Antwort auf Kommentar von Bernward Gesang

Prof. Dr. Bernward Gesang, Wirtschaftsethiker an der Universität Mannheim, hat auf meinen Blog-Post Gesang und Mahnung: Zu einem katastrophalen Beitrag von Bernward Gesang zum Umgang mit der Klimakatastrophe geantwortet. Sein Kommentar hängt unten an dem ursprünglichen Post an. Der Kommentar macht einiges klarer. Aber nicht besser. Ich möchte den Kommentar im Folgenden wie gewohnt auseinandernehmen. Zeile für Zeile.

Sehr geehrter Herr Gesang,

Ich habe Ihren Artikel in der taz vom 20.12.2024 als einen Angriff auf mein Leben, auf das Leben meiner Kinder und auf das Leben von Milliarden anderen Menschen wahrgenommen. Das mag als Erklärung für den nachdrücklichen Stil ausreichen.

Details

Im Tja, wo anfangen? Der Artikel befasst sich ausführlich mit meinem Artikel „Kipppunkt für unseren Klimaschutz“ in der taz. Er missversteht mich im Detail und in der allgemeinen Botschaft. Das Detail und die Beleidigungen lasse ich einfach mal beiseite, obwohl es den Philosophen wurmt, dass Argumentationsfehler unterstellt werden, die er nicht widerlegen soll.

Antwort von Bernward Gesang auf meinen Blog-Post.

Gerne können wir die Details ausdiskutieren. Sie können auch einen Gastbeitrag auf meinem Blog schreiben, wenn Sie möchten. Am Umfang meines Beitrags können Sie sehen, dass ich mich intensiv mit Ihrem Artikel auseinandergesetzt habe. Wenn ich wissenschaftliche Gutachten bekomme, die zeigen, dass Reviewer 2 mich total falsch verstanden hat, dann nehme ich das als Hinweis darauf, dass in meinem Aufsatz etwas unklar, schlecht formuliert war und versuche meinen Beitrag zu verbessern.

Beleidigungen und Clowns

Ich habe meinen Post noch einmal gelesen und kann keine Beleidigung darin entdecken. Vielleicht fühlen Sie sich durch die Clownspassage beleidigt:

Herr Gesang, in einer 4,8° wärmeren Welt wird es weder für Philosoph*innen noch für Sprachwissenschaftler*innen einen Platz geben. Wir wären unnütze Esser und auch körperlich nicht in der Lage, uns durchzusetzen. Vielleicht würde einer von uns beiden am Lagerfeuer geduldet, weil er witzig ist, aber zwei Clowns braucht keiner.

Aber diese Passage soll nur die Welt nach dem Zusammenbruch der Zivilisation beschreiben. Dass die menschliche Zivilisation gefährdet ist, sagen uns nicht nur Hungerstreikende aus der Klimabewegung, sondern auch die Fakt-Checking-Organisation Scientists For Future.

Forderungen von „Hungern bis ihr ehrlich seid“. Hungerstreikcamp, Spreebogenpark, Berlin, 07.04.2024

Das ist der Forschungsstand: Die Menschen werden wahrscheinlich nicht aussterben, aber es wird wesentlich weniger von uns geben, die Lebenserwartung wird sinken und das Leben der Menschen in der sich entfaltenden Klimakatastrophe wird nichts mit dem zu tun haben, was wir kennen und schätzen. Menschen haben 2024 fast 100 Tage dafür gehungert, diese Tatsache bekannt zu machen, und die Scientists For Future haben die wissenschaftliche Korrektheit der vier Punkte bestätigt und die Psychologists For Future haben die Forderung unterstützt.

Pressekonferenz von „Hungern bis Ihr ehrlich seid“ Am 62. Tag des Hungerstreiks. vlnr: Wolfgang Metzeler-Kick, 49, Umweltingenieur, Dr. Bernhard Steinberger, Scientists 4 Future, Lea Dohm, Psychologists 4 Future, Adrian Lack, ab heute im stillen Hungerstreik, Marlen Stolze, Moderatorin, PD Dr. Susanne Koch, Scientist Rebellion und betreuende Ärztin, Michael Winter, 22. Tag im Hungerstreik, BMI von 16. Ganz rechts außen Lebenspartnerin von WMK. Links im Bild die Forderungen. Hungerstreikcamp, Invalidenpark, Berlin, 07.05.2024

Ansonsten habe ich in der Clownspassage nur die Möglichkeit erwogen, dass Sie oder ich oder wir beide für witzig gehalten werden könnten und dass wir deshalb als unnütze Esser geduldet werden könnten. Wenn Sie nicht witzig sein wollen, dann entschuldige ich mich für diese Annahme. Es könnte auch sein, dass Sie in Ihrer Freizeit ein begnadeter Handwerker, Ingenieur oder Fallensteller sind. Auch auf diese Weise könnte ich Ihnen Unrecht getan haben. Aber: Sie werden für Ihre Aufsätze kein Essen mehr bekommen und bei 48° Höchsttemperatur werden Sie auch keine Landwirtschaft mehr betreiben können. Nur zur Erinnerung in Indien fallen die Vögel jetzt schon tot vom Himmel (rnd, 22.05.2022) und in Mexiko die Brüllaffen von den Bäumen (dpa-Meldung im Stern, 23.05.2024).

Schwarzer Brüllaffe, Bild: Steve Wikimedia, CC-BY-SA, 16.06.2007

Affen sind uns übrigens biologisch sehr nah. Wenn sie in der Hitze sterben, ist das auch für uns kein gutes Zeichen. Wenn niemand mehr Philosophen bezahlt, haben sie und Sie auch keine Mittel mehr, um Klimaanlagen zu bezahlen.

Irreführende Unterüberschrift der taz

Aber persönliche Rechtfertigung bringt uns in der Sache nicht wirklich weiter. Das größte Missverständnis in der Sache wird leider durch die taz befeuert, die in den Untertiteln des Beitrags, auf die der Autor keinen Einfluss hat, dass Fazit zieht, der Klimaschutz sei nun aufzugeben. Das ist nicht meine These!

Gut! Aber warum gab es in der taz bisher keine Richtigstellung? Ihr Artikel ist am 22.12.2024 erschienen und es gab bereits empörte Leserbriefe. Wieso haben Sie keine Gegendarstellung erwirkt?1 Wieso ist das zwei Wochen nach Erscheinen in der Online-Ausgabe immer noch genau so wie zum Erscheinen?

Das Milliardenprojekt Klimarettung ist mit der Wiederwahl Donald Trumps gescheitert. Ist unser Geld in Armutsbekämpfung besser investiert?

Bernward Gesang, 2024: Unterüberschrift zum Artikel Der Kipppunkt für unseren Klimaschutz, 22.12.2024 bis mindestens 08.01.2025 online

Ihre Antwort hier im Blog ist vom 04.01.2025. Heute ist der 08.01. Warum ist die Online-Version des Beitrags unverändert?2

Dass jemand anders Ihren Beitrag so zusammengefasst hat, sollte Ihnen auch zu denken geben. Ich war durch die Unterüberschrift geprimt, aber eine taz-Mitarbeiter*in muss das ja ohne ein solches Priming als die Kernaussage Ihres Beitrags gesehen haben.

Mängel im Ausdruck, in der Logik: Welche Rolle spielt Trump überhaupt in dem Argument?

Erstens, solange empirische Studien Zweifel haben, dass der Effekt der reaktionären Politik weltweit, wirklich so verheerend ist, wie befürchtet werden kann, muss man das ernst nehmen und weiterhin empirisch beobachten, ob nicht irgendwelche, sondern wesentliche Kipppunkte ausgelöst werden.

Was meinen Sie? Warum verwenden Sie Negationen (Zweifel) und Modalverben (kann)? Und Passiv. Warum „befürchtet werden kann“? Weil es möglich ist, dass es jemanden gibt, der etwas befürchtet? Sollten wir uns nicht mit denen auseinandersetzten, die etwas befürchten? Warum „empirisch beobachten“? Was soll das bedeuten? Wie soll man denn unempirisch beobachten? Das Wort hätten Sie beide Male weglassen können. Nun ja, vielleicht sehen sie die empirische Arbeit ja im Unterschied zu Ihrer eigenen. Dann könnte ich das verstehen, aber ich gehe eben davon aus, dass wir nur emperiebasiert entscheiden sollten.

Ihr Argument im ursprünglichen Artikel und in Ihrer Antwort ist so aufgebaut:

  1. Trump wurde gewählt.
  2. Trumps Politik wird schlecht für das Klima sein (obwohl Studien sagen, dass Trumps lokaler Einfluss nur 0,04° betragen wird).
  3. Vielleicht gibt es international Nachahmer.
  4. Eventuell werden wir (wesentliche) Kipppunkte erreichen.
  5. Wenn wir diese Kipppunkte erreichen und nur dann, sollten wir anderen Klimaschutz betreiben.

Ich habe einen Energieexperten zitiert, der zeigt, dass die Energiewende im Sinne des Inflation Reduction Acts sehr weit fortgeschritten ist. So weit, dass die neue Form der Energiegewinnung nicht mehr umkehrbar ist. Wenn die „Studien Zweifel haben“, wie Sie in Ihrer Antwort schreiben, dann wäre das ja in meinem Sinne und nicht in Ihrem. Wie können Sie das als Voraussetzung in einem Argument zu Ihren Gunsten verwenden?

Erst dann sollte man erwägen, etwas zu verändern, bis dahin gilt sowieso weitermachen wie bisher. Das hatte ich am Ende des Textes klar formuliert.

OK. Wir laufen mit den aktuell geplanten Klimamaßnahmen auf 2,7° zu, wie ich oben im Blog-Beitrag erwähnt habe. Das bedeutet, dass wir ca. 1° über dem Pariser Ziel „deutlich unter 2°“ landen werden. Das bedeutet auch, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die erste Gruppe von Kipppunkten gerissen würde. Das ist der aktuelle Stand ohne Trump-Effekte. Bitte erklären Sie mir die Relevanz Ihres Debattenbeitrags: Warum finden Sie, dass dieser Artikel jetzt geschrieben werden musste? Was hat Trump damit zu tun? Ihr Punkt wäre ja dann allgemeiner: Wenn wir, warum auch immer, die (ersten, wesentlichen, whatever, …) Kipppunkte nicht halten können, sollten wir anderen Klimaschutz machen. Punkt 1–3 im oben skizzierten Argument hätten Sie also weglassen können.

Klimaschutz beibehalten oder aufgeben?

Sodann hatte ich nie gefordert, allen Klimaschutz zur Disposition zu stellen. Wäre das gefordert, fragte sich in der Tat, wie man überhaupt einen Schlusspunkt von zum Beispiel 4,5° bei der Erderwärmung erzielen kann. Ich hatte zwischen Klimaschutz orientiert an den Zielen von Paris und Klimaschutz, der diese Ziele aufgibt unterschieden. Letzteren müssen wir natürlich in jedem Fall beibehalten!

Nicht schummeln: In Ihrem Szenario waren es 4,8°. Wenn ich Sie an Ihren Text erinnern darf:

Kann man es verantworten, diese Kosten-Nutzen-Abwägung zu ignorieren? Ist es sinnvoll, auf möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeiten einen erheblichen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen zu setzen? Zwar könnten wir neben der notwendigen Anpassung an Klimaschäden noch bewirken, dass der Klimawandel, nachdem entscheidende Kipppunkte gefallen sind, bei vielleicht 4,5 statt bei 4,8 Grad Celsius gestoppt wird. Das wäre zwar auch ein „Erfolg“. Dieser Erfolg wäre jedoch mit Klimaschutzpolitik, wie sie derzeit in Europa praktiziert wird, zu teuer erkauft.

4,5 vs. 4,8°. Das ist ein Unterschied! Ein wesentlicher! Und da sind wir ja an dem Punkt, der mich so aufregt, weshalb ich auch bei meiner Einschätzung bleibe, dass Sie nie wieder etwas über das Klima schreiben sollten: Der Klimaschutz zur Erreichung der Pariser Ziele besteht aus verschiedenen Komponenten und genau diese Komponenten brauchen wir auch, wenn wir die Klimaziele gerissen haben werden.

Wenn wir aufgrund reaktionärer Politik tatsächlich Kipppunkte auslösen,

Der Move mit der reaktionären Politik ist herzallerliebst, aber in Deutschland hatten wir gerade eine Rot-Grün-Gelbe Koalition, die das Klimaschutzgesetz abgeschafft hat. Es ist nicht nur Trump, der nicht klimaadäquat handelt. Aber Sie haben Recht, diese Art Politik, die Politik der Klimaleugner*innen kann alles noch wesentlich schlimmer machen.

die uns in gefährliche Dimensionen bringen, sind die Ziele von Paris Makulatur (ob das Verfassungsgericht uns auf sie, bzw. baldige Klimaneutralität festlegt oder nicht). Der Klimaschutz, der sich an ihnen orientiert, dann auch.

Der Denkfehler, und das habe ich in meinem Blog-Post versucht klarzumachen, ist, dass nach den gescheiterten 1,7 oder 1,8° nicht 4,8° das neue Ziel oder auch nur hinnehmbar ist. Es ist dann zwar so, dass es kein offizielles Ziel mehr gibt, dem alle Staaten zugestimmt hätten, aber im Sinne des Pariser Abkommens wäre das neue Ziel dann eben bei 1,75 oder 1,85°. So sieht es auch der UN-Generalsekretär. Das Video ist in meinem Beitrag und auch hier verlinkt: Jedes Zehntelgrad zählt!

