Sind Fluggäste Mörder?

In diesem Blog-Post beschäftige ich mich mit dem CO2-Impact von Flügen. Aber er kann auch dazu dienen, eine allgemeine Vorstellung von CO2-Auswirkungen zu bekommen.

Bild: Gellinger Pixabay

Langstreckenflüge und die 1000-Tonnen-Regel

In der Semantik gibt es bestimmte Ansätze, die die Bedeutung von Wörtern in kleinere Bestandteile zerlegen und somit komplexe Bedeutungen auf einfachere Bedeutungen zurückführen. Das Standard-Beispiel ist kill `töten´. Die Bedeutung wird mit cause(x,become(not(alive(y)))) angegeben (McCawley, 1968: 73; Katz, 1970: 244; siehe Wierzbicka, 1975 für kritische Kommentare). Die Formel kann man so lesen: x bewirkt, dass y in den Zustand des Nicht-lebendig-Seins übergeht. In diesem Blogpost beschäftige ich mich mit den Auswirkungen unseres CO2-Ausstoßes am Beispiel des Fliegens. Klar ist, dass letztendlich die Energiequellen für alles, was wir tun, umgestellt werden müssen und dass wir den Energieverbrauch insgesamt reduzieren müssen. Das heißt, dass wir an den großen politischen Stellschrauben drehen müssen. Aber das Problem ist einfach zu groß für uns Menschen, um es komplett zu verstehen und die Dimension begreifen zu können (Parncutt, 2019:11). Wie die ehemalige Bundesumweltministerin Svenja Schulze 2019 auf die Frage nach dem Restbudget an CO2 ausweichend sagte: „Unter diesen ganzen Tonnen und so kann sich doch keiner was vorstellen.“ (Mihatsch, 2019; Kontraste, ARD, 30.09.2019).

Ich suche immer nach Wegen, die Zerstörung, die wir anrichten, und die Winzigkeit des verbleibenden Rest-Budgets greifbar zu machen (siehe Zu unserem CO2-Restbudget: Car is over). Ich glaube, dass das Beispiel vom Fliegen recht anschaulich ist. Auch wird man beim Fliegen die Energieträger auf lange, lange Zeit nicht auf erneuerbare Energien umstellen können. Die Luftfahrt-Industrie geht von 2050 aus.

„Am Boden beiben“ blockiert den Flughafen Tegel. Diese Frau hält das Cover von „The Illusion of Green Flying“ hoch. Berlin, 10.11.2019, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Wie ich im Anhang zeige, erzeugt ein Flug von Berlin nach Sydney und zurück einen Ausstoß von über 2259 Tonnen CO2. 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff ergeben einen vorzeitigen klimabedingten Tod (Parncutt, 2019). 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff entsprechen 3700 Tonnen CO2, d.h. die Sydney-Reise ist equivalent zur Verbrennung von 610 Tonnen Kohlenstoff. Man kann also sagen, dass die 329 Passagiere zusammen 0,61Menschen töten. Zwei Flüge Berlin-Sydney und zurück bewirken den Tod von mehr als einem Mensch. Zu Langstrecken-Flügen direkt siehe auch Parncutt (2019: 12).

Tötung? Totschlag? Mord?

Flugpassagiere töten Menschen. Bewusst, unbewusst? Fahrlässig? Absichtlich? Ignorant? Im Folgenden möchte ich weiter über die Einordnung nachdenken. Ein Flug Berlin-Sydney bewirkt, dass ein Mensch stirbt. Wie? Ich habe jemanden getötet? Ich habe doch gar nichts gemacht, saß nur im Flugzeug. Selbst wenn man nicht direkt jemanden mit Händen oder Waffen tötet, kann eine Tötung oder fahrlässige Tötung vorliegen. Zum Beispiel ermittelte die Polizei wegen fahrlässiger Tötung, als ein Restaurantgast an einem verunreinigten Getränk starb (BR24, 13.02.2022).

