Generation haben vor dem Bundeskanzleramt einen Baum gefällt: Die Bundesregierung sägt den Ast ab, auf dem wir sitzen. Links Lina Schinköthe, rechts Franz Winter, Berlin, 21.02.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Letztendlich haben sie aber nur das gemacht, was sie schon immer gemacht haben: Sie haben Essen auf die Straße geworfen, um auf die Verschwendung hinzuweisen.

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation blockieren die A100. Auf der Straße liegen Lebensmittel, die von Supermärkten weggeworfen wurden. Die Polizei fegt sie von der Straße. Ernst Hörmann (72, 8 Enkel) sitzt vorn rechts. Samuel Koch links daneben. Beide sind angeklebt. Berlin, 04.02.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das Essen war aus dem Müll, also geschenkt. Bzw. geklaut. Denn Containern ist eine Straftat!

Henning Jeschke zeigt Polizei Folge vom Browserbalett zum Containern. Der Polizist dreht sich vom Handy weg. Lager der Gorillas, Berlin, Residenzstraße, 08.01.22

(Die Container-Aktion hat sich übrigens genau so zugetragen wie im Video vom Browser-Balett, nur dass die Aktivist*innen das von der Polizei zurück in den Container gebrachte Essen noch mal geklaut haben.)

Dann haben sie Öl verschüttet, um gegen Erschließung neuer Ölvorkommen in der Nordsee zu protestieren. OK. War kein Öl, sondern nur angedickte Pampe.

Aktivistinnen vom Aufstand der letzten Generation in Olaf Scholz-Kostümierung vergießen Öl vor dem Bundeskanzleramt, um auf die Unsinnigkeit der Erschließung neuen Erdöls in der Nordsee hinzuweisen. Berlin, 09.07.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Dann haben sie Bilder mit Kartoffelbrei beworfen, um darauf hinzuweisen, dass auch die Kunst verloren gehen wird, wenn unsere Gesellschaften im Chaos versinken werden. Die Bilder sind hinter Scheiben, also nichts wirklich passiert. Mich hat es aber dennoch geschockt. Ich mag Bilder. Ich glaube, diese Bilder-Aktionen waren für mich. Die Staus auf der Autobahn sind mir egal und vielleicht empfinde ich sogar ein bisschen Schadenfreude. Ich habe zwar eine LKW-Fahrerlaubnis, hatte aber noch nie ein Auto.

Nun also haben sie einen Baum abgesägt. Das ging zu weit: Sie haben ein Lebewesen umgebracht. Eine Grenze überschritten. Bin ich Spießer? Ein komischer Öko? Ein Tree-Hugger? Ja, echt. Ich hätte den Baum zum Abschied noch umarmt, wenn er nicht so dünn gewesen wäre. Na, nu isser hin.

Warum finde ich es schlimm, dass dieser Baum sterben musste? Warum finde ich es nicht viel schlimmer, dass der ganze Harz tot ist? Die Vogesen? Die Sächsische Schweiz? Der Thüringer Wald.

Torfhausmoor am Brocken – Dying Forest, 30.05.2020, Bild: Frerk Meyer, CC-BY-SA

Schnirps, schnirps frisst sich er Borkenkäfer durch die von der Hitze geschwächten Bäume. Wir haben überlegt, wo wir in den Osterferien hinfahren. Harz oder Ostsee standen zur Diskussion. Die Bilder der Ferienunterkünfte zeigen den herrlichen Wald um Thale und Schierke. Aber: Davon ist nichts mehr übrig. Und es kommt auch so schnell nichts mehr wieder. Neue Bäume anzupflanzen ist nicht trivial, wenn das Wasser fehlt. Vielleicht wächst im Harz ein besser an die klimatischen Bedingungen angepasster Mischwald, wenn das Wasser reicht. Und in Brandenburg? Nach den Waldbränden in den Hitzesommern? Brandenburg hat zu wenig Wasser. Der Grundwasserpegel sinkt, Seen trocknen aus.

Warum nehmen wir das hin? Warum machen wir einfach so weiter? Warum fahren wir einfach nicht mehr in diese Gebiete, sondern dahin, wo die Folgen noch nicht so sehr zu sehen sind?

Ich möchte eine Vorhersage machen: Die Letzte Generation vor den Kipppunkten wird im Juni vor dem Kanzleramt eine Katze köpfen. Begründung: Katzen-Content geht immer auf Social Media und die Katzen werden auch unter der Hitze leiden, wenn wir so weitermachen. Die Polizist*innen vor dem Kanzleramt sollten also nicht nur auf Menschen mit Sägen, sondern auch auf solche mit Katzen in Rucksäcken oder auch Katzenboxen achten. Und auf Menschen mit Hunden. Besonders kleine niedliche Hunde. Hundehalter*innen sollten intensivst durchsucht werden. Auch aufpassen muss man natürlich bei Pferden, Schafen und Kühen.

OK. Das mit dem Vieh ist ernst: Durch Dürren verhungern Kühe und Schafe. Die betroffenen Menschen können nicht einfach neue zaubern. Sie sind ihrer Lebensgrundlage beraubt und es bleibt nur die Flucht.

tagesschau, 27.01.2022

Also: Zusammenfassung. Wenn Ihr nicht wollt, dass die Letzte Generation vor den Kipppunkten Katzenbabys köpft, dann macht irgendwas anderes, was die Regierung dazu bringt, das Klimaschutzgesetz einzuhalten und endlich massivst Transformationen anzukurbeln. Sie könnten ja zum Beispiel mit den Bürgerräten anfangen, die im Koalitionsvertrag auf S. 8 stehen.

Ihr wisst nicht, was Ihr tun könnt? Dann geht wenigstens zum Klimastreik von FFF. Der nächste ist am 3.3. Irgendwo auf diesem Planeten direkt vor Eurer Haustür.

PS: Ich hoffe inbrünstig, dass die Letzte Generation vor den Kipppunkten diese Vorhersagen nicht wahr werden lässt. Sonst könnte noch jemand denken, ich hätte das geplant oder mich verantwortlich machen, weil ich sie inspiriert hätte.

Unfried, Palmer und die Letzte Generation

Heute gibt es einen Kommentar von Peter Unfried zur Letzten Generation und ein Interview von Unfried mit Boris Palmer in der taz. Ich nehme beides hier auseinander:

Kommentar von Peter Unfried zur Letzten Generation

Peter Unfried kritisiert eine Aktion der Letzten Generation vor den Kipppunkten vor dem Bundeskanzleramt, bei der diese einen Baum abgesägt haben, um auf die Zerstörung hinzuweisen.

Aktivisten der Letzten Generation haben vor dem Bundeskanzleramt einen Baum gefällt: Die Bundesregierung sägt den Ast ab, auf dem wir sitzen. Links Lina Schinköthe, rechts Franz Winter, Im Hintergrund sieht man das Polizeiauto, das die Wand vom Kanzleramt bewacht und klein einen weiteren Aktivisten, der die Wand zur Ablenkung besprüht hat. Berlin, 21.02.23

Ehrlich gesagt, finde ich diese Aktion von all denen, die ich bisher fotografiert habe (insgesamt 32) am wenigsten stimmig, aber das ist eine andere Frage. Im Folgenden sind die Zitate aus dem Kommentar blau. Also:

Unfried schreibt:

Klimaschutz-Aktivisten haben in dieser Woche in Berlin einen kleinen Baum vor dem Kanzleramt gefällt, um die „Zerstörung der Zivilisation durch Wirtschaft & Politik sichtbar“ zu machen. Putzig, danke vielmals. Da wären wir ja ohne die pädagogisch-metaphorische Belehrung der „Letzten Generation Hänschen klein“ niemals drauf gekommen. Offenbar hält diese Truppe die Deutschen, also uns, für bescheuert, gehirngewaschen durch Konsumfetischismus und so was, und deshalb apathisch und ignorant gegenüber bösen Kapitalisten und ihren liberaldemokratisch gewählten Helfershelfern, sodass man uns wachrütteln muss.

Das ist polemisch, aber OK, es ist ja ein Kommentar. Darf ich auch polemisch sein? Ein bisschen?

George Monbiot, Journalist beim Guardian, geht davon aus, dass weniger als 1% der Weltbevölkerung die Klimakatastrophe in ihrer ganzen Schönheit verstanden haben (Video von 2022). Ich bin sehr froh, jetzt von Peter Unfried gelernt zu haben, dass dieses eine Prozent deckungsgleich mit der deutschen Bevölkerung ist. Das ist toll. Dann sind wir zumindest in Deutschland der Lösung der Probleme wahrscheinlich recht nahe. Ansonsten hier noch mal die Erinnerung von Maja Göpel von 2019, die im Prinzip dasselbe wie George Monbiot sagt: Das Ausmaß der Bedrohung durch die Irreversibilität ist von den meisten Menschen noch nicht verstanden worden.

Jetzt kann man sagen: Ah, ja. Das war 2019. Inzwischen hat es auch der/die letzte geschnallt. I doubt it. Ich kann Peter Unfried (Chefreporter der taz) nur empfehlen, einfach mal das Volk zu Klimathemen zu befragen. Ich habe mit vielen Menschen geredet, als ich Unterschriften für den Volksentscheid Berlin Klimaneutral 2030 gesammelt habe. Und: Es mag schockierend sein für einen Chefreporter einer Zeitung: Aber es gibt Menschen die nicht Zeitung lesen und keine Ahnung von der Klimakatastrophe haben.

U schreibt:

Das ist eine traditionelle Widerstandserzählung, sie stimmt halt nur so nicht. Vor allem ist sie nicht produktiv zu bekommen. Was wäre denn die Alternative zu Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie?

Das ist Polemik gepaart mit Unkenntnis und Unterstellung. Die Letzte Generation möchte die parlamentarischen Demokratie nicht abschaffen. Das weiß auch der Berliner Verfassungsschutz und die Zeitung, in der Peter Unfried Chef-Reporter ist, hat darüber berichtet:

Derweil sieht der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, die Letzte Generation nicht als extremistisch an. Bei einer Diskussionsveranstaltung am Mittwoch sagte Halden­wang, er erkenne nicht, „dass sich diese Gruppierung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet“. Insofern seien die Ak­ti­vis­t:in­nen kein Beobachtungsobjekt für den Verfassungsschutz.

taz, 17.11.2022, Verfassungsschutzchef zu Letzte Generation: „Klima-RAF“ ist „Nonsens“

Und weiter von U:

Linksautoritäre Staatswirtschaft ja wohl nicht, in der die Läden halbleer sind, die Staatskassen ganz leer und die Leute davonrennen, wenn man sie nicht erschießt. Ich chargiere jetzt auch mal etwas.

Ja, das funktioniert nicht, das will auch keiner und die geforderten Bürgerräte sind gedacht, genau das zu verhindern. Siehe unten. Zu den halb leeren Läden: Ich verweise auf Großbritannien, wo zum Teil durch den Brexit aber eben auch zum Teil durch Missernten bedingt, die Regale leer sind. (tagesschau, 2023)

Zu schaffen macht den Landwirten auch der Klimawandel. So litt Großbritannien im Sommer 2022 unter einer Hitzewelle, im Dezember unter langem, hartem Frost. Wegen des schlechten Wetters seien Karotten, Pastinaken, Kohl und Blumenkohl in Mitleidenschaft gezogen worden, sagte Tim O’Malley vom britischen Lebensmittelproduzenten Nationwide Produce. Er rechnet mit weiteren Preissteigerungen.

tagesschau 22.02.2023: Tomaten und Gurken werden knapp Britische Supermarktketten rationieren Gemüse

Wer regiert dort gerade? Ja, die Tories. So weit weg von linksautoritärer Staatswirtschaft, wie es nur geht.

Performance von Extinction Rebellion am Tag der Biodiversität, um auf das von Bayer mitverursachte Artensterben und die drohenden Versorgungskrisen hinzuweisen. Vor der Bayer-Zentrale Müllerstraße, Berlin, 23.05.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Die Letzte Generation vor den Kipppunkten – und wie das Bild zeigt, nicht nur die – warnt vor Ernährungsengpässen durch Missernten, die kommen werden, und wenn wir Pech haben, kommen sie durch die sich gegenseitig verstärkenden Krisen früher und massiver als wir gedacht haben. Die Brotpreise sind im letzten Jahr bereits gestiegen (Ukrainekrieg + Missernten, Deutschlandfunk). Übrigens: Zu dem Zeitpunkt, ab dem die Läden hier leer sein werden, lohnt sich das Wegrennen nicht mehr, denn nebenan werden sie genauso leer sein.

Unfried schreibt:

Oder sorgen statt gewählter Parlamentarier ausgeloste Bürger dafür, dass es keine unterschiedlichen Interessen mehr gibt?

Das ist unglaublich und eine Schande für die taz. In mehrerlei Hinsicht. 1) scheint Peter Unfried nicht zu wissen, was Bürgerräte sind, wie sie funktionieren und was deren Ziel ist. Auch scheint er den Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung nicht zu kennen. Ich zitiere aus diesem Koalitionsvertrag (S. 8):

Lebendige Demokratie
Demokratie lebt vom Vertrauen in alle staatlichen Institutionen und Verfassungsorgane. Wir werden daher das Parlament als Ort der Debatte und der Gesetzgebung stärken.
Wir wollen die Qualität der Gesetzgebung verbessern. Dazu werden wir neue Vorhaben frühzeitig und ressortübergreifend, auch in neuen Formaten, diskutieren. […]
Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren. Dabei werden wir auf gleichberechtigte Teilhabe achten. Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt. Das Petitionsverfahren werden wir insgesamt stärken und digitalisieren und die Möglichkeit schaffen öffentliche Petitionen in Ausschüssen und im Plenum zu beraten.