Senken: Moore und Regenwälder

Es gibt aber auch andere Modelle, zum Beispiel Klimaschutz, der verstärkt auf Schutz von Senken wie Moore und Regenwälder setzt.

Gut, aber wieso das anderer Klimaschutz als der sein soll, den wir gerade betreiben, will mir nicht ganz einleuchten. Mein Bruder arbeitet an der Wiedervernässung von Mooren bei Bremen (Bremer Bildungsmoor). Die Humboldt-Universität zu Berlin möchte bis 2030 klimaneutral werden und denkt im Zuge dessen über Senken nach (siehe Klimaschutzkonzept Klimaschutzfond, S. 90, Kooperation mit Miles for Moor der Berliner Stiftung Naturschutz). Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) fördert das Moor-Projekt MOOReturn mit 4,3 Mio Euro (Pressemitteilung, 30.12.2024).

Den kann man gut mit Armutsbekämpfung verkoppeln, indem man etwa armen Bauern im Regenwald ermöglicht, ein ausreichendes Einkommen zu haben, damit sie Regenwälder nicht an Palmölkonzerne verkaufen müssen etc.

Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mich dazu gebracht haben, diese Dokumentation über den brasilianischen Regenwald zu schauen:

Darin kann man sehen, dass die Indigenen im Wald leben, dass sie eigentlich nichts außer dem Wald brauchen. Er ernährt sie. Es wird gesagt, dass Kleinbauern am Rande des Regenwalds schlimmer sind als die großen. Aber die leben auf Land, das bereits gerodet ist. Die Rodungen sind illegal. Brandrodungen, die auch bereits wieder aufgeforstetes Gebiet betreffen. Im Film wird auch thematisiert, was mit den Produkten der Großbauern passiert: Auf gigantischen Feldern wird Soja angebaut, das dann in die EU exportiert wird und hierzulande fressen es die Viecher, die wir dann fressen. Die Kleinbauern, die vorher irgendwo, natürlich nicht im Wald gelebt haben, werden enteignet, die Indigenen werden ermordet oder vertrieben. Im Film wird erklärt, wer in Brasilien in den Parlamenten sitzt: Die Großbauern haben die Macht. Ein Brasilien-Experte hat mir versichert, dass das unabhängig davon ist, wer gerade Präsident ist. Sie schlagen in Ihrer Antwort vor, dass man versuchen sollte, die Regenwälder zu retten. Sicher sollte man das, man könnte an die im Film beschriebene Initiative Yorenka Tasorentsi spenden, damit diese Gebiete aufkaufen kann. Allerdings ist das Problem mit dem illegalen Niederbrennen dann nicht gelöst. Hier sind politische Lösungen notwendig. Zum Beispiel kann man verlangen, dass es entwaldungsfreie Lieferketten gibt. An der Umsetzung einer entsprechenden EU-Verordnung arbeitet das BMEL: Das nationale Stakeholderforum für entwaldungsfreie Lieferketten. Das ist Teil des Klimaschutzes, der jetzt betrieben wird. Teil des Klimaschutzes, der im Rahmen des Pariser Abkommens betrieben wird, wogegen Sie argumentieren. Auf der privaten Ebene kann man zum Schutz der Regenwälder beitragen, indem man einfach auf pflanzenbasierte Ernährung umsteigt. Denkt man Ihre Vorschläge weiter, so bedeuten sie, dass wir als Land oder EU das Geld, das jetzt für Klimaschutz eingesetzt wird, in Brasilien an Bauern/Indigene/NGOs spenden, die damit in großem Stil Dinge tun, die dem widersprechen, was die brasilianische Politik tut. Das ist eine merkwürdige Form von Einflussnahme, die zu diplomatischen Verwicklungen führen dürfte.

Übrigens: Es wäre toll, wenn wir die Rodung des Regenwalds verhindern könnten, aber dadurch würden China, Indien, die USA und Europa kein Gram CO2 weniger ausstoßen. Ihr Klimaschutz, Herr Gesang, würde sich darauf beschränken, dass andere es nicht noch schlimmer machen, als es jetzt schon ist, zur Reduktion würde nichts beigetragen.

Kolonialistischer Ansatz: Kompensation woanders, wir machen weiter wie bisher

Ein Muster, das sich durch Ihre Vorschläge, die ich bisher in der taz gesehen habe, durchzieht, ist: Wir sollten uns nicht selbst ändern, sondern unsere Mittel irgendwo im Süden einsetzen, denn dort ist der erreichbare Effekt größer. Das ist eine Ansicht, die, wenn man von ganz weit oben auf die Welt schaut, zwar richtig ist, aber sie ist eben auch kolonialistisch. Sie nimmt den Menschen vor Ort die Möglichkeiten, selbst etwas zu tun. Im Jahr 2020/2021 hat die Themenklasse Nachhaltigkeit der Humboldt-Universität eine gute Arbeit zum Thema Dienstreisen vorgelegt (Themenklasse Nachhaltigkeit, 2021), in der es auch um Kompensation ging. Ich habe im Blog-Beitrag Dienstliche Flüge und CO2-Kompensation darüber geschrieben und auch Ihre früheren Vorschläge (Gebärstreik als Klimaschutz-Maßnahme Kinderlos fürs Klima? taz, 18.03.2024) kommentiert.

So ein nicht an Paris orientierter Klimaschutz wird etwa in F.J. Radermacher neuem Buch „All in!“ beschrieben. Dieser geht davon aus, Klimaneutralität erst 2070 zu erreichen, weil die Welt sich de facto entschlossen habe, fossile Ressourcen weiter zu nutzen. Deren fatale Wirkung soll durch Ausbau von CCS-Techniken abgefangen werden.

Ich habe mal geguckt, was so in dem Buch steht:

Wie gehen weltweiter Wohlstand und der Schutz des Planeten Hand in Hand? Antwort: Nicht gemäß der in Deutschland verfolgten Strategien. Global betrachtet ist der deutsche »All-Electric«-Ansatz ein Irrweg, denn die Entwicklungs- und Schwellenländer werden sich nicht verbieten lassen, ihre Ressourcen für ihre wirtschaftliche Entwicklung zu nutzen. Die reichen Länder haben ihre Ressourcen schließlich auch für ihre Vormachtstellung genutzt.

Die Welt braucht ein alternatives, realistisches Energiekonzept. Derzeit kommen mehr als 80 Prozent der globalen Primärenergie aus fossilen Energieträgern. Die Alternative muss pragmatisch und technologieoffen sein: Alle geeigneten Energie-quellen nutzen! Fossile mit Carbon Capture, Erneuerbare und Nuklearenergie. Alles, was bezahlbar, klimaneutral und sicher ist. 

Verlagswerbung für Rademachers Buch „All in! Energie und Wohlstand für eine wachsende Welt“

Franz Josef Radermacher ist also vom Team Weiter-so+technologieoffen. Ich habe in meinem Blog-Post die Kosten für Energie aufgeführt. Atomenergie ist keine Option mehr. Kohle und Gas auch nicht.

Nicht, dass ich das auch fordern würde oder die gesetzten Prämissen plausibel fände, aber es ist eine Möglichkeit, den Gedanken an Klimaschutz nach Paris zu konkretisieren.

OK. Es gibt noch jemanden anders, der für Energieträger argumentiert, an denen einige wenige Menschen bzw. Firmen viel Geld verdienen können. Sie fordern das nicht und finden auch die Prämissen nicht plausibel. Aber was genau sollen wir aufgeben? Was ist zu teuer und warum? Und was würde es helfen, diese Ziele aufzugeben, wenn wir als Zivilisationen in der heutigen Form nur dann weiterbestehen können, wenn wir den Klimawandel stoppen, also klimaneutral werden, UND CO2 zurückholen. Zur Beachtung: CCS ist sehr energieintensiv. Es ist nur dann sinnvoll, CCS überhaupt zu betreiben, wenn die Rückholung mit Erneuerbaren Energien gemacht wird, denn sonst verwendet man einen Großteil der erzeugten Energie für die Rückgewinnung des CO2s. Es folgt also, dass man die Rückholung überhaupt nur für CO2 verwenden sollte, das nicht vermieden werden kann. Zum Beispiel CO2, das bei der Zementherstellung entsteht. Wobei man selbst hier vielleicht besser auf Neubau verzichten sollte bzw. in Holzbauweise bauen sollte.

Alles in allem möchte ich betonen, dass ich kein „Vordenker der Fossil-Lobby“ bin,

Das wäre dann auch eher ein NACHdenker.

sondern engagierter Klimaschützer, der sich anhand der katastrophalen neuen Gegebenheiten fragt, wie man angemessen darauf reagieren sollte. Maßstab dafür ist, wie sich am Ende die Bilanz in Form geretteter Leben darstellt.

Tja, dazu müssten Sie konkrete Vorschläge machen. Welche Flächen sollten erhalten werden? Was würde das kosten? Wie viel CO2 würde so eingespart werden?

Sie haben sich aber geweigert, diese Berechnungen anzustellen.

Natürlich wäre eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse hilfreich. Die müsste die für den Klimaschutz aufzuwendenden Kosten mit den Wahrscheinlichkeiten vergleichen, den gewünschten Effekt zu erzielen. Allerdings fürchte ich, eine solche Analyse wäre wegen der Komplexität der Materie sowieso fehlerhaft.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Weil sie komplex sind. Weil sie Fehler enthalten können. Wissen Sie, was Tausende Wissenschaftler*innen weltweit seit Jahren tun? Sie versuchen, Wege zu finden, wie wir aus dem Schlamassel noch rauskommen können, in das wir uns seit einigen Jahrzehnten sehender Augen hineinmanövriert haben. Und jetzt sagen Sie: „Hey, Mädels und Jungs, ich hab was viel Besseres, nachrechnen möchte ich nicht, aber glaubt mir: Wenn wir das Geld irgendwie so einsetzen, dann können wir viel mehr Leben retten.“

Nochmal, was ich im ursprünglichen Blog-Post gesagt habe: Wenn wir bei 2,7° sind, werden wir zwar Kipppunkte gerissen haben, aber wir können dennoch nicht aufhören, denn es gibt weitere Kipppunkte, die erst bei höheren Temperaturen gerissen werden.

Elementare Logik-Fehler

Und noch ein Kardinalfehler in Ihrer Argumentation: Wenn Ihre Form von Klimaschutz besser wäre als die gegenwärtig praktizierte (mehr Leben retten könnte), dann wäre es unsinnig, erst darauf zu warten, dass Kipppunkte gerissen werden, denn nach den Kipppunkten kommen weiter Kipppunkte. Wenn Ihre Art Klimaschutz besser wäre, dann sollten wir sofort mit Ihrer Variante beginnen. Vorher sollten wir aber sicherheitshalber noch mal nachrechnen.

Ich hatte ja oben Ihr fünfteiliges Argument bereits auf die beiden Punkte hier reduziert:

  1. Eventuell werden wir (wesentliche) Kipppunkte erreichen.
  2. Wenn wir diese Kipppunkte erreichen und nur dann, sollten wir anderen Klimaschutz betreiben.

Davon bleibt nun nur noch:

  1. Wir sollten anderen Klimaschutz betreiben.

Dafür haben Sie mit einer Zeitungsseite sehr viel Platz verbraucht. (Und zur Erinnerung: Sie hatten außer „armutsbekämpfendem Klimaschutz“ nichts zu den Details gesagt.)

Schlussfolgerung

Ich glaube, ich bleibe bei meiner Einschätzung: Sie sind entweder ein enttarntes U-Boot der Fossil-Industrie oder ein schlechter Philosoph. Sie dürfen wählen.

Quellen

Appiah-Nuamah, Maame & Berner, Richard & Gipp, Antonia & Hohmann, Theresa & Nöfer, Johannes & Pätzke, Franka & Prawitz, Hannah et al. 2021. Wissenschaftliches Reisen: THESys Humboldt-Stipendium Themenklasse Nachhaltigkeit und Globale Gerechtigkeit 2020/2021. Humboldt-Universität zu Berlin. (doi: 10.18452/23298)

dpa. 2024. Extreme Hitze: Brüllaffen fallen tot von den Bäumen. Stern. 23.05.2024. (https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/mexiko–bruellaffen-fallen-in-hitzewelle-tot-von-den-baeumen-34734688.html)

Marescot, Luc. 2023. Brasilien: Die Hüter des Waldes. Arte. (Doku HD.) (https://www.youtube.com/watch?v=03YqF_paGY8)

rnd. 2022. Temperaturen von fast 50 Grad Hitzewelle in Indien: Vögel fallen vom Himmel. RND Redaktionsnetzwerk Deutschland. (https://www.rnd.de/panorama/indien-hitzewelle-laesst-voegel-vom-himmel-fallen-2YQPKJFKUZAL5MB2SPP4YU7YTM.html)

Waack, Jonas. 2025. Ein bisschen über die CO2-Stränge schlagen. taz. 04.01.2025 Berlin. (https://www.taz.de/!6059148)


Gesang und Mahnung: Zu einem katastrophalen Beitrag von Bernward Gesang zum Umgang mit der Klimakatastrophe

Bernward Gesang

Der Professor für Wirtschaftsethik Bernward Gesang hat in der taz wieder einen Artikel veröffentlicht. In Der Kipppunkt für unseren Klimaschutz argumentiert er, dass durch die Wahl Trumps Klimaschutz der Art, wie sie im Pariser Abkommen vorgesehen ist, sinnlos wird und wir unser Geld doch lieber für „auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung“ ausgeben sollten.