Fahrlässige Tötung

Fahrlässige Tötung liegt vor, wenn die Sorgfaltspflicht verletzt wird (Wikipedia: Fahrlässigkeit). Hat man als Mensch die Pflicht, die Konsequenzen seines Handelns zu überdenken? Auch wenn alle etwas tun? Auch wenn man mit 329 Menschen gemeinsam etwas tut? Auch wenn morgen und übermorgen und überübermorgen das nächste Flugzeug fliegt? Wenn man Flugtickets normal im Internet und in Reisebüros kaufen kann? Und wenn man doch überhaupt nicht gewusst hat, wie schädlich das Fliegen ist? (Unter diesen ganzen Tonnen kann sich doch keiner etwas vorstellen!) Dieser Blog-Post will das ändern. Wer ihn gelesen hat und dennoch fliegt, tötet bewusst Menschen.

Totschlag

Einfaches Bewirken reicht für Totschlag nicht aus (Wikipedia: Totschlag). Die Tötung muss vorsätzlich geschehen.

Mord

Bei Mord müssen zusätzlich noch bestimmte Tatmerkmale vorliegen (Wikipedia, 2022: Mordmerkmale). Dazu gibt es drei Fallgruppen: 1) Niedrige Beweggründe: Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, Sonstige. 2) Verwerfliche Begehungsweise: Heimtücke, Grausamkeit, Gemeingefährliche Mittel. 3) Deliktische Zielsetzung: Ermöglichungsabsicht, Verdeckungsabsicht. Was jetzt kommt, ist nicht ganz ernst gemeint und Gerichte würden das sicher anders sehen, aber es geht darum, unser Handeln und die Gründe dafür zu reflektieren und dazu sind die folgenden Vergleiche wohl geeignet.1

Mordlust

Fliegen aus Freude am Spaß fällt wohl unter Mordlust. Ich habe zufällig einen entsprechenden Flug auf Flightradar gefunden.

Die Cessna flog von einem Flugplatz in der Pampa mal eine Runde über Berlin und dann wieder zurück. 30.03.2022: 22:24

Es war nur ein kleiner Mord im Vergleich zu einem Flug nach Sydney, aber der Flug war komplett sinnlos und diente nur zur Belustigung der Insassen.

Befriedigung des Geschlechtstriebs

Darunter fällt natürlich der Sextourismus. Zu den Reisezielen gehören Thailand, Vietnam und die Philippinen, Kuba, die Dominikanische Republik, Brasilien, Kenia, Gambia, alles Länder, die nur über Langstreckenflüge erreichbar sind.

Habgier

Das mit der Habgier ist jetzt vielleicht etwas weit hergeholt, aber darunter könnte man alle geschäftlichen Flüge zählen: Menschen, die aus beruflichen Gründen fliegen, tun das, weil Dinge sich in persönlichen Gesprächen besser besprechen lassen und das der Firma nützt oder weil sie einen Konferenzvortrag halten wollen und das der Karriere nützt. Die ganze Sache ist nicht so einfach, weil das gesamte Wissenschaftssystem so aufgebaut ist, dass internationale Kontakte, Zusammenarbeit und Projekte belohnt werden. Bis zum heutigen Tag scheint es mir für wissenschaftliche Karrieren nötig zu sein, weltweit unterwegs zu sein. Zumindest ist es von Vorteil. Diese Reisen kann man natürlich sinnvoll organisieren und auf ein Minimum begrenzen. Insgesamt müssen Flüge teurer werden und das gesamte Wissenschaftssystem muss sich ändern und wieder lokaler werden.

Heimtücke

Zu Heimtücke fällt mir nichts ein.

Grausamkeit

Es muss wohl als grausam gelten, wenn man jemanden verhungern2 lässt, wenn man jemanden in der Hitze3 4 oder Kälte5 umkommen lässt, ihn ertrinken6 7 lässt oder wenn man dafür sorgt, dass das Haus einer Person einstürzt bzw. abbrennt und diese Person ihrer Lebensgrundlagen beraubt wird. All das sind Effekte, die die menschengemachten Klimaveränderungen hervorrufen. Eine gute Übersicht und viele, viele Quellen findet sich in Parncutt, 2019. Ich habe eine Übersichtsseite mit Medienberichten zusammengestellt. Einige Videos der Tagesschau oder von reuters sind auch unten bei den Quellen verlinkt. Menschen werden an Hitze sterben (Abschätzung der Zahl der Hitzetoten: Bressler, 2021), die Hitze und Trockenheit verstärkt die Häufigkeit und Auswirkung von Waldbränden, Missernten führen zu Hungerkatastrophen, Menschen sterben in Fluten. Fluten und Brände machen Menschen obdachlos. Viele der Katastrophen passieren in weit entfernten Gegenden, so dass wir sie prima ausblenden können, aber die Dürre und die Waldbrände gibt es bereits auch in Brandenburg und die Katastrophe im Ahrtal hat gezeigt, was für verheerende Auswirkungen Starkregenereignisse hierzulande haben können.