Koalitionsvertrag 2021–2025, SPD, Grüne, FDP, S. 8

Die Bürgerräte sollen nicht statt der Parlamentarier*innen arbeiten, sondern diesen zuarbeiten. Herr Unfried möge dazu auch die Erklärung der Letzten Generation vor den Kipppunkten (insbesondere Punkt 21 In welchem Verhältnis steht der Gesellschaftsrat zur Regierung bzw. zu gewählten Gremien?) lesen.

Die Bürgerräte sind nicht dazu da, dass es hinterher eine Gesellschaft mit Bürger*innen gibt, die alle die gleichen Interessen haben. [Parlamentarisch gewählte Abgeordnete übrigens auch nicht.] Bürgerräte sind dazu da, Probleme zu lösen, die man mit den normalen politischen Mitteln nicht gelöst bekommt. Zum Beispiel deshalb, weil keine Partei Maßnahme XY vorschlagen oder durchsetzen kann, ohne massive Stimmenverluste zu erleiden. Oder eben weil man Mehrheiten braucht für Regierungen und dann eine FDP mit dabei hat, die um ihre Rolle weiß und alles blockiert. Ein Beispiel für ein solches Problem war die Frage der Abtreibung im katholischen Irland. Keine Partei konnte es sich leisten, sich für Abtreibung einzusetzen. Der Bürgerrat hat Vorschläge an die Regierung gemacht. Auf Grundlage dessen gab es ein Referendum und jetzt ist die Abtreibung legalisiert:

Bericht über den Bürgerrat zur Abtreibung in Irland

Es gab in Deutschland schon einige Bürgerräte zu verschiedenen Themen. Einer davon zum Klima. Dieser fand unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler (CDU) statt. Hier kann man Bundestagspräsident Wolfgang Schäubele (CDU) zu einem anderen Bürgerrat sehen:

Wir haben also SPD, Grüne, FDP und CDU als Befürworter dieses Instruments zur Erweiterung der Demokratie. Die Letzte Generation vor den Kipppunkten kämpft für die Erhaltung der Demokratie, ja für ihre Verbesserung. Für einen Weg aus der Falle, in der wir uns – auch durch Einwirkung von Lobbygruppen – festgefahren haben.

Zu einem Wort im letzten Zitat muss noch etwas angemerkt werden: statt. Die Letzte Generation vor den Kipppunkten fordert in der Tat, dass die Ergebnisse des Gesellschaftsrats 1:1 umgesetzt werden. Der Grund hierfür ist, dass es bereits einen Klima-Bürgerrat gab, die Ergebnisse aber einfach ignoriert wurden. Auch Ergebnisse von Bürgerräten in anderen Ländern wurden nur teilweise umgesetzt (Frankreich, taz, 26.10.2020). Wie Umfragen zu den Ergebnissen des Klimabürgerrates zeigen, werden die Ergebnisse von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert (PHA2SE, 2021). Wenn man das noch einmal demokratisch absichern wollen würde, könnte man den Bürgerrat mit einem Volksentscheid kombinieren. Das Problem ist, dass dazu das Grundgesetz geändert werden müsste, weil dieses Volksentscheide auf Bundesebene nur zu sehr eingeschränkten Themen vorsieht (Wikipedia zu Volksentscheid). Aber: Grüne, FDP, Linke, SPD und CSU haben seit 2002 Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes in den Bundestag eingebracht (Zu den Details siehe auch Wikipedia). Die Einführung von Volksentscheiden liegt also im Bereich des Denkbaren.

U schreibt:

Und dann sind wir alle gute Menschen, und es kommt zu einem kollektiven moral change hin zu einem Kleinstfußabdruck-Lebensstil ganz ohne Bali-Flüge? Get a life.

Nein, sind wir nicht. Das ist genau der Punkt. Man darf die individuelle Ebene nicht mit der politischen verwechseln. Wir einigen uns gemeinsam, wie weit wir gehen wollen, was angesichts der sich verstärkenden Katastrophe nötig und möglich ist. Zum Beispiel wäre ein Tempolimit ein garantiertes Ergebnis eines Klimabürgerrates. Eine Mehrheit der Deutschen ist ohnehin dafür und der Rest muss sich dann eben der Mehrheit fügen. Flüge könnten teurer werden. Man könnte Flugreisenkontingente einführen oder stark wachsende Preise in Abhängigkeit der geflogenen Meilen pro Person. Das sind Ideen und die repräsentativ zusammengesetzten Bürgerräte können das ausdiskutieren und einen Kompromiss finden, der für die Gesellschaft tragbar ist.

2) Peter Unfried wiederholt eine Lüge, die die Bild-Zeitung in die Welt gesetzt hat, und die in der Zeitung, in der er Chefreporter ist, auf einer drittel Seite richtiggestellt wurde (taz, 02.02.2023). Die Aktivist*innen der Letzten Generation, auf die er anspielt, waren noch nie in ihrem Leben in Bali. Sie waren bzw. sind (für mehrere Monate) in Thailand.

Unfried schreibt:

Protest ist ein System und hat eine Funktion. Aber wenn die sozialökologische Transformation nach den verlorenen CDU-SPD-Jahrzehnten jetzt an Dynamik gewinnen soll (und das soll sie!), muss die Gesellschaft wissen, an welchem Punkt wir jetzt sind. Und da finde ich die These des sozialökologischen Politikers Boris Palmer (siehe Interview Seite 34) diskussionswürdig, dass wir über die Phase hinaus seien, in der es noch darum ging, politische Mehrheiten zu gewinnen und die Leute mit apokalyptischen Endzeitdrohungen zu bearbeiten. Das heißt: Wir wissen mehrheitlich, dass wir transformieren müssen, sehen die vielen Vorteile und wollen das jetzt auch tatsächlich machen.

Ach so. Werbung für das selbst geführte Interview. Na gut. Dazu später. Aber hallo? Man braucht keine Mehrheiten, man muss transformieren? Ja, wie denn? Mit der Ampel? Die Autobahnen ausbauen will? Also nicht die ganze Ampel aber die FDP. Mir fallen diverse Maßnahmen ein: Tempolimit, Abbau von Subventionen für fossile Energien: Pendlerpauschale, Dienstwagenprivileg, Kerosinsteuer. Das wären erst mal die Anreize, die in die falsche Richtung gehen und abgebaut werden müssen. Dazu kämen dann Anreize in die richtige Richtung. Wo ist das alles? Wer blockiert das? Und sollte man dagegen nicht protestieren? Oder soll man lieber doch noch drei Jahre warten und dann neu wählen? Anders? Wie denn bitte? Ich habe die FDP schließlich nicht gewählt.

Leider gehen damit die Herausforderungen erst los. Doch es sind eben andere als die, die wir bisher bearbeiteten. Und sie sind womöglich noch größer. Es braucht eine gesetzliche, digitale, unternehmerische und handwerkliche Infrastruktur des Machens. Beispiel: Wenn die entsprechende Gesetzesvorlage des grünen Wirtschafts- und Klimaministeriums durch den Bundestag ist, müssen Windräder in sehr großer Zahl produziert sein, am besten von weltmarktorientierten deutschen Firmen, und dann unverzüglich von Behörden genehmigt, von Fachkräften hingestellt und in Betrieb gebracht werden. Dito Solaranlagen, dito Wärmepumpen. Dito Ladeinfrastruktur für unsere Elektroautos. Und so weiter.

Ja, super. Energie ist ein Baustein, aber das ist nicht alles. Wir leben in zu großen Wohnungen, haben ein falsches Verkehrssystem („unsere Elektroautos“ Lieber Herr Unfried: Schon die Herstellung Ihres neuen Elektroautos verbraucht Ihr Restbudget an CO2. Siehe Car is over und Sachverständigenrat für Umweltfragen, 2022), essen zu viel Fleisch, ruinieren die Böden durch falsche Landwirtschaft. Usw. usf. Das sind alles Punkte, für die wir politische Lösungen brauchen. Diese können wir nur als Gesellschaft gemeinsam finden. Und zwar nicht durch Gleichschaltung der Interessen sondern durch Ausgleich.

Protestieren, so verständlich das in emotionaler Not sein mag, ist nicht die zentrale Aufgabe der nächsten Zeit. Es geht jetzt um eine Infrastruktur des Machens. Wir brauchen Firmen, wir brauchen Produkte, wir brauchen Installateure, wir brauchen eine funktionierende Bürokratie.

OK. Das ist neu. Statt: „Ej, hört doch mal auf die kleinen Leute auf dem Weg zur Arbeit zu ärgern! Geht lieber zu den Politikern!“, kommt jetzt, zu einer Aktion vor dem Bundeskanzleramt: „Ej, hört doch mal ganz auf zu protestieren!“ Dazu noch eine Abwertung mit „emotionaler Not“. „Ej, kriegt mal Eure Gefühle in den Griff!“

Was wir gar nicht brauchen, ist eine anachronistische Widerstandshaltung, die das Missverständnis pflegt, die postfossile Bewegung sei in der Minderheit. Ja, die FDP bremst, und andere blockieren noch. Aber wir sind die Mehrheit.

Oh, das ist ja schön. Dann ist ja alles gut. Leider kontrafaktisch. Die CDU hat gerade in Berlin einen überragenden Wahlsieg eingefahren. Und zwar mit einem Wahlkampf, in dem mit der Klimaautobahn A100 geworben wurde und die armen Autofahrer*innen als potentielle Wähler*innen direkt angesprochen wurden. Und selbst wenn alles klar wäre und wir die Mehrheit wären: Die Regierung handelt nicht. Jedenfalls nicht angemessen. Die Vorgaben aus dem Klimagesetz wurden von zwei Sektoren gerissen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Sofortprogramme wurden im Verkehrssektor nicht geliefert. Der von der Regierung bestellte Expertenrat für Klimafragen hat die Prüfung des „Sofortprogramms“ aus dem Hause Wissing abgebrochen, weil es ein Witz ist (taz, 02.01.2023, Expertenrat Klimafragen, 2022: 81–82). Was nützte es, wenn wir die Mehrheit wären?

Und noch ein letzter Punkt: Wenn Politiker*innen oder Journalist*innen die Proteste der Letzten Generation vor den Kipppunkten kleinreden wollen, sprechen sie von „jungen Leuten“ oder gleich wie Peter Unfried von „Letzte Generation Hänschen klein“. Zum einen: Die Letzte Generation besteht aus Aktivist*innen aller Altersklassen (65 Portraits mit Name, Alter, Beruf). Zum zweiten, und das wird von den Kritiker*innen gern weggelassen: Es gibt seit April 2022, der Veröffentlichung des Sechsten Sachstandsberichts des IPCC, auch in Deutschland Scientist Rebellion.

Wissenschaftler von Scientist Rebellion blockieren die Kronprinzenbrücke in Berlin, um auf die dramatischen Folgen der Kliamkatastrophe laut IPCC-Bericht hinzuweisen. Unter Fahrradverkehrsschild mit Pyro Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim, Geologe aus Bonn, Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Scientist Rebellion ist eine internationale Gruppe von Wissenschaftler*innen, die explizit die Letzte Generation unterstützen und mit denselben Aktionsformen und zum Teil auch in Koalition mit der Letzten Generation agieren.

Aktivistinnen der Letzten Generation blockieren gemeinsam mit Scientist Rebellion den World Health Summit 2022 in Berlin. 16.10.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Vor knapp zwei Wochen gab es auch eine Solidarisierung von Wissenschaftler*innen, die überwiegend nichts mit Scientist Rebellion zu tun haben.

Lutz van der Horst von der Heute-Show blockiert mit der Letzten Generation die Unter den Linden. Rechts Lina Johnson und Carla Rochel. Im Hintergrund unterstützende Wissenschaftler. Prof. Dr. Barbara Schramkowski hält eine Rede. Berlin, 17.02.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Warum machen das Wissenschaftler*innen wohl? Meine Vermutung ist, dass sie der Meinung sind, dass die Bedrohung durch die Klimakatastrophe, in der wir uns bereits befinden, immer noch nicht verstanden worden ist. Ja, auch von Peter Unfired nicht! Über diese Solidarisierung wurde übrigens in der taz nicht berichtet. Vielleicht ja dann beim nächsten Mal.

Zwischenfazit: Dieser Kommentar von Peter Unfried ist ein Skandal in einer Zeitung wie der taz.

Interview von Peter Unfried mit Boris Palmer

So, jetzt Palmer. Das Interview führte Peter Unfried.

wochentaz: Lieber Herr Palmer, sollte man Politiker fragen, welche Elemente einer ökologischen Kultur sie in ihren Lebensstil integriert haben?

Boris Palmer: Kann man schon fragen. Das bringt nur keine großen Erkenntnisse. Die Aufgabe eines Politikers ist es, von sich selber zu abstrahieren und eine Position zu finden, die für das Gemeinwohl gut ist.

Genau richtig!

taz: Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ihr Ministerpräsident Kretschmann, hatte in der Energiespardiskussion erwähnt, dass er auch mal zum Waschlappen greife statt zur Dusche, worauf große gespielte Empörung ausbrach.