Das Milliardenprojekt Klimarettung ist mit der Wiederwahl Donald Trumps gescheitert. Ist unser Geld in Armutsbekämpfung besser investiert?

Bernward Gesang, 2024: Unterüberschrift zum Artikel Der Kipppunkt für unseren Klimaschutz, 22.12.2024 bis mindestens 04.01.2025 online

Der Text ist inkonsistent, extrem schwach argumentiert und gefährlich. Jemand mit einer Professur in Philosophie hat wahrscheinlich eine viersemestrige Ausbildung in Logik und weiß, wie Argumente aufgebaut sein müssen. Jemand mit einer Professur in irgendwas muss wissen, wie man wissenschaftlich arbeitet. Jemand mit einer Professur in Wirtschaftsethik muss über Nachhaltigkeit und über Gerechtigkeit nachdenken:

Gegenstand der Wirtschaftsethik ist die Reflexion ethischer Prinzipien im Rahmen wirtschaftlichen Handelns und ihre Anwendung auf diesen Bereich. Als zentrale Werte gelten dabei Humanität, Solidarität und Verantwortung. Die Rechtfertigung wirtschaftsethischer Normen kann sich aus den Folgen wirtschaftlichen Handelns auf andere Menschen und die Umwelt ergeben oder aus der Frage, welche Normen an sich als richtig angesehen werden können. Gängige Maßstäbe für die Rechtfertigung sind soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Wikipedia-Eintrag für Wirtschaftsethik

Im Folgenden möchte ich zeigen, warum dieser Beitrag von Bernward Gesang kein seriöser und ernstzunehmender Debattenbeitrag ist und warum Bernward Gesang deshalb auch nicht in der taz (oder sonst wo) veröffentlichen können sollte. Im Rahmen der Berichterstattung über den Klimawandel und die damit einhergehenden notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen muss auf Ausgewogenheit geachtet werden. Das bedeutet aber nicht, dass es zu jedem Punkt zwei Meinungen geben muss bzw. dass jeweils zwei Meinungen in der Presse gegenübergestellt werden müssen. Die physikalischen Fakten der Klimakatastrophe sind inzwischen sehr klar und wenn man zu jeder Veröffentlichung auch eine Gegenmeinung abdrucken würde entstünde eine false balance: Falsche Behauptungen, die nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen, wäre überrepräsentiert. Für die Physik des Klimawandels ist das klar und wird in Zeitungen wie der taz auch berücksichtigt. Bei den gesellschaftswissenschaftlichen Themen muss man genauer hinschauen und fragen, ob gewisse Argumentationen sinnvoll sind. Wenn Personen wiederholt unstimmige Aufsätze abgeben, sollte man ihnen keinen Raum mehr geben.

Ich möchte im Folgenden den Artikel auseinandernehmen. Zeile für Zeile.

Der Text

Die Wiederwahl von Donald Trump birgt unbedachte Folgen.

Nein. Wir wissen, was aus der Wiederwahl Trumps folgt. Wir wissen, dass Trump von „clean coal“ gesprochen hat (Präsident Trump, 28.03.2017) und sein Slogan im Wahlkampf „Drill, baby drill!“ war (Trump, 19.07.2024). Er ist am 04.11.2020 aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen und er wird es wieder tun. Wir wissen das. Aus der taz.

Klimaschutz zu spät und erfolglos?

Gesang schreibt:

Ein energischer Green New Deal schien bisher als Lösung, indem grüne Technologien gefördert und günstiger als fossile Alternativen werden. Dies könnte, so die Hoffnung, eine politische und wirtschaftliche Aufbruchstimmung erzeugen. Um 2020 schien dies möglich, da Europa und Amerika gemeinsam grüne Technologien ausbauten. Bidens Inflation Reduction Act und europäische Maßnahmen zeigten, dass Klimaschutz als Investition in die Zukunft verstanden wurde. Doch der Erfolg blieb fraglich, da der Prozess zu spät begann.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Ach. Ach was. Über die letzten beiden Sätze kann man lange nachdenken. Es wird nicht einfacher, wenn man erst über den ersten und dann über den zweiten nachdenkt. Warum wurde die Vergangenheitsform verwendet? Wäre es nicht so besser: „Bidens Inflation Reduction Act und europäische Maßnahmen zeigen, dass Klimaschutz als Investition in die Zukunft verstanden wird. Doch der Erfolg blieb aus, da der Prozess zu spät begonnen wurde.“3 Aber selbst dann wird es nicht viel besser. „Klaus buk einen Kuchen, aber der Erfolg war fraglich, weil Klaus zu spät begann.“ Die Frage, die für die Bewertung des Satzes von BG wichtig ist, ist: Was ist Erfolg? Erfolg für Klimaschutzmaßnahmen besteht darin, dass wir es als Menschheit schaffen, klimaneutral zu leben und den CO2-Gehalt der Atmosphäre von jetzt 424 ppm auf 350 ppm zu reduzieren (IPCC-Report). Egal, wann Klaus mit dem Kuchenbacken anfängt, wenn er einen Kuchen zustandebringt, ist das großartig, denn wir können ihn dann essen und alle haben gute Laune. Es kann allerdings sein, dass Klaus rumtrödelt und sehr spät mit dem Kuchenbacken anfängt, vielleicht, weil er auf Bernward gehört hat und noch eine Weltreise eingeschoben hat. Dadurch kann es passieren, dass Klaus sehr viel mehr für das Mehl bezahlen muss, das er zum Kuchenbacken braucht. Will heißen: Es ist eine unsinnige Argumentation, daraus, dass man zu spät ist, zu folgern, dass man die Ziele aufgeben sollte. Zumal es einfache Mittel gäbe, diesen Zielen näher zu kommen. Spontan fällt mir ein Tempolimit ein und dann noch der Abbau der Subventionen für fossile Brennstoffe (66 Milliarden € pro Jahr in Deutschland). Nun könnte es natürlich sein, dass Klaus so lange mit dem Backen gewartet hat, dass es überhaupt kein Mehl mehr zu kaufen gibt (Klimakatastrophe so weit fortgeschritten, dass die menschliche Zivilisation zusammengebrochen ist). Dann macht die von Bernward Gesang vorgeschlagene Armutsbekämpfung aber auch keinen Sinn mehr, denn dann werden wir alle arm sein.

Aber ganz unabhängig von der Frage, wann der Prozess began und der verschwiemelten Formulierung: Der Erfolg ist nicht fraglich. Er ist eingetreten, wie die folgende Grafik vom Frauenhofer-Institut zeigt. Die Erneuerbaren Energien sind jetzt die billigsten. Zur Atomenergie siehe auch Quaschning (2025).

Stromgestehungskosten für Erneuerbare Energien und konventionelle Kraftwerke an Standorten in Deutschland im Jahr 2024. Spezifische Stromgestehungskosten sind mit einem minimalen und einem maximalen Wert je Technologie berücksichtigt.

Das bedeutet, dass Zubau am ökonomischsten mit Erneuerbaren Energien erfolgen wird. Seit 2023 ist es möglich, natriumbasierte Batterien herzustellen (taz, 07.02.2024). Das Natrium ist in Kochsalz enthalten und Salz gibt es wie Salz im Meer. Goldmann Sachs geht davon aus, dass die Batteriepreise sich bis 2026 halbieren werden (Goldmann Sachs, 07.10.2024). Man kann nun immer noch beklagen, dass es besser gewesen wäre, wenn diese Technologien früher zur Verfügung gestanden hätten. Das ist richtig, die deutsche Solarindustrie wurde 2012 durch CDU und FDP zerstört. Schade. Aber der Kuchen ist jetzt fertig und wir können mehr davon machen und er wird immer billiger und besser.

Auswirkungen der Trump-Präsidentschaft

Das Institut Carbon Analytics schätzt Trumps Einfluss auf das Klima jedoch als gering ein: 0,04 Grad Celsius zusätzliche Erwärmung.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Es gibt kein Institut Carbon Analytics. Carbon Analytics ist eine Firma, die Firmen hilft, ihren CO2-Ausstoß zu bilanzieren. Carbon Brief hat sich intensiv mit den Folgen einer zweiten Amtszeit von Trump beschäftigt (Carbon Brief 07.11.2024) und der Climate Action Tracker hat in seinem Bericht vom November 2024 Folgendes geschrieben:

The election of Donald Trump as President would impact the projected temperature levels that we present here, but it is uncertain to what extent. It could add 0.04°C of warming by 2100 to our current policy estimate of 2.7°C (assuming the rollback of policies is limited to the United States) to a few tenths of a degree to our optimistic scenario of 1.9°C (assuming the US net zero target is permanently removed).

Climate Action Tracker. 14.11.2024: As the climate crisis worsens, the warming outlook stagnates

Das bedeutet: Wenn Trumps negativer Einfluss auf die Klimapolitik auf die USA und auf eine Amtszeit begrenzt ist, dann betragen die Auswirkungen 0,04°, wenn das Ziel der Klimaneutralität der USA für immer aufgegeben wird, beträgt der Einfluss mehrere Zehntel-Grad. Bei diesen Abschätzungen wird davon ausgegangen, dass andere Staaten nicht Trumps Beispiel folgen und die Klimaziele aufgeben oder verwässern. Genau dafür argumentiert aber Bernward Gesang.

Die Studie geht von einer normalen Amtszeit Trumps aus und ignoriert internationale Nachahmer.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Die Behauptung, dass die Studie von einer normalen Amtszeit ausgeht, ist falsch. Wie man oben lesen kann, wird auch der Fall erwogen, dass das Ziel der Klimaneutralität für immer aufgegeben wird (mit oder ohne Trump). Richtig wäre gewesen, zu behaupten, dass der 0,04°-Wert unter der Annahme ermittelt wurde, dass Trump nur eine Amtszeit die Klimaziele der USA beeinflussen kann.

Auch der Professor für Energiesysteme und -politik Jesse D. Jenkins schätzt Trumps Zerstörungspotential gering ein, weil die Energiewende schon weit fortgeschritten ist, gerade auch in konservativen Staaten:

Texas, that paragon of conservatism, is now the undisputed king of clean energy. Factories producing batteries, EVs and solar panels are sprouting across Georgia, the Carolinas, Kentucky, Indiana, Michigan, and beyond. Clean energy is now big business, and influential companies stand to lose billions if the Inflation Reduction Act is repealed. With Republicans securing razor-thin legislative majorities, these laws could thus prove surprisingly durable.

Jenkins, Jesse F. 2024. Trump Is Not the End of the Climate Fight. The next battle begins today. Heatmap.

US-Firmen verdienen Geld im Energiesektor und werden das auch weiterhin tun wollen.

Weiter im Text:

Eine globale, reaktionäre Bewegung könnte stärker wirken als erwartet. Man muss daher wenigstens in Erwägung ziehen, dass der anstehende Rückschritt dem Klimaschutz – im Sinne der Vermeidung der Kipppunkte – das Genick brechen wird.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Man möge sich die Logik noch einmal durch den Kopf gehen lassen: Der Einfluss Trumps, wenn er lokal und temporär begrenzt handeln würde, ist vermutlich gering (0,04°). Bernward Gesang gibt diese Zahl an, sagt, dass Trump aber die Welt beeinflussen wird und dass wir uns deshalb beeinflussen lassen sollten und dass wir wenn Kipppunkte überschritten sind, den bisherigen Klimaschutz aufgeben sollten. Mind-boggling.

Kipppunkte

Aber ist die genaue Verortung der Kipppunkte nicht ungewiss? Vielleicht werden einige von ihnen durch reaktionäres Handeln doch nicht ausgelöst. Auch ist unklar, was überhaupt geschieht, wenn diese Kipppunkte wirklich ausgelöst werden.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Das geht ganz gerade in Richtung Wissenschaftsleugnung. Kann man so lesen: „Ach, irgendwie weiß es keiner so genau. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm.“ Die Kipppunkte kann man in bestimmten Temperaturbereichen verorten und man kann Wahrscheinlichkeiten für das Kippen angeben. Das ist die Übersichtskarte vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung:

Kipppunkte im Klimasystem der Erde. Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, 2023

Die einzelnen Kipppunkte, die Temperaturbereiche, in denen sie wahrscheinlich ausgelöst werden und die Folgen sind auf der Web-Seite des PIK erklärt: Kippelemente – Großrisiken im Erdsystem Aktueller Forschungsstand: Kippelemente.

Was soll uns die Äußerung mit dem reaktionären Verhalten sagen? Wir sind jetzt laut Climate Action Tracker auf einem 2,7° Pfad. Ganz ohne Trump.

