Gerichtsverfahren gegen den Pilger

Zuletzt geändert am 5. März 2024

Letzte Woche war ich mit meiner Kollegin, der Video-Journalistin Saskia Meyer, zum Gerichtsverfahren gegen einen Video-Journalisten, der unter dem Namen Der Pilger bekannt ist. Er hat einen Youtube-Kanal mit 5640 Followern und ich trage ihn seit letztem Jahr am Herzen. Zusammen mit zwei Polizisten. Das kommt daher, weil er mit auf meiner Visitenkarte ist.

Rebell von Extinction Rebellion wird bei Auflösung der Blockade des Landwirtschaftsministeriums weggetragen. Er hat einen Beutel von der Partei Die PARTEI mit der Aufschrift: „Tragbare Politik“, Berlin Wilhelmstraße, 19.08.21

Der Pilger war angeklagt, weil er eine Aktion der Letzten Generation geleitet haben soll. Als ich davon gehört habe, habe ich mich sehr gewundert. Der Pilger hat kein Abitur und soll jetzt einer Truppe von links-grün versifften Student*innen Kommandos geben? Konnte ich mir nicht vorstellen. (Das mit den Student*innen ist ein Klischee. Es ist falsch. Die LG ist die heterogenste Klimagruppe, die ich kenne. Es gibt Menschen aller Altersklassen, aus ganz verschiedenen sozialen Schichten und mit sehr verschiedenen Berufen.)

Der Staatsanwalt verliest die Anklage. Der Pilger soll gesagt haben: „Nicht erst die Platten, mach erst die Wand.“. Die Zeugen werden aufgerufen. Die ersten drei Zeugen sind Polizisten der Berliner Polizei. Sie berichten davon, dass es einen Zeugen gab, dass sie damit beschäftigt waren, das Video des Zeugen auf den Polizei-Computer zu überspielen. Die Polizei fuhr in Mannschaftswagen in der Gegend herum, um eventuell auftauchende Aktivist*innen der Letzten Generation stellen zu können. Letztendlich gelang das nicht und die Letzte Generation hat angefangen Gehwegplatten herauszuhebeln, um da Öl-Pipelines zu verlegen, und die Wand mit schwarzer Farbe, die Öl symbolisieren sollte, zu beschmieren. Die Bundespolizei, die die Gebäude der Bundesregierung schützt, war schnell zur Stelle und hat alles unterbunden. Es wurden jedoch keine Bundespolizist*innen als Zeugen vor Gericht geladen.

Die Aktion ist in einem Video von Spiegel-TV dokumentiert.

Der Anwalt beantragt, dass das Video von Spiegel-TV angesehen wird.

Der vierte Zeuge ist ein Rentner aus Magdeburg, der mit dem 9€-Ticket nach Berlin gefahren ist und zufällig vor dem Bundeskanzleramt war, als die Letzte Generation loslief. Der Richter weist ihn darauf hin, dass man vor Gericht die Wahrheit sagen muss. Der Zeuge behauptet, dass der Pilger gesagt hat „Nicht den Spaten, erst die Wand.“. Der Pilger soll die Aktivist*innen angewiesen haben, da oder dorthin zu gehen. Mit Gesten und über Telefon.

Mich hat das sehr gewundert. Bei den meisten Aktionen, die ich fotografiert habe, war der Pilger auch dabei. Er stand da mit seinem Handy und hat gefilmt. Ab und zu hat er etwas in seinen Bart gemurmelt, aber sonst nichts. Aber ich dachte: Das sieht jetzt wirklich schlecht für ihn aus. Der Zeuge belastet ihn stark.

Der Richter fragte, ob der Zeuge sich sicher sei, dass der Angeklagte die Person sei, die er gesehen habe. Ja, ja. Die Haare und so. Was hatte der Angeklagte denn damals an? Na so wie jetzt so. Und einen Parka. Was hatte der Angeklagte für eine Kamera? Na, so mit Teleskopobjektiv.

Der Richter entlässt den Zeugen und sagt, dass der zu ihm kommen solle, damit der Richter das Kostenerstattungsformular für die Anreise unterschreiben kann. Der Zeuge versteht erst nach dem dritten Anlauf, was der Richter von ihm will bzw. für ihn tun will.

Dann gibt es eine Befragung des Angeklagten durch den Staatsanwalt. Er stellt erstaunliche Fragen. Zum Beispiel: Fotografieren sie öfter Menschen, die Straftaten begehen? „Ehm. Ja.“, denke ich, „Das ist die Aufgabe der Presse. dpa, reuters, ap, Funke, Ostkreuz schicken Fotograf*innen.“ Die kleine Agentur, für die ich arbeite, leitet meine Bilder auch an dpa und ddp weiter. Hat der Staatsanwalt noch nie einen Fernsehbeitrag über Tierschützer in Schweinemastställen gesehen? Eine Doku über Greenpeace? Wo kommen die Bilder her? Wer macht das? Das sind normalerweise Profi-Fotograf*innen und Kammeramänner oder -frauen. Spiegel TV war bei der Besetzung des Hauses des Wirtschaftsrates im Haus mit den Aktivist*innen unterwegs. Und Moment: Das Video von Spiegel-TV hatte er doch gerade gesehen. Er fragte, warum er denn so nah rangegangen sei. Mir fiel spontan dazu der Kriegsfotograf Robert Cappa ein: „If your pictures are not good enough, you are not close enough!“. Der Pilger geht immer nah ran. Ich weiß das, weil er mir immer im Weg steht. Man kann keine Übersichtsbilder machen. Der Pilger ist auf allen Bildern drauf. Sogar auf meiner Visitenkarte. Er ist immer nah dran, denn er hat kein „Teleskop-Objektiv“ oder Tele-Objektiv, wie wir Fotograf*innen und Kamerafrauen sagen, sondern nur ein extremes Weitwinkel-Objektiv. Außerdem hatte der Staatsanwalt gerade das Video von Spiegel-TV gesehen, die auch nah dran waren:

Der Staatsanwalt fragte, woher der Pilger denn von den Aktionen wüsste. Der Pilger antwortete, dass die Presse vorher informiert würde. Das ist richtig und ganz normal. Man konnte das sogar schon im Fernsehen sehen. Der NDR hat darüber berichtet.