Palmer: Die Waschlappen-Ebene, also die mediale Stilisierung von Öko-Tugenden, kann man generell vergessen. Die Leute ändern sich jetzt erst mal nicht oder nur ganz wenig.

Nun ja, nun ja. Wichtig ist die politische Ebene, aber die kann nur das machen, wozu die Menschen (mehrheitlich und mit entsprechenden politischen Mehrheiten) bereit sind. Es ist nicht wahr, dass es keine Änderungen gibt: Der Konsum an Schweinefleisch ist in den letzten Jahren gesunken (taz, 19.02.2023). Aber insgesamt ist das natürlich zu wenig und die Probleme müssen auf der politischen Ebene gelöst werden.

taz: Der Vizekanzler sagt immer, es sei bewundernswert, wie viel Gas in der Krise eingespart wurde.

Ja, weil BASF die Produktion nach China verlagert hat. Aber die Leute duschen nicht kürzer und sie machen auch die Wohnungen nicht kälter.

Diese Aussage ist falsch. Unser Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck aus der Partei, in der Palmer mal Mitglied war, hat am 27.01.2023 in einem Interview mit Peter Unfried gesagt, dass wir im vierten Quartal 2022 22% eingespart haben. Beide Aussagen können nur dann gemeinsam wahr sein, wenn BASF wirklich die Produktion verlagert hätte und vorher 22% des gesamtdeutschen Energieverbrauchs benötigt hätte. Die Pläne in Bezug auf die Abwanderung nach China betreffen aber das Jahr 2024 (tagesschau, 24.02.2023).

Demonstranten protestieren gegen den Krieg in der Ukraine mit einem Schild „Lieber kalte Heizung als heißer Krieg“. Brandenburger Tor, Berlin, 27.02.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Die Chemie-Industrie ist im vergangenen Jahr „nur“ 1% gewachsen. Die Einsparungen sind wohl doch auf andere Bereiche zurückzuführen. Zum Beispiel wurden öffentliche Gebäude weniger geheizt. Bei Universitäten ging der Energieverbrauch bis zu 25% zurück. Bei der FU Berlin waren es 20% (Energiemonitor). Das Hauptgebäude der HU hängt an einem Gaskraftwerk. Die Angestellten haben nach eindringlichen Aufrufen die Heizung runtergedreht und auch ausgelassen, wenn keine Heizung benötigt wurde. Die Einsparungen wurden also durch ein Zusammenwirken der politischen und der individuellen Ebene erreicht. Ich kenne auch viele Menschen, die in ihren Wohnungen Temperaturen reduziert bzw. nicht geheizt haben. Viele einfach auch, weil sie arm sind.

taz: Jetzt haben wir Leute auf den Straßen, die Klimapolitik verlangen und Gesetzesbrüche mit einem höheren Ziel begründen. Hilft das?

Ich glaube, es hält mehr auf als sonst was.

taz: Begründung?

Ich habe noch niemanden getroffen, der sagt: Wegen der Klebe-Protestierer machen wir jetzt ein konkretes Klima-Projekt, damit es schneller vorangeht. Ich treffe aber viele Leute, die sagen: Das regt mich auf. Der Irrtum dieser Art Protest ist, dass er sich auf Waschlappen-Ebene bewegt und immer noch glaubt, den Leuten erklären zu müssen, wie wichtig Klimaschutz ist.

Das ist falsch. Der Protest richtet sich gegen das Nichthandeln der Regierung:

Caris und Solvig, zwei Mütter vom Aufstand der Letzten Generation, haben sich im Naturkundemuseum festgeklebt. Caris hat einen Sohn und Solvig vier Kinder. Berlin, 30.10.22

taz: Muss man nicht? [erklären, wie wichtig Klimaschutz ist]

Nein. Anders als vor zehn Jahren haben eigentlich alle wesentlichen Akteure begriffen, wie wichtig das ist. Das Problem ist nicht mehr der politische Wille.

Oh. Da bin ich froh. Aber nur mal kurz: Wieso gibt es dann noch kein Tempolimit, obwohl das massiv CO2 einsparen würde und nichts kosten würde?

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation bringen Tempo-100-Schilder zum Verkehrsministerium und lassen einige durch die Luft segeln. v.l.n.r Miriam Meyer, Edmund Schultz, Mirjam Herrmann, Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Wieso kriegt die Regierung nicht mal das hin? Ach so, ja die FDP. Aber es gibt noch einen Bundeskanzler, der in der SPD ist, und einen Klimaminister, der bei den Grünen ist. Die gesamte Regierung ist für ihr Handeln bzw. Nicht-Handeln verantwortlich.

taz: Sondern? [was ist das Problem?]

Wenn Habecks Kabinettsvorlage demnächst durch den Bundestag geht, ist die jahrhundertelange Vogelprüfung beendet, dann kann man Windräder gesetzlich einfach hinstellen. Das stimmt mich zuversichtlich. Das Problem ist aber, dass du sie nicht bestellen kannst, weil sie nicht lieferbar sind. Du kannst keine Trafos bestellen, weil sie nicht lieferbar sind. Du kannst keine Solar-Monteure bestellen, weil die alle ausgebucht sind. Und die Wärmepumpe kriegst du auch nicht geliefert.

taz: Das klingt etwas zugespitzt.

Ist es auch. Nach ein, zwei Jahren kommt das Zeug schon, aber mein Punkt ist: Es ist eben nicht mehr der fehlende politische Wille, es ist die fehlende Fähigkeit von Bürokratie und Wirtschaft, es auch zu tun. Wir stehen uns selber im Weg wegen gnadenloser Überregulierung und Mangel an Fachkräften. Wir haben also ein ganz anderes Problem, als die Protestierenden adressieren.

Oh. Palmer ist also einer der Technology will fix it guys. Wenn wir nur genug Wind- oder Solarenergie haben, wird alles gut. Die Energiewende ist ein wesentlicher Bestandteil der Lösung (bzw. Abmilderung) unseres Klimaproblems, aber es ist nicht alles. Und wo ist der Wille zum Umbau unserer Landwirtschaft? Wo ist der Wille zum Umbau unsere Gesellschaften, so dass nicht mehr das obere 1% rumsaut, wie es will? Verbot/Einschränkung von Privatflügen? Ernährungswende, Verkehrswende?

taz: Was machen wir da als gesellschaftsengagierte Bürger?

Wenn man das voranbringen will, muss man jetzt in andere Positionen rein, als wir das gewöhnt sind. Wenn du etwas Gutes tun willst, gründe eine Firma, die Solaranlagen installiert und überzeuge viele deiner Kumpels, dass sie sich schnell zum Solarmonteur ausbilden lassen, damit die Dinger auf die Dächer kommen

taz: Dieser Gedanke zukunftsorientierten Unternehmertums ist rhetorisch von FDP-Politikern besetzt, die damit Klima-Protest-Leute ausschimpfen.

Ja, das tut mir jetzt leid, dass die FDP auch mal was Richtiges sagt, aber wir brauchen einen Gründungsboom von Firmen, wir brauchen Leute, die in diese Branchen reingehen, um es zu machen. Was wir nicht brauchen, sind noch mehr Leute, die sich festkleben und diskutieren. Da haben wir genug.

Na, zum Glück sagt es Peter Unfried selbst, dass das FDP-Denke ist. Boris Palmer hat übrigens Angebote von der BaWü-FDP, dort einzutreten. Diese Argumentation ist unterstes Twitter-Troll-Niveau. 1) Kann nicht jede/jeder in diesen Berufen arbeiten. 2) Verlagert das wieder alles auf die individuelle Ebene, die Waschlappenebene: Wenn Du Klimaschutz willst, werde Elektromonteur oder gründe kleine geile Firmen.

Funny van Dannen, 2004: Baut kleine geile Firmen auf!

Und lustigerweise, wenn wir schon auf dieser, der individuellen Ebene sind, kann ich hier gleich noch ein Bild beisteuern. Das Bild zeigt Christoph Meiler, er ist Zerspanungsmechaniker und war bei einem deutschen Automobilzulieferer tätig, bis die ihr Werk ins Ausland verlagert haben. Er macht jetzt eine Umschulung zum Elektriker, so dass er dann im Solarbereich arbeiten kann.

Christoph Meiler, Zerspanungsmechaniker, vom Aufstand der Letzten Generation bei der Blockade der A100, Berlin, 29.06.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich hatte lange Zeit, mich mit ihm zu unterhalten, denn bis der Kran da war und alle gelöst waren, hat es eine Weile gedauert.

Aktivistinnen vom Aufstand der Letzten Generation sind auf Verkehrsleitanlagen geklettert und werden vom Kletterteam der Polizei per Kran heruntergeholt, Berlin, 29.06.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Christoph Meiler macht also auf der individuellen Ebene genau das, was Twitter-Trolls und Boris Palmer von allen Klimaaktivist*innen verlangen. Außerdem protestiert er noch gegen das ungesetzliche Nicht-Handeln der Regierung.

Diese konkrete Aktion hat sich übrigens gegen Pläne von Regierungsparteien gerichtet, in der Nordsee nach Öl zu bohren. Ej, es ist alles in Ordnung! Niemand muss protestieren, gründet lieber kleine, geile Firmen! My ass.

So. Danke, dass Ihr bis hierher gelesen habt! Wer immer Ihr seid, was immer Ihr tut, hört nicht auf zu protestieren. Kommt zum Klimastreik von Fridays for Future am 3.3.2023! Stimmt für den Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030!

Geht los und verteidigt Euch! Geht los! (AG Geige, Der Dirigent, 1988, gibts nicht bei Youtube, aber bei Tapeattack)

Quellen

Balmer, Rudolf. 2020. Geplante SUV-Steuer in Frankreich: Dicke Daimler unverkäuflich. taz. Berlin. (https://taz.de/Geplante-SUV-Steuer-in-Frankreich/!5723394)

Bethke, Shoko. 2022. Verfassungsschutzchef zu Letzte Generation: „Klima-RAF“ ist „Nonsens“. taz. Berlin. (https://taz.de/Verfassungsschutzchef-zu-Letzte-Generation/!5895968/)

Betsch, Cornelia & Sprengholz, Philipp & Lehre, Lena. 2021. PHA2SE: Planetary Health Action Acceptance Study Erfurt: Das Klimaschutz-Monitoring für Deutschland. Erfurt: Universität Erfurt. (https://projekte.uni-erfurt.de/pha2se/summary/analysis/)

ERK. 2022. Prüfbericht zu den Sofortprogrammen 2022 für den Gebäude- und Verkehrssektor Prüfung der den Maßnahmen zugrundeliegenden Annahmen gemäß § 12 Abs. 2 Bundes-Klimaschutzgesetz. Berlin: Expertenrat für Klimafragen (ERK). (https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2022/08/ERK2022_Pruefbericht-Sofortprogramme-Gebaeude-Verkehr.pdf)

Heynen, Malte. 2021. Akzeptanz von Klimapolitik: Im Interesse der Lobbyisten. taz. Berlin. (https://taz.de/Akzeptanz-von-Klimapolitik/!5805803/)

Krüger, Anja & Schulze, Tobias & Unfried, Peter. 2023. Robert Habeck über Klimapolitik und Krieg: „Lassen wir das Rumnölen!“. taz 27.01.2023. Berlin. (https://taz.de/Robert-Habeck-ueber-Klimapolitik-und-Krieg/!5908990)

Monbiot, George. 2022. The Tipping Point that will DESTROY the World. 2022. Double Down News. (https://www.youtube.com/watch?v=lIEu-OW9_YA)

Pfister, Sandra. 2022. Blockierte Weizenausfuhr aus der Ukraine: Was hilft gegen die drohende Ernährungskrise? Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-weizen-getreide-export-blockade-welternaehrung-100.html)

Rath, Christian. 2023. Juristische Lage beim Klimaschutz: Ist die Klimapolitik rechtswidrig? taz. 02.01.2023, Berlin. (https://taz.de/Juristische-Lage-beim-Klimaschutz/!5898660/)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)

Wolff, Reinhard. 2021. Dänische Probe aufs Exempel: Der Klimabürgerrat hat geliefert. taz. Berlin. (https://taz.de/Daenische-Probe-aufs-Exempel/!5765146)

Zauner, David. 2023. Sozialpsychologe über Klimaschutz: „Wir brauchen kollektive Lösungen“. taz. Berlin. 19.02.2023 (https://taz.de/Sozialpsychologe-ueber-Klimaschutz/!5914518/)

BILD lügt

Es wird ja immer behauptet, dass die Aktionsformen der Letzten Generation von den inhaltlichen Fragen ablenken. Interessanterweise gibt es jetzt sogar schon in der BILD-Zeitung in Artikeln über Klimakleber Karten zu den Folgen des Klimawandels (BILD, 29.11.2022):

Irreführende Karte in der BILD Berlin mit angeblichen ökologischen Bedrohungen vom Institute for Economics & Peace (IEP).

Komplett ohne Einordnung. Ich Frage mich auch was sie uns damit sagen wollen. Wir, die Mega-Verschmutzer (USA, Australien, Europa), sind safe? Alles gut?
Ich habe mal ein bisschen recherchiert, wo die Karte her ist. Ich dachte erst so was wie EIKE, aber die Karten gibt es in der Tat beim Institute for Economics & Peace,
nur dass sie dort aktuell sind und ganz anders aussehen: vision of humanity. Fast die ganze Welt ist von hohen ökologischen Bedrohungen betroffen.