Die Effekte, die durch die Schäden, die Trump anrichten wird, hinzukommen, kommen on top. Was sie genau auslösen werden, wissen wir nicht, weil wir nicht genau abschätzen können, wie stark sich Trumps Zerstörungskraft entfalten kann. Aber das ist letztendlich auch egal, denn wir müssen insgesamt klimaneutral werden und das so schnell wie möglich. „Auch ist unklar, was überhaupt geschieht, wenn diese Kipppunkte wirklich ausgelöst werden.“ Das ist Wissenschaftsleugnung. Es ist klar, was geschieht, denn das steht so auf der Karte. Beim orangenen Punkt in Südamerika steht: Absterben des Amazonas Regenwalds. Wenn dieser Kipppunkt erreicht wird, stirbt der Regenwald ab. Wenn der rote Punkt auf Grönland erreicht wird, haben wir den Grönländischen Eisschild verloren. Es sind sehr viele der sich daraus ergebenden Folgen klar. Und sie sind katastrophal. Der Klimafolgenforscher Prof. Dr. Rahmstorf schrieb schon 2016:

Die Eisschilde in Grönland und der Antarktis verlieren inzwischen jährlich eine Eismenge, die einem Mehr­fachen der Masse des Mount Everest entspricht. Die Westantarktis ist nach mehreren übereinstimmenden Studien in­zwischen bereits destabilisiert: Wahrscheinlich wurde der kritische Punkt überschritten, ab dem der komplette Verlust des Eisschilds zum Selbstläufer wird, der in den folgenden Jahrhunderten zu einem unaufhaltsamen globalen Meeresanstieg um drei Meter führen wird.

Rahmstorf 2016: Lage, Lage, Lage. Mare 118. S. 60–81. (geteilt auf Mastodon am 27.12.2024)

Das heißt, dass alle Städte und Gebiete, die an Küsten in Mündungsgebieten von Flüssen liegen, betroffen sein werden. Durch das Schmelzen der oberen Eisschichten auf Grönland kommen die Eismassen, die mit Luft in Kontakt sind, in tiefere, wärmere Bereiche, wodurch das Schmelzen schneller wird und unumkehrbar wird. Unser (Nicht-)Handeln jetzt bestimmt das Leben vieler zukünftiger Generationen. Auch wenn es irgendwann später möglich sein wird, klimaneutral zu leben und CO2 aus der Atmosphäre zurückzuholen, könnte das für einige der Kipppunkte zu spät sein. Deshalb gilt es jetzt schnell zu handeln und möglichst weit vor 2050 klimaneutral zu werden. Das hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Bernward Gesang stellt sich also der gültigen Rechtsauffassung entgegen, wenn er dafür argumentiert, „diesen Klimaschutz“ aufzugeben.

Die direkten Folgen der jeweiligen Kipppunkte sind klar. Was unklar ist, sind weitere Folgen, die sich aus der Interaktion mehrerer sich gegenseitig antreibender Klimaveränderungen ergeben können.

Ein wichtiger Punkt scheint Bernward Gesang nicht klar zu sein: Es ist nicht so, dass wenn der erste Kipppunkt erreicht ist, Klimaschutz komplett sinnlos wird. Betrachtet man die Karte oben, so sieht man, dass sich die Kipppunkte verschiedenen Temperaturbereichen zuordnen lassen.

  • 1,5–2,0°
  • 2,0–3,7°
  • 3,7–6,0°
  • > 6,0°

Die folgende Grafik aus Kornhuber et al. (2024) visualisiert die Kipppunkte sehr schön im Vergleich zu Temperaturen:

Abbildung 3: Kipppunkte im Verhältnis zur Temperatur

Auf der X-Achse sind die Temperaturen abgetragen. Die Höhe auf der Y-Achse zeigt, wie stark die globalen Auswirkungen der ausgelösten Veränderungen sein werden. Kipppunkte, die weiter unten angeordnet sind, haben global gesehen größere Auswirkungen. Die Strichellinien zeigen den Bereich, in dem ein Kippen wahrscheinlich ist. Der jeweilige Punkt markiert die Temperatur mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für ein Kippen. Die Farben sagen etwas darüber aus, wie lange es dauert, bis der ausgelöste Prozess vollzogen ist. Zum Beispiel ist das Abschmelzen des Ostantarktischen Eisschildes im Bereich von 5–10° wahrscheinlich. Am wahrscheinlichsten ist es bei 7,5°. Das Abschmelzen würde mehrere Jahrtausende dauern und hätte große globale Auswirkungen. Die im Folgenden verwendeten Daten zu den Temperaturbereichen der Kipppunkte und der Folgen, die aus dem Kippen resultieren, sind ebenfalls Kornhuber et al. (2024) entnommen.

Da wir jetzt auf einem 2,7°–Pfad sind, bedeutet das, dass, wenn wir dem Klimaschutz folgen, so wie er geplant ist, wir nicht den 3,7–6°-Bereich der ersten Abbildung erreichen und schon gar nicht den Bereich oberhalb von 6°. Der Climate Action Tracker beziffert den Komplettausstieg der USA mit einigen Zehntelgraden. Damit wären wir dann immer noch unterhalb des 3,7–6,0°-Bereichs. Wir haben erste Kipppunkte eventuell bereits erreicht: Die Korallenriffe sterben ab, der Permafrostboden beginnt zu tauen (taz, 06.12.2024) und der West-Antarktische Eisschild könnte 2024 gekippt sein (Schwanke, 19.12.2024, bei 9:00 Minuten). Das bedeutet aber nicht, dass wir jetzt den Klimaschutz aufgeben sollten oder können. Alles CO2, das wir weiter emittieren, wird dafür sorgen, dass wir in noch gefährlichere und noch unangenehmere Bereiche kommen. Es besteht also überhaupt keine Alternative als irgendwie gearteten Klimaschutz zu betreiben, der zu einer Klimaneutralität führt. Da das CO2 nicht so schnell aus der Atmosphäre verschwindet, werden wir alles, was wir jetzt emittieren, zurückholen müssen und vorher wird es eventuell weitere Schäden verursachen und Kipppunkte auslösen.

Es stimmt, Kipppunkte sind eine Blackbox, von der man aber mit hoher Wahrscheinlichkeit weiß, dass sie existieren, wo sie sich in etwa befinden und dass ein Auslösen teilweise zu unumkehrbaren Dominoeffekten führt.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Na, gerade noch mal die Kurve gekriegt, aber die Sätze davor sind in der Welt und sie richten mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden an. Herr Gesang, Sie richten mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden an. Noch mal ins Detail, so unter uns Logikern: Die Formulierung „Kipppunkte sind eine Blackbox, von der man aber mit hoher Wahrscheinlichkeit weiß, dass sie existieren“ ist in sich komplett verquirlt. von der bezieht sich auf die Blackbox, sie bezieht sich auf die Kipppunkte. Es hätte wohl heißen sollen: „Kipppunkte sind eine Blackbox, aber man weiß von ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass sie existieren.“. Aber auch das wäre falsch gewesen, denn man kann etwas wissen oder nicht, man weiß nicht etwas mit hoher Wahrscheinlichkeit („Ich weiß mit 50% Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann Klaus heißt.“ bedeutet, dass ich es weiß oder auch nicht, nicht dass ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann Klaus heißt, bei 50% liegt.) Die Wortgruppe „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ ist im falschen Teilsatz gelandet (Das Fachwort dafür ist Skopus). Es hätte also heißen müssen: „Kipppunkte sind eine Blackbox, aber man weiß von ihnen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit existieren.“ Das entspricht wohl dem, was Bernward Gesang behaupten wollte, aber das ist schlicht falsch. Man weiß, dass die Kipppunkte existieren und dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bei bestimmten Temperaturen erreicht werden. Dass sie existieren, kann man sich klarmachen, wenn man einfach überlegt, was bei 10° oder 20° Erwärmung passieren würde (6.4–9.5° entspricht der Verbrennung allen fossilen Kohlenstoffs, die durchschnittliche Erwärmung in der Arktis läge bei 14.7–19.5 °C, Tokarska et. al. 2016). Eis würde schmelzen, Wälder würden sterben. Das ist auch schon bei wesentlich geringeren Temperaturerhöhungen so und dafür gibt es Wahrscheinlichkeiten. Und Kipppunkte sind keine Blackbox. Auch dieser Satz ist sprachlich unsauber.

Das Scheitern des Pariser Abkommens

Die rechtsnationalistische Politik wird wahrscheinlich einige wesentliche Kipppunkte auslösen. Ein Scheitern des Pariser Klimaabkommens ist ernsthaft zu erwägen.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Wir können das Scheitern nicht erwägen. Das Abkommen kann scheitern. Wir können es scheitern lassen und wir können ein Scheitern-Lassen erwägen.

Natürlich kann man dagegenhalten, dass eine vorzeitige Aufgabe dieses Klimaschutzes fatale Folgen hat und deshalb zu vermeiden ist.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Wirklich! Die Formulierung: „vorzeitige Aufgabe“ suggeriert, dass es eine rechtzeitige Aufgabe gäbe. Lieber Herr Gesang: Beschäftigen Sie sich bitte mit der Klimakrise. Lesen Sie den IPCC-Report. Beschäftigen Sie sich mit den Zielen von Klimapolitik. Ich habe sie ja oben schon ausgeführt. Das Ziel ist, auf 350 ppm CO2 zu kommen, denn nur in diesem Rahmen können wir als Menschheit vernünftig leben. Wir sind zur Zeit bei 424 ppm und haben noch nicht aufgehört, CO2 auszustoßen.

Allerdings wird die Wahrscheinlichkeit, dass man diesen Klimaschutz wirklich zu früh aufgibt, immer geringer; die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Klimaschutz eine unsinnige Investition ist, hingegen immer größer.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Die Schäden, die bereits durch den Klimawandel entstanden sind und noch entstehen werden, sind gigantisch. Die Reduktion des CO2-Ausstoßes auf ein sehr geringes Maß und die Rückholung von CO2 ist alternativlos. Das Gerede von Wahrscheinlichkeiten dient wohl dazu, irgendwie wissenschaftlich zu wirken.

Bernward Gesang ist Professor an der Uni Mannheim. Ich frage mich ernsthaft, wie bei ihm Seminare ablaufen. Gibt es dort niemanden, der ihm widerspricht? Gibt es in Mannheim niemanden, der sich mit der Klimakatastrophe so gut auskennt, dass er oder sie sagen kann: Lieber Herr Professor, Sie reden gefährlichen Unsinn!

Kann man es verantworten, diese Kosten-Nutzen-Abwägung zu ignorieren? Ist es sinnvoll, auf möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeiten einen erheblichen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen zu setzen? Zwar könnten wir neben der notwendigen Anpassung an Klimaschäden noch bewirken, dass der Klimawandel, nachdem entscheidende Kipppunkte gefallen sind, bei vielleicht 4,5 statt bei 4,8 Grad Celsius gestoppt wird. Das wäre zwar auch ein „Erfolg“. Dieser Erfolg wäre jedoch mit Klimaschutzpolitik, wie sie derzeit in Europa praktiziert wird, zu teuer erkauft.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Was soll „möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeit“ bedeuten? Nehmen wir das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes. Der Kipppunkt liegt in einem Bereich von um 1–3°. Am wahrscheinlichsten ist das Kippen bei 1,5°. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Eisschild genau bei 1° oder bei genau 3° kippt, gering ist. Am höchsten ist sie bei 1,5°. Aber bei einer Temperaturerhöhung von 3,1° ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Eisschild gekippt sein wird, bei 100%, denn alle Temperaturpunkte, bei denen es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gab, sind überschritten. Der Grönländische Eisschild wird verloren sein und wir können ihm nur noch beim Schmelzen zugucken.

Die 4,5 bis 4,8° liegen genau in dem Bereich, in dem sich die zweite Gruppe Kipppunkte befindet. Bernward Gesang scheint irgendwie anzunehmen, dass wir Glück haben, dass keiner der Kipppunkte, die bei 4° liegen ausgelöst worden ist, denn wenn sie ausgelöst werden, führt das zu weiterer Erwärmung, so dass bei 4,8° nicht Schluss wäre. Wenn einige der Kipppunkte aber jeweils zum wahrscheinlichsten Punkt ausgelöst werden, bedeutet das, dass die drei Zehntelgrad genau dafür ausschlaggebend sein können, welcher Kipppunkt erreicht wird. Auch das Arkitische Winter-Meereis könnte mit geringer Wahrscheinlichkeit in diesem Bereich schon kippen (4,5–8,7°). Das würde zu einer zusätzlichen Erwärmung von 0,6° führen. Damit wäre man bei 5,4° und somit auch im Bereich, wo der Ostantarktische Eisschild betroffen sein könnte. Das Abschmelzen des Ostantarktischen Eisschildes würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 50m und zu zusätzlicher Erwärmung von 0,6° führen. Herr Gesang, wollen Sie über die Kosten-Nutzen-Abwägung noch mal nachdenken? Wir sollten also – vielleicht ohne Herrn Gesang – darum kämpfen, dass wir gerade nicht in diese zweite Gruppe von Kipppunkten hineingeraten.

In jedem Fall sind drei Zehntelgrad für die Stärke von Stürmen und Starkregenereignissen wichtig: Je mehr Energie die Stürme antreibt, desto stärker werden sie. Je wärmer es wird, desto mehr Wasser verdunstet und kommt irgendwo wieder herunter.

Und noch eine Frage: Wie glaubt Bernward Gesang denn, dass der Klimawandel bei 4,8° gestoppt wird? Wie soll das funktionieren, wenn wir nicht aufhören CO2 zu emittieren, wenn wir nicht die Erneuerbaren Energien ausbauen und unseren Lebensstil ändern? D.h. wenn wir nicht das tun, was der Inflation Reduction Act und der New Green Deal vorsehen und noch viel mehr? Und wenn wir es ohnehin machen müssen, dann können wir es auch jetzt tun. Und Milliarden Menschen unsägliches Leid ersparen.