Gemeingefährliche Mittel

Der Mord an einer Person durch einen Flug verwendet gemeingefährliche Mittel, denn die Art und Weise, wie diese Person ermordet wird, betrifft die gesamte Erde. Fliegen ist gemeingefährlich.

Ermöglichungsabsicht

Dieses Mordmerkmal liegt vor, wenn Täter*innen den Mord begehen, um dann weitere Verbrechen begehen zu können. Ein Beispiel hierfür wäre eine touristische Reise in die USA mit dem Ziel, diese dann mit einem Verbrenner-Auto zu durchfahren. (Habe ich selbst 1993 gemacht. Sorry Welt.)

Verdeckungsabsicht

Wenn man jemanden tötet, um ein Verbrechen zu verschleiern, liegt ein Mordmerkmal vor. Hierzu fällt mir auch nichts ein.

Schlussfolgerung

Es liegt natürlich kein Mord vor, aber es gibt keine Gründe für das Fliegen, die über Menschenleben gehen. Kurzstreckenflüge lassen sich meistens durch Bahn- oder Busreisen ersetzen und Langstreckenflüge sollte man einfach nicht mehr machen.

Die Moral von der Geschicht

Man tötet keine Menschen. In vielen Religionen und Wertesystemen ist das fest verankert. „Du sollst nicht töten.“ ist das fünfte Gebot der christlichen Religionen. Interessanterweise fällt bei den Katholiken auch Selbstmord unter dieses Gebot (Kathpedia: Selbstmord). Parncutt (2019: 4) schreibt zu den Opfern der Klimakatastrophe, dass „ca. 109 Reiche dabei sind, die Leben von 109 Armen vorzeitig zu beenden.“8 Die Wahrscheinlichkeit, dass die Reisenden ihren eigenen Tod bewirken, ist relativ gering, da Menschen, die Fernreisen unternehmen zu den Wohlhabenderen auch unter der Bevölkerung der wohlhabenden Länder gehören dürften. Aber selbst diese Länder sind zum Beispiel von Hitze, Waldbränden und Überflutungen mit Toten und großen materiellen Schäden betroffen, wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben (Überflutungen im Ahrtal9, Kanada, Australien, Brände in den USA, Kanada, Australien). Wenig bekannt ist auch der Hitzesommer in Europa im Jahre 2003, der zu 45.000–70.000 vorzeitigen Toden geführt hat. Zu den Details siehe Wikipedia: Hitzewelle in Europa 2003.

Die Schlussfolgerung, die auch Parncutt (2019: 12) zieht ist: „Deshalb sollte das Fliegen teurer gemacht werden (z.B. durch Kohlenstoffsteuern) und auf Notfälle und Lebensrettungsmaßnahmen beschränkt werden.10 An dieser Stelle muss auch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Deutschland das Fliegen immer noch durch das Nichterheben einer Keosinsteuer subventioniert (Wikipedia: Kerosinsteuer).

Disclaimer

Internet-Trolle freuen sich immer, wenn sie in Scoial-Media-Profilen von Aktivist*innen Bilder finden, die auf Langstreckenflüge hinweisen. Bei mir braucht niemand lange zu suchen, denn ich habe meine Flüge selbst bestens dokumentiert.

Meine Flüge auf Flightradar24.

Dienstliche und private. Siehe Ich fliege nicht mehr. Dabei habe ich 45,3 t CO2 ausgestoßen. Wegen der Höhenwirksamkeit muss man diese Menge mit einem Faktor zwischen 2 und 3 multiplizieren. Ich habe also mittels meiner Flüge ein Zehntel zur Tötung eines Menschen beigetragen. Seit 2008 fliege ich privat nicht mehr und seit 2019 auch dienstlich nicht. So wird meine Schuld hier nicht größer.