Interaktive Karte vom Institute for Economics & Peace, bei der man sich verschiedene Arten von Bedrohungen anzeigen lassen kann. Stand 2022

Es gibt verschiedene Indikatoren, die man sich einzeln anzeigen lassen kann. BILD hat sich eventuell den softesten rausgesucht, die Ernährungsunsicherheit. Leider finde ich genau diese Karte nicht, wahrscheinlich weil der Bericht inzwischen aktualisiert wurde.

2022 haben wir gesehen, wie stark Missernten auch in Europa ausfallen können. Die Po-Ebene hatte praktisch kein Wasser mehr. Genauso ist der Osten Deutschlands von Dürren betroffen. Die Versorgungssicherheit ist wahrscheinlich deshalb gewährleistet, weil wir reich genug sind, auf dem Weltmarkt Nahrungsmittel zu kaufen.

Ansonsten steht auf der Seite:

On the other hand, 80% of the countries with the worst ETR scores are also among the world’s least resilient. This indicates that these nations may not be able to mitigate the impacts of their rapidly changing environment. The 30 countries facing the highest level of ecological threat are home to 1.26 billion people.

Highlighting the gravity of the situation, 90% of the 20 least peaceful countries face at least one catastrophic ecological threat, while 80% have low societal resilience. Ten of the twelve countries with the highest ecological threat rating, in all four domains, currently suffer from conflict deaths, while 11 of these countries have moderate to high ratings for the intensity of the internal conflict.

Auf Deutsch: Viele Länder werden sich nicht anpassen können und unter den 20 am wenigsten friedlichen Ländern sind fast alle von mindestens einer ökologischen Bedrohung betroffen.

Zusammengefasst: Die BILD-Grafik hat mit den gesamten ETR-Scores nichts zu tun und ist eine extreme Falschdarstellung. Die Lage ist ernst.

Quellen

Institute for Economics & Peace. 2022. Ecological Threat Report 2022: Analysing Ecological Threats, Resilience & Peace. Sydney: Institute for Economics & Peace. (https://www.visionofhumanity.org/resources/ecological-threat-report-2022/)

Diese ganzen Tonnen, Fußball in Katar und Kompensation

Entwarnung (am Abend des 25.11. eingefügt): Ein Kollege hat mich darauf hingewiesen, dass die taz um Größenordnungen daneben lag. Leider habe ich die Zahl nicht selbst überprüft. Statt 3,6 Gigatonnen werden „nur“ 3,6 Megatonnen ausgestoßen: Hier ist der Originalbericht von South Pole.

Svenja Schulze, damals noch Umweltministerin, hat 2019 auf die Frage nach unserem CO2-Restbudget geantwortet: „Unter diesen ganzen Tonnen und so kann sich doch keiner was vorstellen.“ Ich habe das schon mehrfach in diesem Blog aufgegriffen (Zu unserem CO2-Restbudget: Car is over, Sind Fluggäste Mörder?, Flüge, CO2, Verantwortung und Mitschuld). Das war damals natürlich ein Ausweichmanöver, aber es ist ja in der Tat so, dass diese Zahlen schlecht mit Konkretem verbunden werden können. Man braucht dazu Vergleiche. Zum Beispiel die 1000-Tonnen-Regel (1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff = 1 Mensch, der an den Folgen der Klimakatastrophe vorzeitig sterben wird, Parncutt, 2019).

In der taz stand heute, dass eine Firma im Auftrag der Veranstalter (!) berechnet hat, dass der CO2-Ausstoß für die Fußball-WM in Katar 3,6 Gigatonnen beträgt (taz, 25.11.2022: 3). Die taz berichtet über die NGO Carbon Market Watch, die zu höheren Zahlen kommt, weil zum Beispiel der sehr CO2-intensive Bau der Stadien nur zu einem kleinen Teil berücksichtigt ist.

Aktivistin von Extinction Rebellion vor der Adidas-Filiale in Berlin. XR protestiert gegen das Sponsoring der WM in Katar. Kurfürstendamm, Berlin, 19.11.22 Bild: CC-BY-NC Stefan Müller

3,6 Gigatonnen? Ist das viel? Wenig? Geht so? Spaß muss sein? Wir können es mit den Zahlen vergleichen, die im IPCC-Bericht genannt wurden: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, hat errechnet, dass das CO2-Budget für Deutschland bei 2 Gigatonnen liegt, wenn wir das 1,5°-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% erreichen wollen (SRU, 2022: 7). 67% ist gezockt: Ja, ja, nein. In einem Drittel der Fälle geht es daneben, also 1,6° oder mit entsprechend abnehmender Wahrscheinlichkeit auch mehr bzw. sehr viel mehr.

Das heißt was? Das bedeutet, dass diese eine Fußball-WM das Doppelte des Restbudgets für unser ganzes Land verbraucht. „Is ja nich schlüm, wird ja kompensiert.“ Anhand dieses Ereignisses kann man eigentlich sehr schön sehen, wie absurd Kompensation ist. Wenn Kompensation ein sinnvolles Instrument in der Klimakatastrophe wäre, könnten wir auch sagen: Och, wir machen einfach nichts und kompensieren dann, dass wir zum Fenster raus heizen (= offene Stadien klimatisieren), mal eben die Tochter mit dem Flugzeug über’s Wochenende besuchen (= Shuttleflüge für außerhalb Katars untergebrachte WM-Teilnehmer*innen) usw.

Schlussfolgerung: Solche Ereignisse wie die Fußball-WM in Katar können wir uns als Menschheit nicht mehr leisten. Kompensation ist ein untaugliches Instrument, das nur dem Greenwashing und der Gewissensberuhigung dient.

Quellen

IPCC, 2021. Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. In Beitrag von Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen [Masson-Delmotte, V., P. Zhai, A. Pirani, S.L. Connors, C. Péan, S. Berger, N. Caud, Y. Chen, L. Goldfarb, M.I. Gomis, M. Huang, K. Leitzell, E. Lonnoy, J.B.R. Matthews, T.K. Maycock, T. Waterfield, O. Yelekçi, R. Yu, and B. Zhou (eds.)] (ed.), Naturwissenschaftliche Grundlagen. https://www.de-ipcc.de/media/content/AR6-WGI-SPM_deutsch_barrierefrei.pdf.

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. Frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)

Vuillemin, Clara. 2022. Das Märchen der klima-neutralen WM. taz, 25.11.2022. Berlin. https://www.taz.de/!5893932.

Flüge, CO2, Verantwortung und Mitschuld

Zur Zeit bin ich stellvertretender Institutsleiter. Bisher war die Arbeitsverteilung so, dass ich Dienstreiseanträge, die die Institutsleiterin oder ihre Arbeitsgruppe stellt, unterschrieben habe. Vor Kurzem hat mich die Institutsleiterin gebeten, alle Dienstreiseanträge zu unterschreiben, weil sie mit der Leitung genug zu tun hat und weil die Aufgabenverteilung auch früher schon so war. Nun sehe ich plötzlich alle Reiseanträge, auch die Flugreisen. Ich habe lange über die Situation nachgedacht, konkret über die Genehmigung von Flugreisen seit Juni. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Flugreisen mehr genehmigen werde.

Konkret bedeutet das nur, dass die Institutsleiterin die Flugreisen genehmigen muss. Es ist keine totale Blockade von Flugreisen. Einziges Problem sind die Reisen der Institutsleiterin selber bzw. ihrer Arbeitsgruppe. Diese Reisen kann dann wahrscheinlich jemand, der hierarchisch über uns beiden steht, genehmigen. Also jemand aus dem Dekanat.

Laut Verfassung der Humboldt-Universität kann die Institutsleitung mit einer 2/3-Mehrheit im Institutsrat über alle Statusgruppen hinweg abgewählt werden. Das könnte in einer der nächsten Sitzungen passieren.

Nachtrag 14.06.2022: 1) Der Dekan hat mit mir gesprochen und versteht das. Ich bin nicht zurückgetreten oder abgewählt worden. 2) Die Kommission zu Flugreisen, die wir schon im Juni eingerichtet haben, hat getagt und ich bin optimistisch, dass wir für das Institut eine Lösung finden, die über die uniweiten Regelungen zu Flugreisen hinausgeht.

Details

Wir sind bei einer Erderhitzung von 1,2° gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter. Alle Gebiete auf der Erde sind bereits jetzt von unglaublichen Katastrophen betroffen. 180 Tote im Ahrtal, Schäden in Milliardenhöhe. 1300 Tote in Pakistan, ein Drittel des Landes überflutet, 33 Millionen Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen (Wikipedia: Überschwemmungskatastrophe in Pakistan 2022). In China stehen Menschen nach Starkregen bis zum Hals eingeschlossen in U-Bahnen. Auch in New York flutet der Starkregen die U-Bahnen. Sturmschäden in Florida, Flüsse trocknen aus, Kraftwerke können mangels Kühlwasser nicht mehr betrieben werden, Ernteausfälle. Hungersnöte. In diesem Sommer sind 10.000 Menschen allein in Deutschland den Hitzetod gestorben, wie man anhand von Übersterblichkeitsstatistiken, die mit Hitzetagen korrelieren, nachweisen kann (taz, 22.08.2022). In Europa waren es 24.000 (taz, 07.10.2022) (Zu einer Übersicht über Katastrophen siehe Katastrophen. Im Quellenverzeichnis der Seite findet man Links zu Fernsehberichten.) Das ist das, was wir jetzt haben. Bei 1,2°. Die Wissenschaft geht davon aus, dass das 1,5°-Ziel nicht zu halten ist. Derzeit steuern wir auf 2,7° zu (Klimaforscher Prof. Lucht in der taz, 17.02.2022). Ganze Bereiche der Erde werden unbewohnbar werden, woraus sich Migrationsbewegungen und Ressourcenkriege ergeben werden.

Die Themenklasse Nachhaltigkeit der Humboldt-Universität hat sich mit den Reisen des wissenschaftlichen Personals der HU beschäftigt. Sie haben Vorschläge gemacht, wie mit Flugreisen umgegangen werden sollte. Keine Inlandsflüge, ein Flug pro Jahr pro Person (Appiah-Nuamah et al. 2021). Die Veröffentlichung ist von 2021. Inzwischen ist es 2022 und wir sind einen IPCC-Sachstandsbericht weiter. Was in diesem Bericht steht, ist erschreckend. 2020 blieben nur noch 400 Gt CO2-Ausstoß, wenn man das 1,5°-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% erreichen will. Bei 83% waren es nur noch 300 Gt.

Tabelle mit den verbleibenden CO2-Mengen und den entsprechenden Temperatursteigerungen und Wahrscheinlichkeiten. Quelle: IPCC, 2021. 6. IPCC-Sachstandsbericht. S. 32

Seitdem haben wir aber weitere 70 Gt verbraucht, d.h. es bleiben 230 Gt, wenn wir das 1,5°-Ziel mit 83%iger Wahrscheinlichkeit erreichen wollen (siehe Zu unserem CO2-Restbudget bzw. Sachverständigenrat Umweltfragen, 2022).

Svenja Schulze hat 2019, als sie noch Umweltministerin war, einmal gesagt, als sie auf die Restmenge CO2 angesprochen wurde: „Unter diesen ganzen Tonnen und so kann sich doch keiner was vorstellen.“ (Kontraste, ARD, 30.09.2019). Um zu zeigen, was diese ganzen Tonnen bedeuten, kann man die Restmenge unter allen Menschen aufteilen. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, ein Gremium aus Professor*innen, das die Bundesregierung berät, hat das gemacht und kommt auf 24t pro Person bei einer Wahrscheinlichkeit für 1,5° von nur 67%. (Es gibt mehrere Berechnungsmöglichkeiten. Das ist hier schon eine der günstigeren. Historisch gesehen, haben wir schon alles verbraucht. Zu den Details siehe Zu unserem CO2-Restbudget bzw. Sachverständigenrat Umweltfragen, 2022). Da wir als Deutsche einen durchschnittlichen Ausstoß von 11t pro Jahr haben, heißt das, dass in weniger als drei Jahren unser Restbudget aufgebraucht sein wird.

Vor diesem Hintergrund muss man nun das Fliegen betrachten. Unser CO2-Restbudget ist praktisch aufgebraucht und für Interkontinentalflüge ist kein Budget mehr vorhanden. Zur Kompensation habe ich in Dienstliche Flüge und CO2-Kompensation u.a. Folgendes geschrieben: Wir stehen kurz vor dem Erreichen von Kipppunkten, so dass es nicht angeht, das CO2 auszustoßen mit dem Versprechen, es in ein paar Jahren durch Projekte wieder einzusparen (atmosfair verspricht Projektumsetzung innerhalb von zwei Jahren). Wir müssen als Gesellschaften jetzt radikal umsteuern und dazu gehört eben auch, nicht mehr oder sehr viel weniger zu fliegen.

Parncutt (2019) hat in seinem Aufsatz in frontiers in Psychology die 1000-Tonnen-Regel aufgestellt, nach der 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff einen Klimatoten bedeuten. Das heißt, dass wegen einem Flug von Berlin nach Sydney 0,61 Menschen sterben. Bei zwei solchen Reisen (oder mehreren kleineren Reisen) sind die 329 Passagiere also gemeinschaftlich für den Tod eines Menschen verantwortlich.