Lieber Herr Gesang, wissen Sie, was Sie hier vorschlagen? Mit welchen Zahlen Sie spielen? 4,8°? Wir sind auf einem 2,7°-Pfad. Das ist schlimm genug. Bei den Gradangaben handelt es sich immer um globale Durchschnittswerte. Über den Landmassen ist der Temperaturzuwachs in etwa doppelt so hoch wie über den Meeren. Das bedeutet, dass es bei einem Temperaturzuwachs von 2,7° in Deutschland 5,4° wärmer wird. In Ihrem Szenario würde es 9° bzw. 9,8° wärmer werden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sehr, sehr alt werden, damit Sie noch möglichst viele Hitzesommer miterleben können. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem Sie sich fragen werden: „Was habe ich getan? Wie konnte ich jemals einen Temperaturzuwachs von 4,8° irgendwo als irgendwie mögliches Szenario besprechen?“ Bitte achten Sie darauf möglichst viel zu trinken. Dehydrierung ist wirklich sehr unangenehm. Wahrscheinlich sind Sie vermögend genug, sich eine Klimaanlage anzuschaffen, aber jeder Moment, den Sie im Freien verbringen müssen, wird Sie quälen.

Karsten Schwanke vom Meterologischen Team der ARD hat erklärt (Schwanke, 19.12.2024), was passiert, wenn wir nichts tun. Wir werden dann Ende des Jahrhunderts in Deutschland Höchsttemperaturen von 46–48° haben.

Und nur zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hat die Klimapolitik der vorigen Regierung als nicht verfassungsgemäß eingestuft. Ihr Vorschlag, den Klimaschutz aufzugeben, dürfte genauso bewertet werden.

Armutsbekämpfung

Gesang schlägt vor, statt Klimaschutz direkt in „auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung“ zu investieren:

Die Bilanz in Form geretteter Leben könnte unter Beachtung der Wahrscheinlichkeiten besser sein, wenn die für den Klimaschutz nötigen Milliardeninvestitionen direkt in die auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung fließen würden.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Was ist hiermit genau gemeint? Soll Geld verteilt werden, damit sich alle eine Klimaanlage kaufen können? Wo kommt die Energie dafür her? Ach, aus Erneuerbaren Energien? Aber war nicht der Ausbau erneuerbarer Energien genau ein Bestandteil „dieser Klimapolitik“ (Green New Deal und Inflation Reduction Act)? Die Menschen in Togo bauen keine Betonhäuser mehr, weil das sinnlos ist, weil das Meer diese in wenigen Jahren verschlingt.

fluter, 15.03.2023: Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit „Der steigende Meeresspiegel nimmt Lomé, der Hauptstadt Togos, etwa einen Meter Strand pro Jahr – und den Menschen die Lebensgrundlagen.“

Sollte man nicht die Ursachen für Katastrophen beseitigen, anstatt der Katastrophe hinterherzuräumen? Als WIRTSCHAFTSethiker sollten Sie schon mal von den gigantischen Schadenssummen gehört haben, die die Klimakrise heute schon verursacht. Bei 1,2°. Man wird den Schäden durch Anpassungen entgegenwirken können, jedoch werden die Stürme, die Regenmengen, die als Starkregen auf uns herniederstürzen, die Fluten und Überschwemmungen, wesentlich häufiger und intensiver werden. Das Artensterben wird beschleunigt, weil Arten sich nicht so schnell an die extremen Veränderungen anpassen können. Es wird Ernteausfälle geben. Herr Gesang, in einer 4,8° wärmeren Welt wird es weder für Philosoph*innen noch für Sprachwissenschaftler*innen einen Platz geben. Wir wären unnütze Esser und auch körperlich nicht in der Lage, uns durchzusetzen. Vielleicht würde einer von uns beiden am Lagerfeuer geduldet, weil er witzig ist, aber zwei Clowns braucht keiner.

Und das scheint eine sinnvolle Alternative zu sein, sowohl was staatliches wie auch privates Engagement angeht. Privat kann man, statt ein großes Auto zu erwerben, das Geld an entsprechende NGOs spenden. Natürlich wäre eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse hilfreich. Die müsste die für den Klimaschutz aufzuwendenden Kosten mit den Wahrscheinlichkeiten vergleichen, den gewünschten Effekt zu erzielen. Allerdings fürchte ich, eine solche Analyse wäre wegen der Komplexität der Materie sowieso fehlerhaft.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Hier verabschiedet sich Bernward Gesang aus dem Team Wissenschaft. Argumentation: 1) Ich habe einen absurden Vorschlag. 2) Man müsste mal nachrechnen. 3) Ach was, ist zu komplex, da wären sowieso Fehler drin. 4) Also nehmt bitte den Vorschlag aus 1.

Was wir derzeit sagen können, ist, dass wir einen erheblichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Klimaschutz im Sinne einer Orientierung an Paris aufwenden müssten und wir dafür eventuell nur noch wenig Gewinn erwarten könnten. Eventuell sind unsere Investitionen völlig umsonst und bewirken nichts Gutes.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Wieso sollen Investitionen in Klimaschutz umsonst sein? Diese Welt muss lernen, klimaneutral und ressourcenschonend zu leben. Möglichst unterhalb von 2°, aber besser bei 2,5 oder 2,7° mehr als bei 4,5 oder 4,8°. Nur so gibt es überhaupt eine Chance, in einer Form weiterzuleben, die dem ähnelt, was wir heute haben.

Daher bietet sich eine Verschiebung der Mittel hin zur am Klimaschutz orientierten Armutsbekämpfung an. Da erhalten wir fürs Geld jedenfalls einen positiven Wohlfahrtseffekt.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Hier wäre eine interessante Frage, was Bernward Gesang unter am Klimaschutz orientierter Armutsbekämpfung versteht. Man könnte die Armut in Deutschland ganz leicht bekämpfen, indem man hohe CO2-Steuern erhebt und die gesamten Einnahmen als Klimageld ausschüttet. Da Menschen mit hohem Einkommen viel mehr konsumieren und emittieren als Menschen mit niedrigen Einkommen (Otto et al. 2019), ergäbe sich so eine Umverteilung. Menschen mit niedrigen Einkommen hätten letztendlich mehr Geld zur Verfügung. Menschen mit sehr hohen Einkommen und entsprechendem Lebensstil ((Privat-)Flüge, mehrere Wohnungen, Yacht, usw. usf.) würden überproportional zur Kasse gebeten. Dadurch, dass bei armen Menschen mehr Geld zur Verfügung stünde, gäbe es gewisse Rebound-Effekte, was man dadurch abmildern kann, dass die Zuwächse in den unteren Einkommensklassen gedeckelt werden (500€–300€ pro Monat, je nach Einkommen) und das entsprechende überschüssige Geld in Klimamaßnahmen investiert würde. Das Klimageld war im Koalitionsvertrag der Ampel von 2021 vorgesehen (S. 49), wurde aber nicht umgesetzt.

Allerdings bleibt zu bedenken, dass dieses Ziel Armutsbekämpfung derzeit kaum jemand verfolgt und frei werdendes Geld am ehesten in weitere Aufrüstung fließen würde.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Was jetzt? Ich dachte, es ging darum, eine Vision zu entwickeln. Die weitere Aufrüstung wird bei mangelndem Klimaschutz auch deshalb erfolgen, weil wir die Armeen in den kommenden Klimakriegen brauchen werden. Wir werden sie brauchen, um die Klimaflüchtlinge an den Grenzen zur EU zu erschießen. Flüchtlinge, die kommen, weil wir ihnen ihre Lebensgrundlagen zerstört haben. Müsste man da als Professor für Ethik nicht irgendwie Bedenken haben? Gedanken?

Daher ist die zentrale Botschaft der neuen politischen Verhältnisse: Deutsche und europäische Klimaschutzpolitik in den bekannten Varianten ist auf den Prüfstand zu stellen! Sie kostet viel Geld, und ihre Ziele sind mit immer größer werdender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erreichbar.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Warum erreicht die Botschaft unseres UN-Generalsekretärs Bernward Gesang nicht? Antonio Guterres sagt immer wieder, dass jedes Zehntel-Grad zählt. Zum Beispiel am Ende des folgenden Videos:

UN-Generalsekretär Antonio Guterres auf der Pressekonferenz bei der Vorstellung des IPCC-Berichts. 28.02.2022

Wenn wir 1,5° nicht mehr erreichen können, dann 1,6°, wenn nicht 1,6°, dann 1,7°. Wir müssen aufhören, CO2 zu emittieren. Mit dem Aufhören aufzuhören ist keine Option.

Das ist die harte Einsicht, der wir uns nicht mehr verschließen können. Ob es wirklich erforderlich ist, den Klimaschutz in Anlehnung an Paris aufzugeben, wird uns die Empirie zeigen.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Äh?

Wenn wirklich entscheidende Kipppunkte fallen, müssen wir die Konsequenz ziehen. In den derzeitig unklaren Zeiten bleibt nur zu beobachten und auch radikale Konsequenzen als Antwort auf die Phänomene zu erwägen.

Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz

Herr Gesang! Schämen Sie sich und hören Sie auf zu veröffentlichen. Jedenfalls zum Klima.

Zusammenfassung

Bernward Gesang argumentiert dafür, den Klimaschutz, wie er im Inflation Reduction Act in den USA und im Green New Deal in der EU geplant ist bzw. durchgeführt wurde und wird, aufzugeben, wenn Kipppunkte erreicht werden, da dieser Klimaschutz seiner Meinung nach zu teuer ist und das Geld anders genutzt werden sollte. BG hat nicht verstanden, wie die Kipppunkte funktionieren. Die Kipppunkte werden bei unterschiedlichen Temperaturen überschritten. Die ersten Kipppunkte sind bereits erreicht oder wir sind kurz davor: das Absterben der Korallenriffe, das Auftauen des Permafrostbodens (taz, 06.12.2024). Das bedeutet aber nicht, dass wir den Klimaschutz aufgeben könnten/sollten. Wenn wir einfach alle fossilen Rohstoffe verbrennen würden, würden wir bei 6.4–9.5° landen. BG meint, dass es keinen großen Unterschied machen würde, wenn wir den Klimaschutz aufgäben und dann bei 4,8 statt 4,5° landen würden bzw. dass dieser Unterschied zu teuer erkauft wäre. Alternativen hat er nicht anzubieten, aber davon abgesehen liegt der Kardinalfehler in der Argumentation darin, dass BG behauptet, wir könnten die Klimawandel bei 4,8 statt 4,5° ohne Klimaschutz stoppen. Wie denn? So lange wir CO2 emittieren, werden die Temperaturen steigen. Es gibt zur Klimaneutralität und zur Rückgewinnung von CO2 aus der Atmosphäre keine Alternative. Je geringer der Temperaturanstieg, desto besser für die Menschheit.

Flood the zone with shit

Ich bin Wissenschaftler. Meine Arbeit besteht darin, Argumente anderer Wissenschaftler*innen zu durchdenken und wenn möglich zu widerlegen. Bei der Arbeit an diesem Artikel habe ich Kopfschmerzen bekommen. Nicht im übertragenen Sinn, sondern richtig echte wirklich Schmerzen im Kopf. Bernward Gesangs Beitrag ist so schlecht und unstrukturiert, dass man keine klare Linie erkennen kann. Sätze sind inkohärent. Skopus von Modifikatoren ist falsch. Es ist wirres Gefasel.

Den Bauplan für seinen Beitrag findet man auch in einem Artikel von Emily Pontecorvo:

But with progress comes a new kind of conflict: infighting. Which climate solutions are the best climate solutions? How can we implement them the right way? When should other priorities, like affordability and national security, come first, if they should at all? Are those trade-offs even real? Or are they fossil fuel propaganda?

Emily Pontecorvo. 30.12.2024. The Hottest Climate Debates of 2024. Heatmap.

Das sind genau die Punkte, die BG aufführt: Behauptung: Klimaschutz ist zu teuer (ohne wirklich Vergleiche durchzuführen) und die Militärausgaben. Das mit den Militärausgaben ist besonders auffällig, denn die passen überhaupt nicht in BGs Argumentation (BG: Klimaschutz wie bisher ist sinnlos, deshalb geben wir den Armen was, aber ach was, das Geld wird sicher ohnehin für Militär ausgegeben.) Mit Emily Pontecorvo möchte ich fragen: Sind diese Abwägungen real oder ist das nur Propaganda der Fossil-Lobby?

Dieser Aufsatz entspricht der Strategie der Desinformierer der amerikanischen Rechten: „Flood the zone with shit“ (taz, 03.11.2024). Die Auseinandersetzung mit dieser Scheiße ist aufwändig und es bleibt irgendwo immer irgendwelche Scheiße übrig. Im Falle des Artikels von Bernward Gesang bleibt: „Professor für Wirtschaftsethik findet, Klimawandel kann man eh nicht mehr verhindern. Wäre schade, wenn wir für Klimaschutzmaßnahmen unser Geld ausgäben.“ Oder in seinen eigenen Worten: „Das Milliardenprojekt Klimarettung ist mit der Wiederwahl Donald Trumps gescheitert. Ist unser Geld in Armutsbekämpfung besser investiert?“ Aber es ist nicht gescheitert, wie die Energiekosten zeigen. Und jeder weitere Dollar, jeder Euro, jeder Yen, der für Klimaschutz ausgegeben wird, hilft, milliardenfaches Leid zu verhindern (siehe Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen). Er hilft den Armen global und lokal, denn diese sind überproportional von den Folgen betroffen. Eine 4,8° wärmere Welt ist nicht erstrebenswert, aber selbst dafür müssen Alternativen zur Verbrennung fossiler Rohstoffe gefunden werden. Die Globale Erwärmung hört nicht einfach so auf, wenn wir keinen Klimaschutz betreiben. Sie würde dann erst aufhören, wenn wir alle fossilen Rohstoffe verbrannt hätten. Dann wären wir aber bei 6,4–9,5° Erwärmung (Tokarska et. al. 2016). Pläne, die in eine drei oder mehr Grad heißere Welt führen, entsprechen nicht unserer Verfassung. Die taz sollte sich an der Verbreitung von Desinformationsscheiße nicht beteiligen und Bernward Gesang nie wieder eine Bühne geben.