Anhang: Berechnung CO2-Impact Berlin–Sydney

Parncutt (2019: 12) hat die 1000-Tonnen-Regel auch auf Langstreckenflüge angewendet. Er schreibt dazu:

A typical passenger jet carries 300,000 l of fuel and consumes 200,000 on a long flight, creating 500 tonnes of CO2 corresponding to 135 tonnes of carbon. That is about 1/8 of 1,000 tonnes, or 1/8 of a human life, according to the 1,000-tonne rule. Aircraft also emit other GHGs, and the high altitude at which the GHGs are emitted must also be considered. If the overall warming effect is at least twice the effect of the CO2 alone (Penner et al., 1999), a future person dies for every four long flights, on average. Therefore, flying should be made more expensive (e.g. by carbon taxes) and reserved for emergencies and life-saving projects.

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. Frontiers in Psychology 10(2323). 1–17.

Im Folgenden habe ich die Berechnungen anhand von konkreten Beispielen nachvollzogen. Ich habe dafür einen Billiganbieter (Scoot) ausgesucht. Billiganbieter sind meist effizient, da ihre Maschinen voll ausgelastet werden und der Sitzplatzabstand minimal ist. Der Flug geht über Singapur und man kann diese Details bei atmosfair eingeben. Man bekommt dann für Economy-Flüge und für Business-Class-Flüge folgendes Ergebnis für die von Scoot verwendeten Flugzeuge Boeing 787-8 und 787-9.

CO2-Impact eines Economy-Fluges von Berlin nach Singapur mit Boeing 787-8
CO2-Impact eines Business-Calss-Fluges von Berlin nach Singapur mit Boeing 787-8

Scoot bestuhlt die Boeing 787-8 mit 18 Business-Class-Sitzen und 311 Economy-Sitzen (Sitzplan). Damit ergibt sich bei voll ausgelasteter Maschine ein CO2-Impact von 311 * 2,064t + 18 * 3,870t = 711,564 t für den Flug nach Singapur.

Für den Flug nach Sydney wird die größere Boeing 787-9 verwendet. Sie hat 340 Economy-Class-Sitze und 35 Business-Class-Plätze. Der CO2-Impact beträgt 1,174t bzw. 2,202t für Economy und Business-Class.

Für den gesamten Flug Singapur-Sydney sind es 340*1,174t + 35 * 2,202t = 476,23t. Die Berechnung für die gesamte Reise Berlin–Sydney ist nicht so einfach, denn in der Singapur-Sydney-Maschine sitzen auch Menschen, die nicht aus Berlin kommen, da die 787-9 ja größer ist als die 787-8.11 Rechnet man den Anteil der Berliner*innen aus, ergeben sich 417,812t. Insgesamt ergibt sich für Berlin–Sydney also ein CO2-Impact von 1129,376t. Für den Hin- und Rückflug ergeben sich 2258,752t. Diese entsprechen 610,474t Kohlenstoff.

Die 329 Menschen haben also 0,61 Menschenleben auf dem Gewissen.

Quellen

Bressler, R. Daniel. 2021. The mortality cost of carbon. nature communications 12(4467). 1–12. (doi:10.1038/s41467-021-24487-w)

dpa. 2022. Somalia steht vor einer Hungerkatastrophe. Frankfurter Allgemeine Zeitung. (https://m.faz.net/agenturmeldungen/dpa/somalia-steht-vor-einer-hungerkatastrophe-18087575.amp.html)

Katz, Jerrold J. 1970. Interpretative semantics vs. generative semantics. Foundations of Language 6(2). 220– 259.