Vor drei Jahren haben Monika Schäfer, Gisbert Fanselow und ich eine Selbstverpflichtungskampagne für den Verzicht auf Kurzstreckenflüge gestartet und an der HU haben sich 21,4% der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen verpflichtet, Strecken, die unter 12h mit der Bahn zu bewältigen sind, nicht mehr zu fliegen. Seit dem hat sich einiges getan. Die HU hat zwei Klimamanager*innen, es gibt eine Klimasteuerungsgruppe, es gibt die Empfehlungen der Nachhaltigkeitsklasse, aber es gibt leider immer noch keine Änderung der Reisebestimmungen der HU. Diese sind nach dem Bundesreisekostengesetz gestaltet, so dass sich an dieser Stelle wahrscheinlich erst etwas ändern wird, wenn das Bundesreisekostengesetz angepasst wird.

Moral und Weigerung

Nachdem ich meinen Kolleg*innen mitgeteilt habe, dass ich keine Flüge mehr genehmigen werde, bekam ich von einer eine Antwort, in der stand, dass das gar nicht ginge, denn rechtlich könne ich nur solche Reisen nicht genehmigen, die gegen dienstliche Interessen verstoßen würden.

Der Punkt hier ist kein rechtlicher, es ist ein moralischer. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass durch mein Handeln Menschen zu Tode kommen. Mein letzter privater Flug war 2008. Mein letzter Interkontinentalflug war 2016 nach Seoul, mein letzter innereuropäischer Flug 2017. In Seoul war ich eingeladener Sprecher auf einer Computerlinguistikkonferenz und habe zwei Vorlesungen gehalten. Es war eine schöne Reise und wichtig für den Lebenslauf. 2017 bin ich nach Oslo geflogen, um dort zwei Tage lang Anträge für Forschungesgelder zu besprechen und zu bewilligen. Eine verantwortungsvolle Tätigkeit und ebenfalls wichtig für den Lebenslauf. (Und die Lebensläufe vieler Sprachwissenschaftler*innen in Norwegen.) Im August 2019 habe ich nun beschlossen, überhaupt nicht mehr zu fliegen. Weder privat noch dienstlich (siehe Ich fliege nicht mehr). Die Abwägung der Vorteile (für mich) und Nachteile (für andere) hat ergeben, dass Flüge nicht zu rechtfertigen sind. Ein Vortrag über eine tolle Theorie vs. eine hungernde Familie, ein weggerissenes Haus, ein Mensch, der bis zum Hals im Wasser in einer gefluteten U-Bahn steht?

Durch die neue Konstellation im Institut bin ich jetzt in die Lage gekommen, dass ich, obwohl ich nicht selbst fliege, dafür verantwortlich bin, dass andere fliegen. Diese Verantwortung lehne ich ab. Ich bin nicht bereit, sie zu übernehmen. Wenn ich damit gegen Gesetze verstoße, dann ist das so. Ich kann nicht anders handeln.

Einige Beispiele dazu, die in ihrer Dimension und teilweise den Auswirkungen für die Betroffenen verschieden sind, aber verdeutlichen, wie Menschen in großen Apparaten handeln oder nicht handeln oder entgegen allgemeinen Erwartungen handeln.

Menschen, die nicht tun, was sie sollen / die tun, was sie nicht sollen

  • Todd Smith ist Pilot, d.h. er war Pilot. In Großbritannien. Dort muss man die Piloten-Ausbildung selbst bezahlen und er hat sein gesamtes Gehalt, das er in fünf Jahren verdient hat, und das Geld, das seine Großmutter durch den Verkauf ihres Hauses bekommen hat, in die Ausbildung zum kommerziellen Piloten gesteckt. Die Großmutter ist bei ihnen eingezogen. Wegen einer Magenentzündung konnte er nicht fliegen und sein Arzt hat ihn dazu überredet, auf Fleisch zu verzichten. Er hat sich dann mit Veganismus beschäftigt und von da war es nicht weit zu den Klimafakten. Das Ergebnis war, dass er seinen Beruf an den Nagel gehängt hat und Klimaaktivist geworden ist. Hier, in einem Bericht der Deutschen Welle, kann man die Details nachlesen.

He still loves flying and misses being up in the skies. But he won’t return until the industry takes its obligations seriously. In the meantime, he plans to continue honoring his own.

„As pilots, we’re trained to think, free from bias, to mitigate risks, to preserve life. I’m simply following my training and trying all that I can to get the industry to mitigate its risks. After all, safety is our No. 1 priority.“ 

Deutche Welle. 2022: Meet the pilot who stopped flying because of climate change
  • In Frankreich gab es Polizisten, die Jüd*innen vor Razzien der Deutschen gewarnt haben, obwohl sie den Befehl der Regierung hatten, den Deutschen zuzuarbeiten und die Deportationen in Konzentrationslager zur Ermordung zu unterstützen. Sie haben unter Einsatz ihres eigenen Lebens viele Menschen vor den Gaskammern gerettet. Dennoch tat sich die Polizei lange schwer damit, Polizisten zu ehren, die eigenmächtig gehandelt und gegen Befehle verstoßen haben. Heute dienen sie als Beispiele für die Gewissensbildung der Polizei (taz, 18.07.2022).
  • Ich bin Pazifist. Ich war bei der Armee, weil im Osten Verweigerung Gefängnis und den Ausschluss vom Studium bedeutet hätte, aber ich hätte niemanden erschossen. Nur mich selbst. In meiner Anverwandtschaft gab es einen Mann, der im zweiten Weltkrieg in Norwegen war. Er sollte norwegische Partisan*innen erschießen und hat sich geweigert. Daraufhin wurde er selbst erschossen. Seine Familie hat in der Nachkriegszeit in Westdeutschland nie darüber gesprochen, weil sie es für eine Schande hielten, dass ihr Sohn, Bruder, Onkel den Befehl verweigert hat. Ich denke, die meisten Menschen sehen das heute anders.

Schlussfolgerung

Alle, die die Klimakatastrophe in ihrem gesamten Ausmaß verstehen (George Monbiot (2022) spricht von weniger als 1% der Weltbevölkerung), werden verstehen, dass ganz anders gehandelt werden muss. Aus diversen Gründen handelt die Menschheit aber nicht adäquat. Wie Parncutt bereits 2019 schrieb, sollte nur noch in Notfällen geflogen werden (S. 12). Ich habe mich deshalb entschlossen, keine Flüge zu genehmigen. Wenn das Institut einfach weiter machen möchte, wie bisher, muss es mich abwählen oder die Anträge anderweitig genehmigen lassen.

Quellen

Appiah-Nuamah, Maame & Berner, Richard & Gipp, Antonia & Hohmann, Theresa & Nöfer, Johannes & Pätzke, Franka & Prawitz, Hannah et al. 2021. Wissenschaftliches Reisen: THESys Humboldt-Stipendium Themenklasse Nachhaltigkeit und Globale Gerechtigkeit 2020/2021. Humboldt-Universität zu Berlin. (doi: 10.18452/23298)

Asmuth, Gereon. 2022. Hitzetote in Deutschland: Hitzewelle mit dunklem Schatten. taz 22.08.2022. Berlin. (https://taz.de/Hitzetote-in-Deutschland/!5873299)

Holdinghausen, Heike. 2022. Studie zum Klimawandel: 1,2 Grad reichen für mehr Dürren. taz 07.10.2022. Berlin. (https://taz.de/Studie-zum-Klimawandel/!5886465/)

IPCC, 2021. Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. In Beitrag von Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen [Masson-Delmotte, V., P. Zhai, A. Pirani, S.L. Connors, C. Péan, S. Berger, N. Caud, Y. Chen, L. Goldfarb, M.I. Gomis, M. Huang, K. Leitzell, E. Lonnoy, J.B.R. Matthews, T.K. Maycock, T. Waterfield, O. Yelekçi, R. Yu, and B. Zhou (eds.)] (ed.), Naturwissenschaftliche Grundlagen. https://www.de-ipcc.de/media/content/AR6-WGI-SPM_deutsch_barrierefrei.pdf.

Monbiot, George. 2022. The Tipping Point that will DESTROY the World. 2022. Double Down News. (https://www.youtube.com/watch?v=lIEu-OW9_YA)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)

Schwarz, Susanne. 2022. Proteste der „Letzten Generation“: Zeit für Notwehr? taz, 17.02.2022. Berlin. (https://taz.de/Proteste-der-Letzten-Generation/!5831060/)

Speit, Andreas. 2022. Prozess gegen frühere KZ-Sekretärin: Menschen und Brennholz, geschichtet. taz. Berlin. (https://taz.de/Prozess-gegen-fruehere-KZ-Sekretaerin/!5861240)

Walker, Tamsin. 2022. Meet the pilot who stopped flying because of climate change. Deutsche Welle. Bonn. (https://www.dw.com/en/todd-smith-emissions-aviation-pilot-safe-landing-extinction-rebellion-climate-activist/a-61953106)

Weymann, Christoph. 2022. Judenverfolgung in der Nazi-Zeit: Widerstand in Uniform. taz, 18.07.2022. Berlin. (https://taz.de/Judenverfolgung-in-der-Nazi-Zeit/!5865427/)

Dienstliche Flüge und CO2-Kompensation

2019 habe ich aufgehört zu fliegen (Ich fliege nicht mehr). Ich bin zur Zeit stellvertretender Institutsleiter und damit dafür mitverantwortlich, wenn andere fliegen. Ich muss ihre Dienstreiseanträge genehmigen. Universitäten müssen beim CO2-Ausstoß, so wie die restliche Gesellschaft auch, zur CO2-Neutralität kommen. Seit Kurzem denke ich wieder verschärft über das Fliegen und Kompensationen nach. Hier versuche ich, meine Gedanken zu systematisieren und entsprechende Schlussfolgerungen abzuleiten.

Ausgangslage

Die Ausgangslage sieht so aus, dass wir in einer Welt leben, die sich gegenüber der vorindustriellen Zeit bereits um 1,2° erwärmt hat. Wir sind mitten in der Klimakatastrophe. In Deutschland sind in diesem Sommer 10.000 Menschen den Hitzetod gestorben, wie man mittels Übersterblichkeitsuntersuchungen feststellen kann (taz, 22.08.2022). In Pakistan sind 1400 Menschen gestorben und ein drittel des Landes wurde überflutet (Wikipedia). Menschen sind obdachlos. Eine beispiellose Katastrophe. Gewaltige Stürme verwüsten Florida, die Wälder haben in ganz Europa gebrannt. Flüsse wie der Rhein und der Po trocknen aus. Missernten.

Ausgetrocknete Ilm in Kranichfeld, 22.07.2022, Bild: Stefan Müller

Das ist erst der Anfang.

Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass das 1,5°-Ziel nicht mehr zu erreichen ist. Selbst mit den aktuellen Verpflichtungen nicht und viel schlimmer noch: Selbst diese Verpflichtungen werden nicht eingehalten und insgesamt steuert die Welt auf eine Erwärmung von 2,7° zu (Prof. Wolfgang Lucht, zitiert nach taz, 17.02.2022).

Klimaaktivist*innen fordern deshalb die Ausrufung des Klimanotstandes und ein entsprechend rasches Handeln, was die Umsetzung von Maßnahmen angeht. Ulrike Herrmann bezieht sich immer wieder auf die Kriegswirtschaft, die in Großbritannien in der Zeit des zweiten Weltkriegs eingeführt wurde, um das britische Militär für den Krieg gegen Nazideutschland hochzurüsten (taz, 17.09.2022).

Das Fliegen gehört zu den energieintensivsten Fortbewegungsarten. Parncutt (2019) hat errechnet, dass die Verbrennung von 1000 Tonnen Kohlenstoff zu einem Klimatoten führt. 1000 Tonnen Kohlenstoff, entsprechen 3.700 Tonnen CO2. Man kann dann ausrechnen, den Tod von wie vielen Menschen ein Flug verursacht. Parncutt kommt zu dem Schluss, dass nur in Notlagen geflogen werden sollte.

Therefore, flying should be made more expensive (e.g. by carbon taxes) and reserved for emergencies and life-saving projects.

Parncutt. 2019: 12

Siehe dazu auch Zu unserem CO2-Restbudget: Car is over.

Ergebnisse der Themenklasse

Im Institut haben wir eine Gruppe gegründet, die sich damit beschäftigen soll, wie wir die dienstlichen Flüge organisieren. Über die Gründe, warum es diese Gruppe gibt, schreibe ich vielleicht noch einmal extra. Der Punkt ist, dass wir eigentlich nicht mehr fliegen dürfen, dass aber seit drei Jahren in der Uni nicht viel zum Thema passiert ist. Es gibt jedenfalls keine strengeren Regeln. Eine wichtige Sache ist allerdings doch passiert: Die Themenklasse Nachhaltigkeit & Globale Gerechtigkeit 2020/2021 hat eine großartige Arbeit geleistet und die Empirie der Flugreisen an der Humboldt Universität aufgearbeitet (Appiah-Nuamah et al. 2021). Es gibt jetzt einen Überblick, welche Fakultäten wie viele Flugreisen unternehmen, warum geflogen wird usw. Interviews zur Lösung des Problems und Überlegungen zur CO2-Kompensation.