Gesang oder Mahnung?

Zum Jahreswechsel 2024 erschien in der taz eine Doppelseite, auf der verschiedene Autor*innen erklärt haben, wie sie es schaffen, nicht die Hoffnung zu verlieren (taz, 26,12,2024). Cornelia Schwarz schrieb: „Und wenn ich denke, dass nichts mehr hilft, hilft eines eigentlich immer: Humor. Nicht weil er mich hoffen, sondern weil er mich durchhalten lässt. Und sollte am Ende doch die Hoffnungslosigkeit siegen, dann habe ich wenigstens dabei gelacht.“ Mich schockieren die Beiträge von Bernward Gesang regelmäßig, aber ich denke dann einfach über seinen Namen nach und über den eines anderen Moralphilosophen und habe dann wieder bessere Laune. Während Prof. Dr. Bernward Gesang schon mehrfach für Party statt für anstrengende Maßnahmen argumentiert hat, ist Prof. Dr. Jürgen Manemann ein Mahner.

Prof. Jürgen Manemann, Umweltphilosoph, bei Paper-Pasting-Aktion und Blockade des Bundesverkehrsministeriums durch Scientist Rebellion, Berlin, 18.10.2022

Hört lieber auf den Manemann. Und Prof. Gesang, hören Sie lieber auf!

Danksagung

Ich danke meinen Followern auf Mastodon und Mitgliedern der Signal-Gruppe der Scientists 4 Future Berlin-Brandenburg für Diskussion.

Quellen

Jakob, Christian. 2024. Strategien gegen Fake-News: Das Dilemma der freien Rede. taz. 03.11.2024. (https://taz.de/Strategien-gegen-Fake-News/!6044579)

Goldmann Sachs. 2024. Electric vehicle battery prices are expected to fall almost 50% by 2026. (https://www.goldmansachs.com/insights/articles/electric-vehicle-battery-prices-are-expected-to-fall-almost-50-percent-by-2025)

Guterres, António. 2022. UN-Generalsekretär António Guterres: Anmerkungen zur Pressekonferenz – Vorstellung des IPCC-Berichts, Genf, 28. Februar 2022. (https://unric.org/de/ipcc280202022/)

Janzing, Bernward. 2024. Neuer Stern am Batteriehimmel. taz. 07.02.2024. Berlin. (https://www.taz.de/!5990962)

Jenkins, Jesse F. 2024. Trump Is Not the End of the Climate Fight. The next battle begins today. Heatmap. (https://heatmap.news/ideas/trump-election-climate-fight)

Kirchner, Tabea. 2024. Studie zu Kipppunkten: Klima steht schon auf der Kippe. taz. 06.12.2024. Berlin. (https://taz.de/Studie-zu-Kipppunkten/!5978474/)

Kornhuber, Kai & Klönne, Uta & Kellou, Dalia & Schleußner, Carl-Friedrich. 2024. Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem: Erkenntnisse, Risiken sowie klima- und sicherheitspolitische Relevanz. Climate Analytics gGmbH, Berlin Im Auftrag des Umweltbundesamtes. (https://climateanalytics.org/publications/kipppunkte-und-kaskadische-kippdynamiken-im-klimasystem)

Kost, Christoph & Müller, Paul & Sepúlveda Schweiger, Jael & Fluri, Verena & Thomsen, Jessica. 2024. Stromgestehungskosten Erneuerbare Energien. Freiburg: Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. (https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/publications/studies/DE2024_ISE_Studie_Stromgestehungskosten_Erneuerbare_Energien.pdf)

Mignake, Gnim Zabdiel & Jordan, Juraj. 2023. Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit. fluter / Bundeszentrale für Politische Bildung. (https://www.fluter.de/kuestenerosion-togo-klimawandel-film)

Otto, Ilona M. & Kim, Kyoung Mi & Dubrovsky, Nika & Lucht, Wolfgang. 2019. Shift the focus from the super-poor to the super-rich. Nature Climate Change 2(9). 82–84. (doi:10.1038/s41558-019-0402-3)

Quaschning, Volker. 2025. Eine Atombombe für Deutschland? 10.01.2025. (https://www.youtube.com/watch?v=0vR88n6LT_Q&t=193s)

Rahmstorf, Stefan. 2016. Lage, Lage, Lage. Mare 118. 60–81. https://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Other/rahmstorf_mare_2011.pdf

Rahmstorf, Stefan. 2022. Klima und Wetter bei 3 Grad mehr: Eine Erde, wie wir sie nicht kennen (wollen). In Wiegandt, Klaus (ed.), 3 Grad mehr: Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern (Forum Für Verantwortung), 13–30. München: Oekonom-Verlag. (http://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Klima%20und%20Wetter%20bei%203%20Grad%20mehr.pdf)

Schwanke, Karsten, 2024. Karsten Schwanke, Meteorologe ARD-Wetterkompetenzzentrum, über die Wetterextreme im Jahr 2024. 19.12.2024. tagesschau. (https://www.ardmediathek.de/video/tagesschau24/karsten-schwanke-meteorologe-ard-wetterkompetenzzentrum-ueber-die-wetterextreme-im-jahr-2024/tagesschau24/Y3JpZDovL3RhZ2Vzc2NoYXUuZGUvYjUyOTg5OTItMzFjNi00ZjJmLTk0YWQtMjE3ZThmOTIyZWJl)

Tokarska, Katarzyna B. & Gillett, Nathan P. & Weaver, Andrew J. & Arora, Vivek K. & Eby, Michael. 2016. The climate response to five trillion tonnes of carbon. Nature Climate Change (9). 851–855. (doi:10.1038/nclimate3036)

Deutschlandticket im Fernverkehr

In einem Artikel in der taz fordert Elya Maurice Conrad, dass auch der Fernverkehr mit dem Deutschlandticket nutzbar sein soll (taz, 15.12.2024). In der Woche drauf, hat die taz zwei Leserbriefe zum Artikel abgedruckt.

Gerd Bust weist darauf hin, dass auch Zugfahrten CO2 erzeugen und man nicht einfach für zusätzlichen Verkehr sorgen sollte:

Der Autor fordert: „Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket.“ Wie kann ein Grüner solch eine Subvention für mehr Verkehr fordern? Es wird so getan, als wäre Bahnfahren nicht klimarelevant. Gegenüber Fliegen ist die Bahn zwar die bessere Alternative: nur 31 Gramm Klimagase pro Personenkilometer anstatt 238 Gramm (Umweltbundesumweltamt). Das heißt aber auch: Schon 8 Bahnfahrten sind klimaschädlicher als ein gleich weiter Flug. Ein Deutschlandticket für den Fernverkehr wäre eine Förderung unnötigen Verkehrs. Solange der Strom nicht 100 Prozent klimaneutral ist, ist das nicht akzeptabel!

Gerd Brust, Köln

Das ist richtig, aber ein bisschen unambitioniert. Der Fernverkehr arbeitet mit Reservierungen. Man kann also unausgelastete Züge für das Deutsachlandticket freigeben. So könnte man drei Stunden vor Fahrtbeginn von den noch zur Verfügung stehenden Plätzen noch ein gewisses Reservekontingent für zahlende Kund*innen zurückstellen und den Rest zur Reservierung für den üblichen Reservierungspreis für Menschen mit Deutschlandticket freigeben. Für die Fahrt mit Deutschlandticket besteht Reservierungspflicht. Alle anderen mit normalen Tickets können, müssen aber nicht reservieren.

Das führt dazu, dass Züge besser ausgelastet sind, ohne dass nennenswerte Mehrkosten entstünden (mehr Reinigung). Damit würde sich der Unterschied Bahn–Flug weiter zugunsten der Bahn verschieben.

Klingt gut und richtig, aber was ist mit all denen, die gar keinen brauchbaren ÖPNV haben? Die zahlen dann und erhalten nichts. Und genau diesen Pendlern wollen sie jetzt auch noch ihre Firmenwagen teurer machen. Ist das gerecht?

Hans Dampf auf taz.de

Der Hans Dampf hat wohl zu schnell geschossen, denn für diesen Vorschlag ist die Existenz eines ÖPNV ja gerade irrelevant. Man kann, auch wenn man auf dem schlecht ausgebauten Land lebt, dann das Deutschlandticket benutzen. Einige Stunden vor der gewünschten Fahrt reserviert man den Zug, steig ins Auto und fährt zum nächsten Fernbahnhof. Dort parkt man das Auto und fährt dann gemütlich mit Sitzplatz und schneller als mit dem Auto durchs Land.

Davon abgesehen finanzieren natürlich alle Menschen ohne Auto – und davon gibt es in Städten einige – allen anderen Straßen und Autobahnen. Hans Dampfs Argument ist also auch unabhängig vom Fernverkehr ungültig.

Hölderlin und das Wetter (eine Zitatsammlung)

Diese Zusammenstellung ist aus dem Jahr 1989. Ich war damals bei der Armee. Ich habe mit Computern gearbeitet und hatte Zugriff auf einen Drucker. Es war normalerweise in der DDR nicht möglich, Drucksachen zu vervielfältigen. Da ich aber direkt über den Drucker verfügen konnte und auch ungestört war, konnte ich so viel drucken, wie ich wollte. Ich habe mit einem Freund ein Kunstprojekt gemacht: Grafiken, Gedichte und Prosa, die wir verteilt haben und ich habe auch Berichte zu Ereignissen verschriftlicht und ausgedruckt.

Das hier ist das Hölderlin-Zitat zur Zerstörung der Natur aus dem Hyperion, geschrieben 1799, und ein paar Zitate aus der Jungen Welt von 1988 und 1989, die zeigen, dass Hölderlin sich leider geirrt hat. 1988 und 1989 hatten wir es schon mit den ersten Anzeichen des Klimawandels zu tun. In der Jungen Welt lief das irgendwie unter Kuriositäten. Irgendwann haben sie gemerkt, dass es ernst war, und damit aufgehört.

Scan des Ausdrucks von Juli 1989

Hölderlin und das Wetter (eine Zitatsammlung)

„Ihr entwürdigt, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend, und ihren Herbst und ihren Frühling könnt ihr nicht vertreiben, ihren Äther, den verderbt ihr nicht.“ Hölderlin Hyperion bei Gutenberg

„ … Er war zu kalt … und zu sonnenreich. Klärchens Anfall von Arbeitswut konnte aber nicht verhindern, daß der November mit einem Monatsmittel der Lufttemperaturen von 1,5 bis 4,0 Grad Celsius ein bis zwei Grad zu kalt war …. Lagen die Tagesmittel in der ersten und dritten Dekade zeitweise bis zu zehn Grad unter den Normalwerten, gab’s in der zweiten Dekade zur Versöhnung den feucht warmen Händedruck, das heißt, bis zu elf Grad über normal. Leider setzte auch der Elfte eine Unsitte fort, die in diesem Jahr sogar zum Markenzeichen werden könnte: die Niederschlagsarmut. Seit April nun gibt man sich diesbezüglich ausgiebiger Knauserei hin. …“ Junge Welt 06. 12. 1988

Rekordkälte in Saudi-Arabien

RIYAD. Im Westen Saudi-Arabiens sind am Wochenende die niedrigsten Temperaturen seit 30 Jahren gemessen worden. Dort fiel das Quecksilber auf minus neun Grad Celsius.“, Junge Welt 09.01.1989

Wetterkapriolen

ROM. Einen `verrückten Winter‘ erlebt derzeit Italien. Während in den Alpen Schneemangel herrscht, ist die Schneedecke in den Abruzzen teilweise auf 1,50 Meter angewachsen.“ Junge Welt 01.1989

„ … dessen 2. Dekade mit vier Grad Celsius die sechstwärmste seit 1901 und der Monat insgesamt um 3,5 bis 5 Grad zu warm war. Gnaz bei den Nichtgebirgs-Wintersportlern, denen doch tatsächlich nur an einem Tag Schneefall vergönnt war (normal sind zehn Tage); Galgenhumor bei den vielen Karikaturisten, die angesichts des Überangebots an Sonnenschein – die Monatssumme betrug 40 bis 145 Stunden, also 85 bis 230 Prozent der normalen Jahressumme – das Thema hatten. Und das alles bei einem Manko an Feuchtigkeit, denn stellenweise 5 bis 25 Millimeter Niederschlag sind viel zu wenig.“ JW 03.02.1989

Regen in Rom

ROM. Regen beendete am Mittwoch eine fast dreimonatige Trockenperiode in Norditalien, die als die Schlimmste seit 50 Jahren gilt. “ JW 24. 02.1989