Mihatsch, Christian. 2019. Neue Initiative German Zero: Deutschland bis 2035 klimaneutral. klimareporter°. (https://www.klimareporter.de/deutschland/germanzero-will-deutschland-klimaneutral-machen)

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. Frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

reuters. 2022. Über 300 Tote nach starken Unwettern in Südafrika. (https://www.youtube.com/watch?v=UbiNdHDLM2k)

tagesschau. 31.01.2019: Rekord-Kältewelle in weiten Teilen der USA. (https://www.youtube.com/watch?v=21aPphgfBk4)

tagesschau. 01.07.2021. Hohe Temperaturen im Nordwesten: Hunderte Hitzetote in Kanada. (https://www.tagesschau.de/ausland/hitze-kanada-103.html)

tagesschau. 21.07.2021: Starkregen in China: Mindestens 12 Menschen sterben. (https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-893071.html)

tagesschau. 11.06.2022 20 Uhr. Somalia droht Hungerkatastrophe: Dürrekrise und Folgen des Ukraine-Krieges. (https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1044713.html)

Vitense-Lukat, Nicola. 2022. Vielerorts fehlt auch Wasser: Tödliche Hitze: Fast 50 Grad in Indien. Panorama. ZDF. (Heute.) (https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/indien-hitze-klima-folgen-100.html#xtor=CS5-62)

Wierzbicka, Anna. 1975. Why “kill” does not mean “cause to die”: The semantics of action sentences. Foun­dations of Language 13(4). 491–528.

Wikipedia. 2022. Hochwasser in West- und Mitteleuropa 2021. (https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasser_in_West-_und_Mitteleuropa_2021)

Der moralische Druck der Öko-Gutmenschen ist ja wie in der DDR

Ich höre jetzt immer öfter, dass der Druck der sich ergibt, wenn man wahrnimmt, dass das eigene Handeln nicht mit den eigenen Werten kompatibel ist, und der durch FridaysForFuture verstärkt wird, mit dem sozialen Druck verglichen wird, der in der DDR aufgebaut wurde. Die Nazi-Partei AfD spielt geschickt damit und auch die Freien Wähler plakatieren gerade gegen Angstmacher.

Wahlplakat gegen die Überbringer der schlechten Nachricht. Die Besänftigung unsere kognitiven Dissonanzen ist den Freien Wählern ein Anliegen. Brandenburg 28.07.2019

Dieser Blog-Post soll zeigen, warum der Vergleich grundverkehrt ist.

Sozialer Druck in der DDR: Verpflichtung zum Militärdienst von 13jährigen

Ich gebe einfach mal ein Beispiel, wie das mit dem Druck in der DDR funktionierte und was für Konsequenzen es hatte, wenn man sich dem Druck entgegenstellte und dem Systrem verweigerte: Ich habe Mathematik geliebt, war Mitglied der Mathematischen Schülergesellschaft (MSG) und habe mich für die Matheschule Heinrich Hertz beworben. Das war 1981. Es gab zwei Bedingungen für die Aufnahme: einen 90-minütigen Test mit mathematischen Knobelaufgaben und ein einstündiges politisches Gespräch mit Mitgliedern der Schulleitung.

Der Schuldirektor Herr Ladewig, der die Aufnahmegespräche führte, hat es bis ins Stasi-Museeum geschafft.

Den Mathe-Test habe ich mit voller Punktzahl bestanden. Im Aufnahmegespräch wurde ich gefragt, ob ich den mit in das GST-Lager fahren würde und ob ich drei Jahre zur Armee gehen würde. Ich war 13 Jahre alt. Ich hatte noch nie über einen dreijährigen Wehrdienst nachgedacht, fand die Idee spontan aber scheiße. Irgendwann kam dann der Brief mit der Ablehnung.

Ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie für mich gekämpft haben. Sie haben alles nur Erdenkliche in Bewegung gesetzt. Ich bekam ein unterstützendes Schreiben von der MSG, sie haben die Verantwortliche für Bildung in Friedrichshain angerufen, den Direktor meiner POS. Es gab dann ein zweites Gespräch mit dem Direktor der POS, in dem ich erklärt habe, dass ich natürlich sehr gerne drei Jahre zur Armee gehen würde und dass das irgendwie ja schon immer mein Wunsch gewesen sei (Sarkasmus muss man markieren, oder?).

Die Hertz-Schule war fantastisch! Ich bin immer noch sehr froh, dass ich dort vier Jahre meines Lebens lernen durfte. Ich habe dort viel Mathematik, Physik und Chemie gelernt, aber das Wichtigste, was ich dort gelernt habe, ist, strukturiert zu denken. Dank dafür!