Verweilzeit

Ein wichtiger Punkt bei der Bewertung von Reisen ist die Verweilzeit am Reiseziel. Es gibt Menschen, die zu einem Konferenzvortrag nach Australien fliegen und dann schnell wieder zurück. Ein, zwei Tage und hops zum nächsten Vortrag bzw. zurück nach Hause an den Schreibtisch. Solche Flüge sind kritisch zu sehen und können bzw. müssen höchstwahrscheinlich durch Online-Präsenz ersetzt werden. Im Gegensatz dazu gibt es längere Forschungsaufenthalte. Die Themenklasse hat den CO2-Ausstoß ins Verhältnis zur Aufenthaltsdauer gesetzt. Ein sinnvolles Maß.

Karrierenachteile und Neubewertung

Corona hat gezeigt, dass viele Treffen vermieden werden können und dass Konferenzen online stattfinden können. Was online eher schwierig ist, ist das Knüpfen von Netzwerken. Menschen mit etablierten Netzwerken können eher auf Reisen verzichten als Nachwuchsforscher*innen. Die Themenklasse hat Interviews durchgeführt und ein Interviewpartner, Prof. Niewöhner, bringt es auf den Punkt:

Wenn man das Reisen jetzt radikal einschränken würde, dann würde das in der Tat Ungleichheiten auf zweierlei Hinsicht massiv verstärken. Das eine ist innerwissenschaftlich, oder sagen wir mal innereuropäisch. Es würde den Nachwuchs benachteiligen, denn die etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Professuren, haben ihre Netzwerke. Das sind auch vertrauensvolle Kontakte und das kann man relativ gut digitalisieren. Wir haben auch die Freiheit über forschungsfreie Semester etc. dann mal länger irgendwo hin zu reisen. […] Da gibt es eine gewisse Flexibilität, das kann man sich einrichten. Das heißt, wenn man das [Reisen] jetzt radikal streichen würde, hätte man eine Benachteiligung des wissenschaftlichen Nachwuchses, wenn man nicht die Kriterien mitverändern würde, was geleistet werden muss.

Interview mit Prof. Dr. Jörg Niewöhner, 17.12.2020, S. 30

Entscheidend ist der letzte Teilsatz: „wenn man nicht die Kriterien mitverändern würde, was geleistet werden muss.“ Für die Einstellung von Mitarbeiter*innen, die Berufung von Professor*innen und die Vergabe von Drittmitteln gibt es Kriterien für wissenschaftliche Qualifikation/wissenschaftlichen Erfolg. Ich habe darüber nachgedacht, wie man diese Kriterien verändern könnte und eine Möglichkeit ist einfach, den CO2-Ausstoß als Kriterium bei der Evaluation hinzuzufügen. Bisher wird bewertet, wie viele Aufsätze jemand gechrieben hat und in welchen Zeitschriften diese veröffentlicht wurden. Dabei spielt das so genannte akademische Alter eine Rolle, d.h. nicht wie alt jemand ist, sondern wie lange er/sie gebraucht hat, um nach dem Studium an die Position zu gelangen, an der er/sie jetzt ist. Konferenzvorträge werden in Bewerbungen als Zeichen von Aktivität ebenfalls positiv bewertet. Man kann nun aus den Konferenzreisen den CO2-Abdruck ermitteln und kann das Erreichte an den eingesetzten Ressourcen (CO2) messen. Wenn jemand ohne CO2-Emissionen viele gute Fachzeitschriftenartikel veröffentlicht, ist er/sie besser als jemand, der/die ständig durch die Welt jettet.

CO2-Kompensation

Ich bin wie Parncutt (2019) der Meinung, dass man überhaupt nicht mehr fliegen sollte. Das wird erst im Verlauf der nächsten Jahre bei zunehmender Verstärkung der Krise durchzusetzen sein. Da ein CO2-Ausstoß von Null angestrebt wird, kann dieser also nur über Kompensationen erreicht werden.

Was im besten Fall passieren wird

Die Themenklasse diskutiert ethische Aspekte der Kompensation. Sie vergleicht das britische Lebensmittelverteilungssystem im zweiten Weltkrieg mit der Kompensation. Die Essenmarken waren in Großbritannien nicht handelbar. Somit entstand eine Gleichheit und Solidarität unter den Menschen. Das Analogon beim Fliegen wäre der Ausschluss von Kompensationen: Alle haben die gleichen Rechte bzw. Pflichten. Reichere dürfen sich nicht mehr Verschmutzungsrechte kaufen (S. 50–51). Die Autor*innen halten die Kompensation aber für legitim, wenn die Summen für Kompensationen so hoch sind, dass sie der Gemeinschaft nützen. Allerdings sollte das nicht dazu führen, dass Menschen weiter exzessiv fliegen können. Für die wissenschaftlichen Reisen schlagen sie deshalb vor, Inlandsflüge und mehrere Flüge pro Jahr zu verbieten. Damit bliebe für 2408 wissenschaftliche Mitarbeiter*innen der HU die Möglichkeit für einen Flug pro Jahr. Dieser trägt zum CO2-Ausstoß der HU bei, der auf Null gesenkt werden muss. Das heißt, dass diese Flüge kompensiert werden müssen.

Die Themenklasse hat sehr schön herausgearbeitet, dass Kompensation mit steigender Nachfrage teurer wird, weil die niedrig hängenden Früchte zuerst gepflückt werden, d.h. Kompensationsprojekte, die viel bringen und billig sind, werden zuerst durchgeführt. Das heißt, wenn man z.B. Kompensationen über einen Zeitraum von 10 Jahren betrachtet, wären die am Ende des Zeitraums teurer als am Anfang. Daraus ergibt sich, dass man für die Kompensation höhere Beträge ansetzen muss als die Kosten, die zur Zeit real entstehen. Außerdem wurden Rebound-Effekte besprochen und die Tatsache, dass wir, wenn wir im globalen Süden CO2-Einparungsprojekte fördern, den Menschen dort die Möglichkeit wegkaufen, selbst CO2 zu reduzieren. Der Vorschlag ist deshalb, Projekte lokaler Anbieter wie die Wiedervernässung von Mooren zu finanzieren.

Was passieren müsste

Ich habe lange über das Kompensieren nachgedacht. Ist es OK? So wie die Themenklasse schreibt? Wenn man dreimal so viel CO2 zurückholt, wie man durch seinen Flug ausstößt? Viermal? Weil man es kann? Weil man das Geld hat und reich ist? Der Moralphilosoph Bernward Gesang hat so etwas in der taz geschrieben. Sollen wir doch irgendwo im Süden etwas finanzieren, das unsere Emission ausgleicht. Wir können dann fröhlich weiter fliegen, Fleisch essen, Kinder kriegen, wenn wir nur dafür sorgen, dass irgendwo anders CO2 eingespart wird und andere Menschen keine Kinder bekommen (taz, 18.03.2022). Doch wirklich, das hat er geschrieben.

Nach längerem Nachdenken ist mir ein Vergleich eingefallen, der deutlich macht, warum das falsch ist. Man stelle sich folgendes vor: Jemand der unbedingt ein paar Dinge loswerden will (= einen wissenschaftlichen Vortrag in Asien oder Amerika halten will) scheißt einfach in den Eingangsbereich der Humboldt-Universität. So mitten hin. Achtlose Menschen laufen durch und verteilen letztendlich alles gleichmäßig in der Eingangshalle. Man sieht es praktisch nicht mehr (so wie CO2). Eine andere hat ein kleineres Geschäft zu verrichten (einen Vortrag in Europa mit Flugreise). Das ist praktisch, denn es versickert gleich alles zwischen den Dielen. Ein Problem ist der Sommer (die Hitzeperioden, Dürren, Waldbrände, ausgetrocknete Flüsse, Missernten), denn dann ist die Kacke am Dampfen und es stinkt zum Himmel. Und deshalb beauftragt man einen Schwarzen Menschen (jemanden aus dem globalen Süden), unseren Scheiß aufzuräumen.

Soweit zum Gleichnis. Das Problem wird durch folgenden Umstand verschärft: Wenn man die Restmenge CO2, die zur Verfügung steht, um das 1,5°-Ziel zu erreichen, auf alle Menschen aufteilt, dann ergibt sich, dass für jeden Deutschen eine Restmenge von 24 Tonnen zur Verfügung steht, wenn wir das 1,5°-Ziel mit 67% Wahrscheinlichkeit (klappt, klappt, Mist) erreichen wollen (SRU, 2022). Das bedeutet, dass in drei Jahren alles aufgebraucht ist, wenn man den Durchschnittsausstoß von 11 Tonnen pro Jahr zugrundelegt. Wenn man aber nun einmal im Jahr Economy nach Seoul (4,3t), Los Angeles (5,095t) oder Sydney (10,683 t) fliegt, stößt man jeweils eine Menge CO2 aus, die ein Vielfaches der klimaverträglichen Jahresemission von 1,5t pro Person beträgt. Oder anders: Man kann in seinem Leben noch fünf Mal nach Korea fliegen. Dann ist das Budget komplett aufgebraucht und man hat noch nichts gegessen, nicht geheizt und so weiter. Das einfach nur, um die Größenordnungen der Verschmutzung aufzuzeigen, die man anrichtet.

Die Kompensation bei atmosfair läuft so, dass innerhalb von zwei Jahren der Ausgleich geschaffen wird (atmosfair, 03.10.2022). Da heißt, dass es in der Zwischenzeit stinkt! Nicht love is in the air, sondern CO2. Wir sind nah an den Kipppunkten dran und der fortwährende Ausstoß von CO2 ist ein Spiel mit dem Feuer.

Kipppunkte und in welchem Temperaturbereich das Kippen wahrscheinlich ist. Die entsprechenden Vorgänge sind irreversibel. PIK 2022.

Der Schluss kann nur sein, dass wir unseren wissenschaftlichen Vortrag nicht über das Leben von Menschen stellen dürfen, dass CO2-Kompensation nur ein Ablasshandel und eine Kompensation für uns selbst, für unser Gewissen, ist und dass wir einfach keinen Mist machen sollten, den andere dann – vielleicht zu spät – wegmachen müssen.

Vielmehr sollten wir nun endlich in den Notfallmodus schalten und das, was wir vielleicht für Kompensationsprojekte machen könnten, zum Beispiel die Wiedervernässung von Mooren, einfach so machen. Fridays For Future fordert 100 Milliarden dafür.

Fronttransparent von Fridays For Future beim 11. globalen Klimastreik: 100 Milliarden für Klima statt Krise, Berlin, 23.09.22, Bild: Stefan Müller

Also, lasst uns aufhören mit dem Scheiß und lasst uns uns selbst retten.

Extinction Rebellion blockiert Potsdamer Platz mit Bohrturm: „Wir müssen nicht das Klima retten, sondern uns selbst“, Berlin, 19.09.22, Bild: Stefan Müller

Quellen

Appiah-Nuamah, Maame & Berner, Richard & Gipp, Antonia & Hohmann, Theresa & Nöfer, Johannes & Pätzke, Franka & Prawitz, Hannah et al. 2021. Wissenschaftliches Reisen: THESys Humboldt-Stipendium Themenklasse Nachhaltigkeit und Globale Gerechtigkeit 2020/2021. Humboldt-Universität zu Berlin. (doi: 10.18452/23298)

Asmuth, Gereon. 2022. Hitzetote in Deutschland: Hitzewelle mit dunklem Schatten. taz 22.08.2022. Berlin. (https://taz.de/Hitzetote-in-Deutschland/!5873299)

Gesang, Bernward. 2022. Gebärstreik als Klimaschutz-Maßnahme: Kinderlos fürs Klima? taz 18.03.2022. Berlin. (https://taz.de/Gebaerstreik-als-Klimaschutz-Massnahme/!5838466/)

Herrmann, Ulrike. 2022. Kapitalismus und Klimaschutz: Schrumpfen statt Wachsen. taz 17.09.2022. Berlin. (https://taz.de/Kapitalismus-und-Klimaschutz/!5879301/)

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)

Schwarz, Susanne. 2022. Proteste der „Letzten Generation“: Zeit für Notwehr? taz 17.02.2022. Berlin. (https://taz.de/Proteste-der-Letzten-Generation/!5831060/)

Gerichtprozess gegen Henning Jeschke wegen versuchter Nötigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt

Henning Jeschke vom Aufstand der Letzten Generation steht im Amtsgericht Tiergarten wegen versuchter Nötigung vor Gericht. Er hat am 24.06. eine Straße blockiert, indem er sich festgeklebt hat. Ihm ist es als einzigem gelungen, sich festzukleben, bei anderen Aktivist*innen hat das die Polizei verhindert.

Die Verhandlung

Die Verteidigerinnen Sonja Manderbach und Carla Hinrichs wurden nicht anerkannt, weil sie nicht über ein abgeschlossenes Jura-Studium verfügen.

Henning Jeschke vom Aufstand der Letzten Generation vor Gericht wegen versuchter Nötigung. An seiner Seite Carla Hinrichs, Pressesprecherin der Letzten Generation und Jurastudentin, die ihn verteidigen wollte, aber nicht als Verteidigerin zugelassen wurde, Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 28.09.22, Bild: Stefan Müller

Henning Jeschke muss sich also selbst verteidigen. Ich habe Aussagen stichpunktartig aufgeschrieben und, was folgt, ist daraus rekonstruiert bzw. entspricht diesen Stichpunkten. Audio- oder Videoaufnahmen sind in Deutschland nicht erlaubt. Ein Rechtsanwalt meinte dazu, dass das dazu diene Show-Veranstaltungen zu verhindern.