„3 bis 5 Grad Celsius war der Februar in der DDR zu warm. Er hat damit allerbeste Aussichten, in die Top-Five dieses Jahrhunderts zu stoßen. Die Tagesmittel lagen stellenweise bis zu 12 Grad über den Normalwerten, und am 19. herrschte mit einem Schnitt von 10,5 Grad eine Qualität, die man in der Regel zur Mai-Demo erwarten darf. Der anhaltende Hochdruckeinfluß sorgte dafür, daß die Niederschlagswerte weiterhin in den roten Zahlen hängen. Nach diesem schneearmen Winter beträgt das Niederschlagsdefiziet in der Republik 80 bis 120 Liter Wasser je Quadratmeter …. am 26. wurde in Potsdam der tiefste Luftdruckwert seit Beginn der Messungen 1893 registriert: 965,0 Hektopascal, normal für Februar sind 1010,0.“ JW 03.03.1989

Einer der mildesten Winter der letzten 100 Jahre

Berlin (ADN/JW)
Der zurückliegende Winter war mit Abweichungen von drei bis vier Grad Celsius von den langjährigen Mitteltemperaturen in der DDR einer der mildesten der vergangenen 100 Jahre. Das erklärte der Präsident der Meterologischen Gesellschaft der DDR, Prof. Dr. Karl-Heinz Bernhardt, in einem ADN-Gespräch. Die von vielen Bürgern gestellte Frage, ob es sich dabei bereits um eine Folge des Treibhauseffekts handelt, sei jedoch zu verneinen. Die hohen Temperaturen hätten ihre Ursache in Besonderheiten der Zirkulationsprozesse der Atmosphäre gehabt.“ JW 21.03.1989

März ’89 gehört zu den wärmsten dieses Jahrhunderts. Bei Sonnenschein lagen die Tagesmitteltemperaturen bis zu zehn Grad über den Normalwerten für diese Jahreszeit, bei einem Durchschnitt von 5,5 bis 7,5 Grad war der erste Frühlingsmonat stellenweise um 4,5 Grad zu warm. Mit 22,S Grad wurde da (28. März S.M.) in Potsdam der höchste Wert seit 1901 gemessen. Nicht ganz so elogenhaft kann man an die Beurteilung der Niederschlagsmengen gehen. Verbreitet 20 bis 45 Millimeter sind für den März zu wenig. Die schon seit Jahresbeginn anhaltende milde Witterung hat der Natur ohnehin einen Wachstumsvorsprung von rund vier Wochen verschafft.“ JW 05.04.89

Dürre in Frankreich
PARIS. Die schwerste Dürre seit 40 Jahren herrscht derzeit in Südwestfrankreich. Viele Flüsse führen nur die Hälfte der in dieser Jahreszeit üblichen Wassermenge.“,JW l7.04.1989

„Ein Paukenschlag nach dem anderen: 330 Stunden Sonnenschein statt der normalen
221 Stunden – Jahrhundertrekord! Fünf Sommertage mit mehr als 25 Grad, normal sind zwei! 15 Grad Durchschnittstemperatur, zwei Grad über Plan! … statt der üblichen 13 Regentage gab’s nur vier, was zum zweittrockensten Mai seit 1908 führte.“ JW 02.06.1989

Hitze und Kälte in Italien
ROM. Extreme Temperaturschwankungen, wolkenbruchartige Niederschläge mit Gewittern und Schneefällen in Höhen von über 2000 m kennzeichnen eine ungewöhnliche Wettersituation.“ JW 06.07.1989

Stefan Müller 12.07.1989

Scan des Ausdrucks von Juli 1989

Nachtrag

Nick Reimer fasst die aktuelle Lage 2024 in einem Jahresrückblick Fluten, Feuer und schmelzendes Eis zusammen: Die Wälder sterben oder brennen. Sie sind zu CO2-Emittenten geworden. Alles schmilzt.

Wir versuchen die Autoindustrie zu retten.

Eine verwirrte Rose blüht verzweifelt. Allein. Ohne Blätter. Zum Winteranfang.

Eine verwirrte Rose blüht verzweifelt. Winteranfang. Berlin, 21.12.2024

Quellen

Reimer, Nick. 2024. Fluten, Feuer und schmelzendes Eis. taz 23.12.2024. (https://www.taz.de/!6055410)

taz-Reisen auf dem persönlichen Level

Lieber Herr Hartmann,

Vor nun fünf Monaten, Mitte April 2024, habe ich auf Mastodon einen Thread begonnen und der taz einen Brief geschrieben. Die ganzseitige Werbung für Flugreisen, mehrmals in der Woche, konnte ich einfach nicht mehr ertragen. Der Gipfel war die Werbung für eine Flugreise nach Togo, mit der man mit Menschen vor Ort über die Gründe für ihren Migrationswunsch reden konnte.

Anzeige für Reise nach Togo in der taz vom 18?.04.2024

Jeder, der das möchte, kann sich über die Gründe für Migrationswünsche bei der Bundeszentrale für Politische Bildung informieren und dieses kurze Video über Klimawandel und Togo ansehen:

fluter, 15.03.2023: Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit „Der steigende Meeresspiegel nimmt Lomé, der Hauptstadt Togos, etwa einen Meter Strand pro Jahr – und den Menschen die Lebensgrundlagen.“

Wenn Sie behaupten, ein Besuch vor Ort wäre nötig, um die Katastrophe zu verstehen, dann stellen Sie taz-Leser*innen in Bezug auf ihre Empathiefähigkeit und ihren Intellekt ein Armutszeugnis aus. Ich fühle mich durch dieses Argument beleidigt. Ein taz-Leser merkte im Leserbrief an: Man würde ja auch nicht nach Gaza fliegen, um dort den Krieg und das Leid zu verstehen (taz, 10.08.2024). Nein, das müssen wir nicht. Wir haben eine gute Zeitung, die uns informiert.

Am 30.04. haben wir miteinander telefoniert. Ich habe danach auf Mastodon geschrieben:

Es ist immer blöd, wenn man die netten Menschen, die so was organisieren, persönlich kennenlernt. Dann kann man nicht mehr so gut ranten. =:-) Aber ich finde das mit den Flugreisen immer noch falsch.

Tröt auf Mastodon, 30.04.2024

Ihre Argumente für das Fliegen fand ich damals nicht überzeugend. Die Leserbriefredaktion hatte meinen Brief ins Haus weitergeleitet. Ich hatte die Unterstützung von 20 Personen versprochen, die neue Genossenschaftsanteil von jeweils 500€ für insgesamt 10.000€ erwerben, wenn die taz die Flugreisen einstellt. Auf diesen Brief bekam ich nie eine offizielle Antwort. Die Werbung für Flugreisen ging weiter. In hoher Frequenz. Mal ganzseitig, mal als Lückenfüller.

Werbung in der taz für eine Flugreise nach Saudi-Arabien, 24?.04.2024

Am 21.06.2024 habe ich dann einen nachdrücklichen Brief an die Chefredakteurin Ulrike Winkelmann, die Ökoredakteur*innen und die Leitung der taz-Genossenschaft geschrieben. Da es mit Genossenschaftsanteilen (Zuneigung) nicht geklappt hatte, wollte ich es mit dem Entzug der Zuneigung probieren: Reduktion politischer Abos, Kündigung von Genossenschaftsanteilen. Und zwar nicht nur durch mich, sondern durch mein gesamtes Netzwerk (Mastodon-Follower und Bekannte von Scientists4Future). Da die taz-Klima/Wirtschaftsredaktion den Flugreisen auch skeptisch gegenübersteht, kam es dann zum Gespräch mit Christian Jakob, dem Organisator der Togo-Reise und mir, das auch in Auszügen in der taz abgedruckt wurde (taz, 03.08.2024).

Die Genossenschaft hatte sich nie bei mir gemeldet und ich habe erst bei dem Gespräch in der taz erfahren, dass ich als Genossenschaftler eine Möglichkeit habe, Dinge wie die taz-Reisen zu beeinflussen. Ich habe also direkt nach dem Gespräch einen entsprechenden Antrag gestellt.

Am 14.09. fand die Genossenschaftsversammlung statt und Sie haben mich auf einem persönlichen Level angegriffen. Ich möchte Ihnen also auf einem persönlichen Level antworten. Gnadenlos.

Ich wurde gefragt, ob denn eine solche Antwort noch nötig sei, da die Abstimmung ja gewonnen wurde. 54,4% (339 Personen) der abstimmenden taz-Genossinnen waren für ein Ende der Flugreisen, 37,4% waren für das Weiterführen (233 Personen) und 8,2% haben sich enthalten (51 Personen). Dieser Brief richtet sich also nicht nur an Sie, sondern auch an die Personen, die Ihrer Argumentation gefolgt sind bzw. sich enthalten haben (284 Personen).

Ad-hominem Argumente und das persönliche Level

In der Diskussion meines Antrags auf Einstellung der Flugreisen haben Sie Folgendes gesagt:

Ich halte den Ansatz von Stefan Müller aber auch für falsch, er wird der Komplexität der Problematik nicht gerecht, er dient vor allem der eigenen Bestätigung, dass man etwas macht und auf der richtigen Seite steht.

Thomas Hartmann in der taz-Genossenschaftversammlung am 14.09.2024 zum Thema Flugreisen

Das ist eine so genantes ad-hominem-Argument. Diese richten sich gegen Personen anstatt auf der Sachebene zu argumentieren und sind in wissenschaftlichen Argumentationen unzulässig.

Wikipedia stellt die abstrakte Form solcher Argumente wie folgt dar:

Schlussschema bei ad-hominem-Argumenten nach Wikipedia

Die zweite Prämisse ist für den Schluss irrelevant, weshalb das Schema kein gültiges Schlussschema ist. In der Politik ist es mitunter wichtig, zu schauen, wer spricht. Wenn jemand für die Verbreitung von Unwahrheiten bekannt ist, kann das für die Einordnung von Aussagen wichtig sein. Sie haben mir nun vorgeworfen, dass mein Handeln „der eigenen Bestätigung, dass man etwas macht und auf der richtigen Seite steht“ dient. Das wäre so ähnlich wie „selbstsüchtig“ im obigen Schema. Dazu gleich mehr. Aber nehmen wir mal an, ich würde in der Fahrradbranche arbeiten und hätte ein Eigeninteresse daran, dass keine Flugreisen mehr angeboten werden und die Menschen statt dessen mehr Fahrrad fahren würden. Selbst dann würden meine Argumente nicht falsch werden. Solche ad-hominem-Argumente sind BILD-Zeitungsniveau und für einen ehemaligen Chefredakteur der taz nicht angemessen.

Davon abgesehen geht dieses ad-hominem-Argument total nach hinten los, denn Sie haben damit, dass Sie mir unterstellt haben, dass mein Antrieb wäre, etwas zu tun, um auf der richtigen Seite zu stehen, zugegeben, dass Sie auf der falschen Seite stehen.

Nun ja. Nun also weiter auf der persönlichen Ebene.

Sie kennen mich nicht und unterstellen mir dennoch blinden Aktionismus aus Wohlfühlgründen. Sie hätten etwas über mich aus dem taz-Gespräch erfahren können oder aus anderen öffentlich zugänglichen Quellen. Sie behaupten, dass ich nicht genügend über die Notwendigkeit von Flügen nachgedacht hätte:

Es fehlt die Reflexion, welche Flüge sind erforderlich.

Thomas Hartmann, 14.09.2024 zum Thema Flugreisen

Ich habe in meinem Beitrag vor Ihnen auf der Genossenschaftsversammlung und auch im Streitgespräch, das in der taz veröffentlicht wurde, beispielhaft Reisen aufgezählt, die ich für unnötig halte. Oben ist die Reise nach Togo bereits erwähnt und für ein neues Kleid und eine Kunstausstellung nach Dakar? (Beschreibung der Dakar-Reise)

Von der taz organisierte Reise nach Dakar zur Kunstausstellung. Mit Programmpunkt Kleid schneidern lassen.

Nein, lieber Herr Hartmann, das geht nicht. Ist schwer vermittelbar. Ich kann nicht sehen, warum eine solche Reise notwendig ist und wie man die entstehenden Schäden rechtfertigen kann.

Wenn Sie sich ein bisschen umgeschaut hätten, wüssten Sie, dass ich mich intensiv mit dem Thema Fliegen auseinandersetze. Ich bin in der Klimagruppe der Humboldt-Universität. Das ist eine Gruppe, die gemeinsam mit zwei Klimamanager*innen das Klimakonzept der Humboldt-Universität ausgearbeitet hat. Das Ziel der HU ist es, bis 2030 klimaneutral zu werden (Klimakonzept der HU). Ein großer Anteil des CO2-Ausstoßes kommt aus dem Bereich Mobilität (29% bei der HU). Davon ist ein großer Bereich von den Dienstreisen und von den Dienstreisen entfallen 95% auf die Flugreisen (Klimakonzept, S. 47). Das Ziel der Humboldt-Universität ist es deshalb, Flugreisen auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu gehört unbedingt die Frage nach der Notwendigkeit von dienstlichen Flugreisen. Ich habe sehr genau darüber nachgedacht, wie man das akademische System umorganisieren kann, so dass Flüge vermeidbar werden. Ich habe mich bereits vor Corona dafür eingesetzt, dass eine online-Teilnahme bei Konferenzen möglich ist. Wir haben bereits 2012 Workshops mit Skype durchgeführt. Ich bin in der Arbeitsgruppe der HU, die sich mit den Flugreisen beschäftigt. Man kann also sagen, dass ich mich hauptberuflich damit beschäftige, Flugreisen zu reduzieren, während Sie Werbung für touristische Flugreisen machen und sie damit normalisieren. Das ist umso schlimmer, als die taz fast komplett werbefrei ist. Es gibt regelmäßig Werbung für den Bundestalk, für den taz-Shop, die taz-Reisen und ab und zu für die Bundeswehr (SCNR. Das bedeutet „sorry could not resist“. (SCNR)).