Paramilitärische Ausbildung

Was nicht so schön war, war der Druck und die politische Einflussname, die wie überall in der DDR auf SchülerInnen ausgeübt wurde. Paramilitärische Ausbildung war fester Bestandteil des Unterrichts. Ich habe gelernt, mit automatischen Waffen zu schießen (obligatorisches Wehrlager in der 9. und 11. Klasse). Im Sportunterricht ab der fünften Klasse haben wir mit Eierhandgranaten geworfen.

Eierhandgranaten, wie sie im Sportunterricht verwendet wurden, Bild DDR-Museeum, 2019

Wer nicht mitgemacht hat, war raus. Ein Schüler ein Jahr über mir war der absolute Crack. Er hätte zur internationalen Matheolympiade fahren können, wenn man ihn gelassen hätte. Er hat das GST-Lager verweigert und ist dann Schäfer geworden. Schäfer. Nach einigen Jahren konnte er dann als Systemoperator in der Akademie der Wissenschaften einen Aushilfsjob bekommen. Nach der Wende hat er studiert.

Wissenschaftlich fundiertes Weltbild

Die SED und ihre VertreterInnen haben von sich behauptet, dass sie ein wissenschaftlich fundiertes Weltbild haben. Irgendwie würde man dann annehmen, dass man darüber auch wissenschaftlich diskutieren kann. Wir hatten eine Pflichtveranstaltung, die sich FDJ-Studienjahr nannte, und einmal im Monat (?) stattfand. Bei uns hat das ein Stasi-Mann gemacht. Ich hatte im ESP-Unterricht gelernt, dass man den Kommunismus erst verwirklichen könne, wenn in allen Ländern der Sozialismus herrschte. Das war mir auch unmittelbar einleuchtend, denn sonst würden ja die Kapitalisten einfach kommen und unser Brot aufessen. Ich habe das in der Diskussion mit dem Stasi-Mann angeführt, was dann das Ergebnis hatte, dass es einen 10minütigen Vortrag vor dem Elternaktiv über mich gab (vielleicht auch vor den Genossen-Eltern, die sich immer vor dem Elternabend trafen, das weiß ich nicht mehr genau).

FDJ-Mitgliedschaft

Zum Ende der Schulzeit waren wir alle in der FDJ. Zu Beginn, gab es einen Jungen, der nicht in der FDJ war (ein Wunder, dass er es überhaupt auf die Schule geschafft hatte.1). In der 11 Klasse hat er dann einen Antrag auf Aufnahme gestellt. In der FDJ-Versammlung, in der es um seine Aufnahme ging, wurde er vom Agitator nach den Gründen für seinen Aufnahmewunsch gefragt. Die Erwartung war jetzt, dass etwas wie Weltfrieden, Klassenkampf, Einsicht käme. Seine Antwort war: „Ich möchte studieren.“ Ich habe in mich hinein gegrinst und ihn bewundert.

Verpflichtung zum dreijährigen Wehrdienst

Ich erinnere mich noch sehr gut an eine FDJ-Sitzung, in der es um den Wehrdienst ging. Der Grundwehrdienst in der DDR betrug 18 Monate. Loyale Staatsbürger verpflichteten sich für drei Jahre, ganz tolle für 4 Jahre (Offizierslaufbahn, Unterleutnant) und die tollsten für 25 Jahre. In der Sitzung saßen wir alle im Kreis und ich weiß noch, wie der Agitator mich fragte: „Und Stefan, was tust Du für den Frieden?“ Ich habe es gehasst. Einige Mädchen haben sich daran beteiligt und uns aufgefordert, drei Jahre zur Armee zu gehen. Im Neuen Leben gab es so Stories über Mädchen, die natürlich während der Armeezeit auf ihren Schatzi gewartet haben und den ganz doll moralisch unterstützt haben.