Jeschke: Ja, habe mich angeklebt. War richtig so, würde das wieder tun, weil wir alle die #LetzteGeneration sind, die noch handeln kann.

Jeschke trägt zu seiner Biografie vor: In der Schule wöchentliche Demokratiestunde geleitet, als Wahlhelfer gearbeitet, bei Fridays For Future Reden gehalten, nur um dann zu sehen, wie die Regierung nach der Klimastreik-Demo von 1,4 Mio Menschen ein verfassungswidriges #Klimapaket verabschiedet. Da die Politik weiß, was sie tut, handelt es sich um Massenvernichtung. Politik hat versagt. Information über Lage wird unterschlagen. In Indien gab es existenzielle Probleme für Bauern (?). Menschen sind auf die Autobahnen gegangen und haben ihre Ziele erreicht. Unsere Hände werden keine Waffen tragen und unsere Herzen werden offen sein. Wegen der Kipppunkte gilt: Es gibt keinen Mittelweg. Deswegen saß ich am 24.06. auf der Straße und werde das auch weiter machen.

Die Anklage erfolgt nach §240 Strafgesetzbuch wegen Nötigung: Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Tat zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist. Richterin spricht von ihrer 14jähringen Tochter. Sie hat sich mit der Sache beschäftigt und auch mit anderen Richter*innen gesprochen. Sie weiß, dass die #LetzteGeneration nicht irgendwelche Spinner sind, wie in manchen Medien behauptet. Sie hat auch einen Fachartikel gelesen zum Thema Straßenblockaden gelesen, hält den rechtfertigenden Notstand aber nicht für gegeben. Sie nennt den Autor des Fachartikels nicht, aber es könnte Mathis Bönte (2021) sein. Man müsse immer die Frage stellen, ob es mildere Mittel gebe? Persönlich hält sie Straßenblockaden nicht für geeignet. Sie betont, dass das ihre persönliche Meinung ist.

Jeschke stellt einen Beweisantrag zu Klimanotstand. Richterin: Keine Beweise für Klimakatastrophe nötig, das glaube ich ihnen alles.

Jeschke stellt Antrag: #Klimawandel und #Klimaschutz sollten nicht in Verhandlung und Protokollen verwendet werden, weil dieses framing von fossilen Thinktanks kommt. Statt dessen: #Klimanotstand. Die Richterin will sich nicht vorschreiben lassen, welche Wörter sie gebrauchen soll und lehnt Antrag ab.

Jeschke stellt den Antrag, den Klimaforscher (Name habe ich nicht verstanden) vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) als Zeugen zum rechtfertigenden Notstand zu hören. Dieser halte sich unten als Zeuge bereit. Ziel der Aktionen der Letzten Generation: Abwendung der Gefahr durch Erwirkung von Aufmerksamkeit. Klimakatastrophe ist existenzielle Bedrohung. Widerstand gegen unzureichende Maßnahmen. Dadurch ist die Verwerflichkeit auszuschließen und somit die Verurteilung unmöglich.

Staatsanwalt: Der Antrag ist abzulehnen, weil es unerheblich sei, ob #Klimanotstand vorliegt.

Richterin Antrag wird abgelehnt, weil Klimafakten und #Klimakatastrophe bekannt sind.

Jeschke: Prof. Dr. Wolfgang Lucht vom PIK hat eine schriftliche Stellungname zu diesem Prozess abgegeben: Politische Kurs ist zu langsam. „Politische Ignoranz“. Jeschke will das gesamte Papier zu Protokoll geben.

Richterin: Was berücksichtigt werden soll, muss auch verlesen werden.

Jeschke verliest aus Luchts Stellungnahme: Es bleibt wenig Zeit für Reaktion. Für 1,5° müsste Deutschland rascher klimaneutral werden. Bundesregierung muss ein CO2-Budget vorlegen. Das hat die Bundesregierung bis heute nicht getan. Wahrscheinlich wird Deutschland die aktuell gültigen Klimaziele verfehlen, obwohl die ohnehin oberhalb von dem liegen, was für die Erreichung des 1,5°-Ziels nötig wäre.

Jeschke: Die Straßenblockade hat zu großem Medienecho geführt und war angemessen. Allein 41 Artikel zum 24.06. Eine gewöhnliche Demo erzeugt weniger Aufmerksamkeit. Sitzblockade ist ein mildes und geeignetes Mittel. Widerspricht Aussage der Richterin, dass Blockade nicht geeignet ist.

Jeschke: Antrag auf Kenntnisnahme der Artikel und des Medienechos.

Richterin: Abgelehnt.

Jeschke: Antrag: Bilder von Demo ansehen.

Richterin: Das wollte ich sowieso machen, das war mein Masterplan.

Jeschke: Die Polizei hat nicht beachtet, dass es sich um politische Versammlung handelt. Sie habe diese nicht verlegt oder aufgelöst, sondern Aktivisten sofort geräumt.

Richterin: Verfahren wird auf Nötigung beschränkt. Wenn mehrere Paragrafen verletzt sind, dann kann man nur eine Sache weiter verfolgen. (Ich glaube, das andere war Widerstand §115, bin aber unsicher.)

Richterin erwähnt Prozess in Lübeck (taz, 2022).

Journalistinnen bemerken Frau (nicht von LG), die mit professionellem Equipment Audioaufnahmen macht. Richterin holt Polizist, der Aufnahmegerät beschlagnahmt. [NB: Audioaufnahmen wären schon praktisch, weil so schnell alles mitzuschreiben, nicht einfach ist. =:-)]

Jeschke: Es wird alles so weitergehen im Oktober. Er zitiert Jürgen Trittin zum Erfolg der Aktionen. Trittin soll als Zeuge geladen werden: Der durch friedliche Straßenblockaden erzeugte Druck führe zu Handlungen. Der Druck von der Straße habe schon Wirkung gezeigt. Dehalb war die Nötigung nicht verwerflich, denn die Blockaden bewirken Maßnahmen zum Klimaschutz. Deshalb plädiert Jeschke auf Freispruch, denn die Tat sei somit nicht rechtswidrig gewesen.

Richterin verlässt mit weiterer Zuschauerin wegen evtl. Audioaufnahmen auf deren Handy den Gerichtssaal.

Der Antrag zur Ladung Jürgen Trittins wird abgelehnt, weil die Wirkung der Blockade so allgemein nicht überprüfbar sei.

Richterin: „Sind wir am Ende?“ Jeschke: „Ja, die gesamte Zivilisation und hier auch.“

Staatsanwalt: Die Anklage wegen Widerstand ist eingestellt. Aber der Vorwurf der versuchten Nötigung bleibt. Der Klimanotstand ist eine Krise, die uns alle betrifft. Ziel der Tat war zu erreichen, dass der Planet bewohnbar bleibt. Das steht aber nicht vor Gericht, sondern die Tat. Dafür sieht das Gesetz eine Haftstrafe oder eine Geldstrafe vor. Wegen fehlender Vorstrafe kommt nur eine Geldstrafe in Betracht. Das Notwehrrecht greift nur, wenn eine gegenwärtige Gefahr abgewendet werden kann. Personen werden Geisel der Überzeugung des Angeklagten. Wie das Blockieren das Erreichen des Gradziels bewirken soll, erschließt sich dem Staatsanwalt nicht. (Einschub StMü: Er sollte sich mit zivilem Ungehorsam beschäftigen, aber das passt wohl nicht zur Rolle des Staatsanwalts.) Angeklagte sollte andere Mittel verwenden: Wahlen, Demonstrationen, Kunstfreiheit. (Einschub StMü: Fallen Aktionen mit trojanischen Pferden unter Kunstfreiheit? In dem Pferd waren vier Personen drin.) Die Tat sei unzulässig und verwerflich. Da der Angeklagte nicht vorbestraft ist, schlägt die Staatsanwaltschaft 20 Tagessätze a 10€ = 200€ + Kosten des Verfahrens als Strafe vor. Die Sekundenklebertuben werden als Tatmittel eingezogen.

Jeschke: Ich bin schockiert. Wozu haben wir denn ein Grundgesetz? Grundgesetz heißt doch, dass wir bestimmte Sachen nicht verhandeln müssen. Ökosysteme kollabieren, nach Kipppunkten gibt es kein Zurück mehr, Zwangsmarsch ins Verderben, Verzicht auf Führung ist kriminell. Und das ist nicht von mir, damit zitiere ich den UN-Generalsekretär. Ein Alien, das von außen auf die Erde blickt, würde nicht verstehen, was wir hier machen.“ (Seine Stimme versagt.) Das Frauen-Wahlrecht, Rechte für Schwarze, das freie Wochenende wurden mit zivilem Ungehorsam erkämpft. Wir erleben, wenn Justiz nicht stark genug ist, wie eine Aushöhlung geschieht, wie Menschen sich Wahrheit konstruieren. Bei 4° wird es vielleicht noch 1 Mrd. Menschen geben vielleicht 1/2 Mrd. d.h. 7 Mrd Menschen werden verschwunden sein. Vielleicht sind wir auch schon im Atomkrieg untergegangen. (NB StMü Gletscher speisen Flüsse in Indien, Pakistan, China. China kontrolliert Tibet und damit das Wasser. Alle drei sind Atommächte. Quelle: Wasser und Zeit) 1,5° sind vorbei. Kipppunkte fallen in den nächsten Jahren. Es bleiben wenige Jahre, das Ruder herumzureißen. Regierung begegnet dem mit Ignoranz. Eine mutige Entscheidung hier kann eine Debatte auslösen, die Welt zu ändern. Damit könnte man Veränderungen im Justizapparat anschieben, wenn nicht, machen Sie sich zur Komplizin der Vernichtung der nächsten Generation. Auf Ihre Gräber werden unsere Kinder später spucken. (NB: Henning Jeschke spricht von „unseren Kindern“, vielleicht kann das Missverständnis, sie würden irgendwie behaupten, sie seien die letzten Menschen jetzt mal aufhören.) Für mich ist es gleich, was Sie machen, ich werde wieder das Gleiche tun. Sagen Sie, auf welcher Seite der Geschichte Sie stehen. Ich wollte niemanden emotional unter Druck setzen, oder vielleicht doch.

Das Urteil

Richterin verkündet Urteil: 20 Tagessätze à 10 Euro + Kosten des Verfahrens. (NB: Also das Strafmaß, dass auch die Staatsanwaltschaft gefordert hat. Allerdings ist das eine geringe Strafe.)
Richterin zum Urteil: Der Angeklagte hat sich an der Seestraße als Einziger festgeklebt, eine Spur blockiert. Dazu gilt die Zweitereiherechtssprechung vom Bundesgerichtshof. Richterin findet diese merkwürdig, aber das ist nun mal gültiges Recht. (NB: Beruhigt mich ja irgendwie, denn ich hatte von zweite Reihe in der Zeitung gelesen und fand das auch absurd.) Autofahrer fördern Klimakrise, aber das geht zu weit, weil das machen wir ja alle. (NB: Die Autofahrer*innen sind nicht das Ziel der Aktionen. Das Ziel ist maximale Disruption und die sich daraus ergebende Aufmerksamkeit für den Klimanotstand.) Es ergab sich eine Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit. Menschen auf dem Weg zur Arbeit, haben das Recht dorthinzukommen. Es ist fraglich, ob Blockaden ein geeignetes Mittel sind. Das zu sagen, fällt mir nicht leicht, habe ich schon gesagt. Schwierig auf den politischen Prozess zu verweisen, neben der Straße zu demonstrieren funktioniert auch nicht. Moralische Erwägungen gehören aber nicht in die juristische Diskussion.

Das war das Ende. Die Aktivist*innen im Gerichtsaal waren traurig, es gab Tränen aber auch Support.

Lina Eichler und Henning Jeschke vom Aufstand der Letzten Generation nach der Verurteilung von Henning Jeschke wegen versuchter Nötigung, Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 28.09.22, Bild: Stefan Müller

Das war erst das erste in einer Reihe weiterer Verfahren, aber im Oktober geht die Letzte Generation wieder auf die Straße. Von einer Journalistin befragt, ob das denn erfolgreich sei, antwortete Henning Jeschke: Ja, am Anfang waren wir 30. Jetzt sind wir 500 in Deutschland und es gibt die Letzte Generation in 10 Ländern.

Sonja Manderbach, Henning Jeschke und Carla Hinrichs (vlnr) vom Aufstand der Letzten Generation nach der Verurteilung Henning Jeschkes wegen versuchter Nötigung mittels Straßenblockade. Carla Hinrichs und Sonja Manderbach wurden als Verteidigerinnen nicht zugelassen. Im Hintergrund Unterstützer. Eine mit einem Beutel mit der Aufschrift „Froh, dabei zu sein“, Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 28.09.22, Bild: Stefan Müller

Nachgedanken

Dinge, die ich heute gelernt habe: Das Amtsgericht Tiergarten hat drei Standorte und ohne Aktenzeichen ist man verloren. Deshalb kein Bild vom Prozessauftakt.

Es gab auch einen Bericht in der taz von Gareth Joswig. Er schreibt: „Unsere Kinder werden auf unsere Gräber spucken, wenn wir nicht handeln.“ Ich habe mir notiert: „Auf Ihre Gräber werden unsere Kinder später spucken.“ Es ging um den Justizapparat. Die taz-Formulierung scheint mir nicht sinnvoll, denn Henning Jeschke handelt ja. Sein Ansatz mag falsch sein und vielleicht nicht funktionieren, aber es wird niemand sagen können, er habe nichts getan. Für solche Details wären Audioaufzeichnungen gut. An der einen oder anderen Stelle in der Verhandlung hätte ich auch gern Bilder gemacht. Es waren schon sehr interessante Gesichtsausdrücke. Aber ich verstehe auch, dass es so ist, wie es ist.