Bericht vom NDR über die Medienstrategie der Letzten Generation. Das Titelbild und noch ein weiteres Standbild im Beitrag ist von mir.

Im Beitrag ist zu sehen, wie das abläuft. Zum Beispiel bei der Luftballon-Aktion am BER haben die Journalist*innen in Parkhäusern gewartet. Nach Anruf oder SMS sind sie dann zum Aktionsort gekommen. Im Filmbeitrag sieht man auch den reuters-Fotografen und mich. Pro 7 war, glaube ich, auch noch vor Ort. Normaler Presse-Alltag.

Der Richter stellt Fragen, wie lange der Pilger gefilmt hat. Ob er durchgehend gefilmt habe. Der Pilger gibt an, dass er in der polizeilichen Maßnahme, also kurz nach dem Einschreiten der Berliner Polizei, nicht mehr gefilmt habe. Sein Anwalt beantragt, das Video vom Handy des Angeklagten zu sehen. Das Handy war von der Polizei beschlagnahmt worden. Der Richter weist das zurück und sagt, er habe jetzt die Evidenz, die er zur Einschätzung des Falles bräuchte. Ich dachte: Oh, jetzt werde ich Zeuge eines Fehlurteils! Auf der Zuschauerbank gibt es Volksgemurmel, weil die Zuschauer das vorliegende Missverständnis erkannt haben. Der Richter bringt das Volk energisch zum Verstummen. Der Pilger hatte gesagt, dass er die gesamte Aktion von Beginn an gefilmt hatte, weshalb er natürlich auch keine Anweisung per Telefon hätte geben können, und auch sonst müssten Anweisungen von ihm ja auf dem Video zu hören sein. Der Anwalt weist noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass das Video ein wichtiges Entlastungsdokument ist. Es kann alle Zeugenaussagen sofort entkräften.

Der Pilger wird gebeten, das Video zu entsperren, und Staatsanwalt, Richter, Pilger und Anwalt schauen das Video an. Der Pilger hat die Aktion von Anbeginn bis zum Eintreffen der Berliner Polizei gefilmt. Er hat keine Anweisungen gegeben. Der Zeuge hat nicht die Wahrheit gesagt. Case closed.

Der Staatsanwalt hält sein Plädoyer. Er stellt fest, dass sich herausgestellt hat, dass der Schaden nicht so groß war, wie angenommen. Bestimmte Straftatbestände seien nicht erfüllt, aber dennoch finde er, dass das beantragte Strafmaß zu niedrig sei und er deshalb eine höhere Strafe von 70 (check) Tagessätzen a 15€ beantrage. Mir blieb der Mund offen stehen. Hatten sie nicht gerade das Video gesehen, aus dem hervorging, dass der Pilger die ganze Zeit gefilmt hatte und zwar ohne etwas zu sagen? Gab es nicht dieses Spiegel-TV-Video, in dem man sehen konnte, wer per Telefon das Signal zum Start gegeben hatte? Was war denn hier los? Und was würde jetzt passieren?

Dem Anwalt ging es genau so. Er sagte recht deutlich, dass er in diesem Verfahren schon mehrfach geglaubt hatte, im falschen Film zu sein. Hätte die Polizei das Handy sofort ausgewertet, hätte es den Strafbefehl und das sich daraus ergebende Verfahren gar nicht geben müssen. Die Polizei hatte das Handy nicht ausgewertet und aufgrund eines Missverständnisses hätte auch fast der Richter das Video nicht gesehen.

Urteilsverkündung: Der Richter wartete, bis wir uns erhoben hatten, und verkündete dann den Freispruch. In der Urteilsbegründung erklärte er, dass, wenn Aussage gegen Aussage steht, besondere Anforderungen an die Glaubwürdigkeit des Zeugen bestehen würden. Die Beschreibung der Kleidung des Angeklagten war nicht sicher. Die Polizeizeugen hatten berichtet, dass die Aktivist*innen sich haben wegtragen lassen. Die letzten seien aber wegen der großen Hitze dann von selbst in den Schatten gegangen. (Man kann ja auch auf dem Spiegel-Video sehen, dass alle leicht bekleidet waren.) Ein Parka hätte da nicht gepasst. Handy statt Kamera mit Teleskop-Objektiv. Auch die Aussage, die der Pilger laut Zeuge gemacht haben sollte, passte nicht zu dem, was in der Anklage stand (Erst die Wand, …). Der Richter machte dem Zeugen keinen Vorwurf. Er meinte, das könne schon mal passieren, wenn man in die große Stadt käme und total überwältigt sei. Ich lächelte in mich hinein. Letztendlich zeige das Video des Angeklagten aber auch, dass dieser unschuldig sei.