Die DDR wollte sicherstellen, dass diejenigen, die studieren, sich auch loyal zum System verhalten. Die Verpflichtung zum dreijährigen Wehrdienst war deshalb ein wichtiger Bestandteil bei der Bewerbung zum Studium. Es gab wohl auch Leute, die es ohne Verpflichtung geschafft haben, aber das wusste man nicht und das Risiko war groß: Einmal aus politischen Gründen abgelehnt bedeutete: Schäfer. Siehe oben. Alle Einrichtungen waren vernetzt. Menschen hatten Kaderakten, wenn da was drin stand, war es aus. Schäfer. Man kann sehr gut darüber im Tangospieler von Christoph Hein nachlesen. Selbst wenn Betriebe händeringend nach Arbeitskräften suchten, sie konnten die Leute nicht einstellen.

Ich war dann drei Jahre bei der Armee. Bis auf zwei Ausnahmen haben sich alle Jungs in der Klasse für drei Jahre verpflichtet. Ich habe von 18–21 über 1000 Tage meines Lebens damit verbracht, mir zu wünschen, dieser Teil meines Lebens wäre vorbei.2 Ich bin Pazifist. Ich wäre im Westen nie in eine Armee gegangen. Diese Option gab es im Osten so nicht. Es gab Bausoldaten, diese trugen Uniform und bauten Raketenstellungen. Bausoldaten konnten höchstens noch Theologie studieren. Totalverweigerung bedeutete Knast.

Das war sozialer Druck!

Moralischer Druck der Gutmenschen

Wie ist die Situation heute? Seit einem Jahr gibt es FridaysForFuture und seit einigen Jahren sind die Folgen der Klimakrise verschärft sichtbar. Je nach Filterblase beginnen die Menschen aufzuwachen. Die Ereignisse bedrohen uns. Greta Thunberg hat gesagt, wir sollten so handeln, als würde die Welt brennen. Tja, und jetzt brennt sie. Wir haben die Berichte in der Presse, im Fernsehen, in den sozialen Medien. Die Gletscher schmelzen, die Permafrostböden tauen auf. 70 Jahre vor dem erwarteten Zeitpunkt. Kipppunkte könnten erreicht werden. Um noch Schlimmeres zu vermeiden, muss der CO2-Ausstoß auf eine Tonne pro Person und Jahr gesenkt werden. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 11,61 Tonnen. 10 % der Deutschen haben einen Durchschnitt von sogar 17,7 Tonnen. Die Konsequenz ist, dass wir alles politisch mögliche fordern sollten, was eine Reduktion begünstigt, und aber auch dass wir durch Änderung unseres Verhaltens zu einer Reduktion beitragen müssen.

Das führt zu kognitiven Dissonanzen, die natürlich durch erneute Hinweise auf das Problem verstärkt werden. Vegetarier waren schon immer unangenehme Zeitgenossen. Selbst wenn sie gar nichts sagten und nur still ihren Veggie-Burger mampften. Sie waren der personifizierte Vorwurf. Das verstärkt und potenziert sich jetzt gerade: Der, der die Kollegin, den Kollegen mit dem Fahrradhelm sieht, denkt: „Oh, Mist, ich bin heute mit dem Auto gekommen. Hat ja genieselt.“ Der, der von seiner Konferenz in Tokio berichten will, denkt: „Oh, Mist, der fliegt ja gar nicht mehr. Ich halte mal lieber den Mund.“

Das alles ist schwierig, aber man kann das nicht denen anlasten, die deutlich aussprechen, dass wir als Menschheit ein Problem haben. Menschen sind gut darin, zu verdrängen. Das nennt sich Terror-Management, wie ich von den PsychologistsForFuture gelernt habe.

In der gegenwärtigen Situation dürfen wir nicht mehr verdrängen (sagen auch die PsychologistsForFuture). Wir müssen uns der Realität stellen und überlegen, was wir tun können. Jeder ein bisschen. So viel wie geht.

Schlussfolgerung

Der soziale Druck der Gutmenschen ergibt sich aus den akuten Gegebenheiten, er ist nicht – in keiner Weise – vergleichbar mit dem, was in der DDR war, denn es gibt keine negativen Auswirkungen, wenn jemand Fleisch isst oder mit dem Flugzeug durch die Gegend fliegt. Das einzige, was es gibt, ist eine kognitive Dissonanz. Und wenn es die schon mal gibt, dann ist das gut! Fürchtet Euch!