In der Nacht fiel mir noch diese Vorlesung von der Klimavorlesung an der TU Berlin ein.

Petra Vandrey erklärt dort, dass die nicht endenden Aktionen Politiker*innen im Tagesgeschäft immer wieder daran erinnern, dass es da ja noch ein Problem gab.

Ich habe über die Richterin nachgedacht. Wie verläuft ihr Alltag? Erzählt sie zu hause am Abendbrotstisch von ihren Verfahren? Am Tag davor? Spricht sie mit ihrer 14jährigen Tochter? „Aber, was er gemacht hat, war doch richtig. Hast Du doch selber gesagt.“ „Ja, aber juristisch war es falsch.“ „Ja, aber, sind dann nicht die Gesetze falsch?“ „Nun ja, …“ „Kann man die ändern?“ „Ja, aber ist nicht einfach.“ „Kannst Du sagen: Ich will das nicht entscheiden?“ „Nun ja, … ist nicht einfach.“ Ich habe die Richterin gefragt, wie es weitergeht und ob sie noch mehr solche Verfahren bekommt. Sie meinte, es gäbe ein Rotationsprinzip und ohnehin seien eigentlich Verkehrsrichter*innen für die Blockaden verantwortlich. Da jetzt aber so viele Verfahren anstehen, bekommt sie vielleicht ja noch eine zweite Chance.

Offene Fragen

Wenn es nur versuchte Nötigung war, weil die Straße nicht komplett blockiert war, dann müssten ja auch alle anderen Prozesse nur wegen versuchter Nötigung geführt werden, weil es immer eine Rettungsgasse gibt, über die der gestaute Verkehr abfließen kann. Die Blockade ist dennoch wirksam, weil die Polizei dann oft die ganze Autobahn für mehrere Stunden sperrt.

Die Letzte Generation besetzt Signalleitanalage und blockiert die A100, Berlin, 29.06.2022, Bild: Stefan Müller

Quellen

Bönte, Mathis. 2021. Ziviler Ungehorsam im Klimanotstand. HRRS  Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht 22. (https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/21-04/index.php?sz=6)

No logo? Logo!

Ich ärgere mich seit Jahren über Achtlosigkeit und verschenkte Chancen, weshalb ich mich entschlossen habe, einen Post darüber zu schreiben.

Zerstörte Bilder

Bei Demonstrationen und auch bei Aktionen zivilen Ungehorsams kommt es vor, dass Menschen nicht darüber nachgedacht haben, was sie zur Veranstaltung anziehen. Ich habe immer wieder Diskussionen darüber, weshalb ich hier ein paar krasse Beispiele und ein paar positive Beispiele bringen möchte.

Das erste Bild hat bei mir echt Fragen ausgelöst!

Werbung für J*e*e*p South Africa-Club

Warum hat ein Mensch mit ökologischen Einstellungen so eine Mütze? J*e*e*p stellt schwere Geländewagen her, die leider auch in der Stadt gefahren werden. Südafrika ist von Berlin nur mit einem Langstreckenflug erreichbar. Was vermittelt so ein Logo auf der Mütze? Ich war in Südafrika und habe dort eine Safari gemacht? Ich fand das so toll, dass ich mir im Souvenir-Laden des Naturparks eine Mütze gekauft habe? Ich bin in den Jeep-Club eingetreten und habe diese Mütze bekommen? Ich habe die Mütze hier in einem Laden gekauft und nicht weiter darüber nachgedacht, was ich kaufe? In jedem Fall ist die Nachricht verheerend. Sie steht direkt im Widerspruch zu dem, was das restliche Bild zeigen würde.

Beispiel zwei ist auch sehr schön. Ein Klimaaktivist macht Werbung für das amerikanische Militär. Pazifismus ist ja ein bisschen aus der Mode gekommen, aber das amerikanische Militär hat einen enormen CO2-Ausstoß (mehr als Schweden, Welt 29.08.2022). Insbesondere Flugzeuge sind klimaschädlich. Insgesamt dürfte klar sein, dass solche Aufschriften auf Demos daneben sind und von der eigentlichen Bildaussage ablenken.

Pullover mit Aufschrift Air Force Academy

Letztes Beispiel: Werbung. Diese Person macht Zigarettenwerbung:

Zigarettenwerbung

Mit Inkrafttreten des Tabakwerbeverbots haben Tabakfirmen ihre Strategien umgestellt. Sie haben versucht, Farben zu besetzen und auch Bekleidungsmarken ins Leben gerufen. Niemand, der politisch denkt, sollte seinen Körper für Tabakwerbung zur Verfügung stellen.

Menschen, die lesen können, müssen Schrift lesen. Das passiert automatisch und unbewusst. Menschen, die Kleidungsstücke mit Nachrichten tragen, transportieren diese Nachrichten, machen Firmen oder Institutionen populär.

Das Beste bisher war ein Schild, das darauf hinweist, dass entlang der Lieferketten mehrheitlich Frauen leiden:

Garniert mit einem Rucksack von Puma. Zu Puma findet man folgendes in Wikipedia:

Puma wurde im Jahr 2007 von der Clean Clothes Campaign kritisiert. Die von Puma gezahlten Löhne würden in El Salvador nicht für den Grundbedarf an Lebensmitteln ausreichen. Arbeitnehmerinnen seien deswegen gezwungen, auf Pausen zu verzichten und Überstunden zu leisten, um über Zuschläge und Bonusleistungen ihren Verdienst aufzustocken. In Zulieferbetrieben würden Arbeitnehmerinnen zum Teil beschimpft und körperlich misshandelt.

STRG F hat Baumwolle von Puma-Produkten analysiert. Diese zeigen, dass Puma entgegen eigener Behauptungen, Baumwolle aus Xinjiang bezieht. In Xinjiang gibt es Umerziehungslager der chinesischen Regierung, wo Minderheiten zum Ernten und Weiterverarbeiten von Baumwolle gezwungen werden.

Der zweite Punkt hat jetzt nicht unbedingt etwas mit Frauenrechten zu tun. Dennoch: Kein Puma-Logo sollte Teil eines Protests sein. Es stellt sich die Frage nach der individuellen Verantwortung: Sollten Aktivist*innen Puma-Rucksäcke haben dürfen? Meinetwegen. Wer weiß, was auf meinen Rucksäcken drauf steht. Aber sie sollten dann doch so reflektiert sein, dass sie nicht mit diesem Rucksack in einen Protest gehen, der genau die Produktionsbedingungen anprangert, unter denen der Rucksack entstanden ist.

Photoshop

Wenn Ihr Fotograf*innen richtig wütend machen wollt, dann sagt ihnen: „Ach, das kann man doch alles mit Photoshop wegmachen.“ Solche Aussagen sind eine grobe Missachtung der Arbeit der Fotograf*innen, denn die Aussage ist: „Ich denke nicht nach darüber, was ich anziehe, denn Du kannst ja Deine Zeit damit verbringen, meine Gedankenlosigkeit irgendwie auszubügeln.“

Außerdem bitte ich Folgendes zu bedenken:

  • Es sind nicht nur Fotograf*innen anwesend, die der Klimabewegung wohlgesonnen sind. Ich wurde 2021 von meiner Agenturchefin gebeten, Fotos von vermüllten Demonstrationsorten zu machen. Es gäbe dafür Abnehmer.
  • Im Pressebereich zählen Sekunden. Je nach Situation/Aktion kann man nicht anfangen, jedes Bild einzeln zu bearbeiten. Problematische Bilder fliegen raus. Im schlimmsten Fall übersieht man Problemfälle und Bilder landen in Pressedatenbanken.
  • Bei langen Veranstaltungen kommen 1000–2000 Bilder zusammen, aus denen dann vielleicht mehrere Hundert ausgewählt werden. Da von Fotograf*innen zu erwarten, dass die diese bearbeiten, ist eine Sauerei. Ehm, sorry.
  • Ja, man kann einige Dinge mit Photoshop machen, aber zum Beispiel das Logo auf der Mütze gehört zu den schwierigeren Sachen, denn die umgebende Struktur ist detailliert und Manipulationen würden auffallen.
  • Die Bearbeitung von Reportagebildern ist grenzwertig.

Bei folgendem Bild habe ich die Werbung für einen Texttilkonzern so stark abgedunkelt, dass sie praktisch nicht mehr sichtbar ist.

Da war das Original:

T-Shirt-füllende Werbung für Bekleidungsmarke

Man kann nicht anders, als es von links nach rechts zu lesen. Und da steht zuerst Lee und man ist mit Gedanken irgendwo weit weg. Zum Beispiel in Indien bei den 60.000 Arbeiter*innen, die 5.000 Jeanshosen pro Tag produzieren.

Abgedunkeltes, fast nicht mehr sichtbares Firmenlogo

Das Abdunkeln des Logos ist aus Reportagesicht grenzwertig. 2013 gab es Wirbel um das Gewinnerbild des World Press Photo Awards (Süddeutsche Zeitung, 14.05.2013), weil dem Fotografen das Aufhellen von Bildstellen vorgeworfen wurde. Fotograf*innen arbeiten meist mit RAW-Dateien. Das sind die Daten, wie sie der Sensor der Kamera liefert. Da muss in jedem Fall an den Helligkeiten und Kontrasten gedreht werden, sonst würde zum Beispiel das Bild oben wie folgt aussehen:

Bilder sind also fast immer bearbeitet, aber die Frage ist, wie weit man in den Bildinhalt eingreift. In jedem Fall wäre es besser gewesen, wenn das T-Shirt keine Werbebotschaft verkündet hätte.

Nutzt die Möglichkeiten!

Wir reden über Werbung, über Nachrichten in Bildern. Die Proteste brauchen Berichterstattung in den Medien. Aktivist*innen wollen sichtbar sein und wollen ihre Anliegen sichtbar machen. Wir können von den Profis lernen. Schaut man sich Sportübertragungen und Pressekonferenzen nach Sportereignissen an, so sieht man, dass Getränke sorgfältig platziert werden, dass die Akteure Firmenlogos auf der Kleidung haben und sogar auf dem Kragen, so dass man sie auch bei Nahaufnahmen von Personen im Bild hat. Warum also nicht die eigene Message verbreiten?

Hoodies können das Logo, den Schriftzug einer Gruppe tragen:

Basti und Amelie Meyer von Extinction Rebellion bei Protest vor der FDP-Zentrale für 9-Euro-Ticket, Reinhardtstraße, Berlin, 02.09.22

Ein Anstecker ans Kleid ist möglich und reversibel:

Mütter von Mothers Rebllion demonstrieren vor einer Filiale der Deutschen Bank, um gegen die Finanzierung fossiler Projekte zu protestieren. Das war die weltweit erste Aktion von Mothers Rebellion, einer Vereinigung von Müttern, die mit zivilem Ungehorsam gegen unzureichende Klimapolitik demonstrieren. Berlin, 08.09.22

Bei dem Bild ist ein Teil des Banners zu sehen, die Logos der Deutschen Bank und es ist sehr gut, dass die Frau ein (farblich kontrastierendes) XR-Logo am Kleid hat.

Auch Gesichtsmasken oder Gesichter kann man mit Nachrichten und Logos verzieren.

Rebellin von Extinction Rebellion bei der Blockade des Landwirtschaftsministeriums, Berlin, 19.08.21
Teilnehmer am Klimastreik von Fridays For Future kurz vor den Bundestagswahlen: „Vote earth“, Berlin, Reichstag, 24.09.21

Auch Beutel kann man für Nachrichten nutzen. So steht auf dem Beutel von Isabelle Bungart: „Kapitalismus tötet. Systemwandel statt Klimawandel“:

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation graben die Rasenstücke vor dem Bundeskanzleramt um, um dann dort Kartoffeln und Zwiebel zu stecken (Kartoffeltüte links im Bild). Reichstag im Hintergrund, Berlin, Bundeskanzleramt, 12.02.22

Oder man kritisiert mit seinem Beutel die Verhängung eines Klebertransportverbots:

Aktivist mit Rucksack, der aussieht wie eine Uhu-Tube. Es gibt Aktivisten, die ein Verbot haben, Kleber mit sich zu führen. Der Rucksack ist für den Klebertransport gedacht. Während Massenblockade der Letzten Generation und anderer Klimagruppen an der Siegessäule, Berlin, 28.10.2023

Der beste Beutel ist der hier, der tragbare Politik fordert:

Rebell von Extinction Rebellion wird bei Auflösung der Blockade des Landwirtschaftsministeriums weggetragen. Er hat einen Beutel von der Partei Die PARTEI mit der Aufschrift: „Tragbare Politik“, Berlin Wilhelmstraße, 19.08.21

Zusammenfassung

Bitte lasst Kleidung, Taschen, Beutel usw. mit Firmenlogos zu hause. Zieht neutrale Sachen an, trennt Firmen-Logos ab, dreht Mützen, T-Shirts, Einkaufstüten oder -beutel um oder noch besser: Nutzt den Platz für Slogans oder Logos Eurer Bewegungen.

Danke!

Sorry, das musste mal raus.