Ich bin seit 2019 bei den Scientists for Future in Arbeitsgruppen zu Flugverkehr tätig und habe zum Beispiel für den freiwilligen Verzicht auf Kurzstreckenflüge geworben. Die entsprechende Kampagne für Berlin/Brandenburg lief 2019 und war sehr erfolgreich (Pressespiegel zur Selbstverpflichtung).

Verkündung der Ergebnisse der Selbstverpflichtungsaktion gegen Kurzstreckenflüge beim globalem Klimastreik von Fridays for Future am Brandenburger Tor, Berlin, 20.09.2019, Bild: © Melanie Quilitz, HU

Wir haben die Selbstverpflichtungsaktion 2020 auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt (unter1000.scientist4future.org) und über 4000 Personen haben unterschrieben, aber das hatte sich dann mit Corona erledigt. Im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten habe ich mich intensivst mit Flugreisen beschäftigt. Wenn man abwägen will, muss man die Schäden kennen. Man kann diese in Geld ausrechnen, wie es das Umweltbundesamt tut, oder aber die Menschenleben abschätzen, die unser Konsum fordert. Die Abschätzung der Todesopfer hat Parncutt (2019) geliefert. Er schätzt, dass pro 1000 Tonnen verbranntem Kohlenstoff ein Mensch klimawandelbedingt stirbt. Diese Zahlen habe ich in meiner „Erpressungsmail“ zitiert. Sie wurden in Antwortmails von verschiedenen Personen angezweifelt und die taz hat sie in keinem Beitrag erwähnt und auch die Passagen des 75-minütigen Gesprächs in der taz, die sich auf die Abschätzungen von Parncutt bezogen haben, kamen in der Veröffentlichung des Gesprächs nicht vor (was man niemandem vorwerfen kann, weil nur eine Seite zur Verfügung stand). Ich habe basierend auf den Überlegungen von Parncutt ausgerechnet, dass ein voll besetzter Flug von Berlin nach Sydney (beide Richtungen, 329 Personen) 0,61 Menschen tötet (siehe Blogpost). Zwei solche Australienreisen würden also mehr als einen Menschen töten. Es wurde behauptet, dass Parncutts Abschätzungen und folglich meine Berechnungen um Größenordnungen falsch liegen. Dazu wurden Zahlen von Bishen & Glick, Sam (2024) herangezogen. Die Autoren haben ihre Studie für das Weltwirtschaftsforum erstellt. Das ist ein konservativer Thinktank, nicht für Panikmache bekannt. Das Interessante ist nun, dass diese Abschätzung der Todesfolgen von CO2-Ausstoß genau in der selben Größenordnung liegt wie Parncutt (2019). Man kann das sehen, wenn man einige Rechenfehler meiner Kritiker behebt (siehe Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen vom 17.08.2024). Wichtig ist, dass Bishen & Glick einige Punkte überhaupt nicht berücksichtigen, die aber in den kommenden Jahren weiter zum klimabedingten Sterben beitragen werden (siehe Unberücksichtigte Todesursachen: Kriege, Krankheiten durch invasive Arten wie die Tiegermücke). Das bedeutet, dass das Weltwirtschaftsforum die Folgen, die insgesamt entstehen werden, als noch gravierender einschätzt als Parncutt und somit ich.

So viel zur angeblich fehlenden Reflexion. Die konkret angebotenen Reisen habe ich mir angesehen. Ich konnte bei der Flugreise nach Dakar (Kunstausstellung und maßgeschneidertes Kleid), nach Togo usw. keinen Grund für die Reisen finden, der die Umweltschäden rechtfertigen würde.

Es folgen nun drei Teile: der Anfang, die Mitte und das Ende. Sie beziehen sich alle drei auf Ihr Leben. Der Mittlere hat mit Ihrer gegenwärtigen Argumentation zu tun.

Der Anfang: Linksradikal

Sie haben 1977 die taz mitgegründet und waren ihr erster Chefredakteur. Damals stand im Kopf der taz noch, dass es sich um eine linke radikale Tageszeitung handelte.

Die taz-Gründerinnen haben die taz für einen Tag übernommen. Siehe taz, 14.05.2018

Ich war zum Zeitpunkt der taz-Gründung neun Jahre alt. Die taz konnte man da, wo ich wohnte, nicht lesen. Ich hätte mit neun eh noch nichts damit anfangen können. In den 80ern habe ich – wahrscheinlich im SFB – Interviews mit euphorisierten Menschen gehört, nachdem es die ersten Wahlerfolge der Grün-Alternativen-Liste gab. Ich habe geahnt, dass etwas Großartiges, etwas Wichtiges passiert war. Ströbele war dabei. Nach der Wende habe ich, sobald es mir möglich war, die Ost-taz gelesen und später dann die West-taz. Ich habe den politischen Preis gezahlt und als ich eigenes Geld verdient habe, mehrere Genossenschaftsanteile gezeichnet (damals gab es öfter Rettet-die-taz-Kampagnen).

Sie haben eine linke radikale Zeitung gegründet, aber Ihre heutige Argumentation ist feinster Neoliberalismus, Vorbilder, auf die Sie verweisen, vertreten neoliberale Positionen und argumentieren in der taz für schwarz-grüne Positionen und Regierungen. Dazu im Detail gleich mehr. Zuerst möchte ich Ihnen zeigen, was Linksradikale heute machen. Sie sind Teil der Klimabewegung. Sie sind wahrscheinlich ein kleiner Teil, denn die Mehrheit der Menschen in der Klimabewegung, sind wohl nicht linksradikal, aber links sein, ohne Klima mitzudenken, funktioniert eben nicht.

Linksradikale waren in Lützerath, sie waren in der Leinemasch in Hannover und sie waren bei Solidaritätsveranstaltungen für die Letzte Generation in Berlin.

Tadzio Müller bei Demonstration gegen die Räumung von Lützerath für den Braunkohleabbau, rechts daneben Michael Zobel, Keyenberg, 14.01.2023
Aktivisten blockieren von der Polizei neu gebaute Zufahrtsstraße nach Lützerath, 06.01.2023
Pause in Tümpeltown. Baumbesetzer*innen in der Leinemasch, Hannover, 14.01.2024

Ich weiß nicht, ob ich hier jemandem auf den Bildern Unrecht tue und er gar kein Linksradikaler ist, ich habe die entsprechenden Personen nicht unmaskiert gesehen und nicht im Detail mit ihnen über ihre Positionen gesprochen. Aber bei Tadzio Müller ist die Sache klar: Er schreibt es ja selbst an sich dran.

Leander Grasmeier von der Letzten Generation spricht auf Solidemo für Letzte Generation. Rechts daneben Tadzio Müller mit T-Shirt, auf dem steht: „Homosexueller Linksextremist“. Alexanderplatz, Berlin, 23.04.2023
Vertreterin der Interventionistischen Linken spricht bei Solidemo für Letzte Generation. Rechts unscharf Tadzio Müller. Berlin, Alexanderplatz, 23.04.2023

Und in der Nähe der Fabrik von Tesla kämpfen Linksradikale in einem Wasserschutzgebiet für den Klimaschutz.

Baumhäuser im besetztem Wald in Grünheide bei „Tesla den Hahn abdrehen“. Auf den Transparenten steht: „Water is a human right!“ / „Klimaschutz ist kein Verbrechen!“. Berlin, 21.03.2024

Und ich möchte Ihnen noch zwei weitere Bilder zeigen. Sie haben mit Neokolonialismus zu tun. Das erste Bild zeigt eine Aktion von Debt4Climate. Die Betonblöcke symbolisieren die Schulden des Globalen Südens im Vergleich zu den Klimaschulden, die der Norden angehäuft hat.

Lukas Hufert von Debt4Climate spricht vor dem Finanzministerium zwischen zwei Betonblöcken, die die Schulden des Südens und des Nordens vergleichen. Die Schulden des Nordens sind 10 Mal so groß, wie die des Südens, weshalb die Aktivist*innen einen Schuldenerlass fordern. Platz des Volksaufstands von 1953, Berlin, 12.10.2023

Das zweite Bild zeigt ein Banner-Drop von Extinction Rebellion in Gedenken an die Ogoni Nine.

Aktivist*innen von Extinction Rebellion beim Banner Drop (Shell to hell / Ogoni people are not forgotten) für die Ogoni Nine, die mit 700.000 Ogoni gegen Shell protestiert hatten und am 10.11.1995 nach einem dubiosen Gerichtsprozess gehängt wurden. Links unten 8 Kreuze für Mauertote. Berlin, 10.11.2023

Das waren Umweltaktivisten in Nigeria, die von Shell ermordet worden sind. Dafür, dass das Öl für uns weiter sprudeln kann. Es ist also nicht nur so, dass unser Konsum Menschen in der Zukunft tötet, nein, für unsren Konsum wurden auch in der Vergangenheit schon Menschen getötet.

Und weil wir gerade dabei sind, möchte ich sie darauf hinweisen, wie der Dienstleister arbeitet, über den die taz-Reisen die Kompensation abwickelt, die sie für zwei von den vielen Reisen leisten. Atmosfair kompensiert ausschließlich über Projekte im globalen Süden.

Kompensationsprojekte von Atmosfair 2024. Bis auf das Weiterbildungsprojekt sind alle Projekte im Globalen Süden angesiedelt.

Das liegt daran, dass diese Projekte billiger sind als andere Projekte mit gleichem Effekt. Eine neo-kolonialisitische Herangehensweise. Für die Details und andere Probleme bei der Kompensation verweise ich auf einen Bericht der Themenklasse Nachhaltigkeit der Humboldt Universität zu Flugreisen und Kompensation.

Von Positionen der Linksradikalen oder radikalen Linken, ja was das Fliegen angeht, sogar von linken Positionen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, sind Sie weit entfernt. Ihre Argumentationsweise fällt eher unter neoliberal.

Die Mitte: Neoliberal

Sie haben in Ihrer Rede zu den taz-Genoss*innen gesagt:

Nicht Verbote werden das Verhalten ändern, sondern ein verantwortlicher Umgang mit dem ökologischen Fußabdruck. Da ist sicherlich noch Sensibilisierungsarbeit angetan.

Thomas Hartmann in der taz-Genossenschaftversammlung am 14.09.2024 zum Thema Flugreisen

Das kommt aus der taz? Nach fünf Jahren Fridays for Future, Scientist for Future, Extinction Rebellion, Scientist Rebellion, Letzte Generation?

Natürlich sind individuelle Verhaltensänderungen wichtig und der individuelle Fußabdruck kann Einzelpersonen einen Eindruck vermitteln, wo sie gerade stehen (siehe Warum individuelle Verhaltensänderungen wichtig sind). Aber letztendlich wird das Konzept des CO2-Fußabdrucks von Ölfirmen dazu benutzt, von strukturellen Problemen abzulenken. (Diese Nutzung geht auf British Petrol zurück.) Und genau das wird jetzt von einem tazler vertreten? Mir zeigt das, dass Sie ganz, ganz weit entfernt von Klimagerechtigkeitsfragen sind. Aber das muss wohl so sein, wenn man Flugreisen organisiert. Es zeigt auch, dass Sie nicht gut vorbereitet waren, denn den Fußabdruck hatte ich im taz-Gespräch angesprochen.

Müller: Bei denen geht es mir nicht nur um den CO2-Fußabdruck der einzelnen Reisenden, sondern auch um die Außenwirkung des ganzen Projekts. Sie bewerben Flugreisen mit Ihrer guten taz-Marke und vermitteln, es sei schon okay, nach Marokko oder nach Togo zu fliegen. Man unterscheidet ja den CO2-Fußabdruck, also die anfallenden CO2-Emissionen, und den CO2-Handabdruck. Das ist die positive Wirkung, die man erzielt, wenn man andere Leute oder besser noch ganze Organisationen oder Regierungen dazu bringt, ihren Fußabdruck zu senken. Aber was die taz mit den Reiseangeboten macht, ist das Gegenteil davon. Sie bringen ja Leute dazu zu fliegen! Sie haben einen negativen Handabdruck!4

Der Punkt ist, dass wir bei den taz-Flugreisen auf dem überindividuellen Level sind. Sie, Herr Hartmann, sind dafür verantwortlich, dass Menschen fliegen. So wie British Petrol, Shell, Exxon und die diversen Autofirmen, die für SUVs werben und dadurch erst einen Markt geschaffen haben für Millionen Tote verantwortlich sind, sind auch Sie für Tode mitverantwortlich. Natürlich wesentlich weniger, aber Sie sind mitverantwortlich. Sie sind aber nicht nur für die Toten mitverantwortlich, die die taz-Reisen bewirken, sondern auch für Tote, die auf Flugreisen von anderen Anbietern zurückgehen. Das liegt daran, dass Sie Werbung für Flugreisen gemacht haben. In hoher Frequenz. In einer Zeitung mit ökologischem Anspruch. Die krasseste Werbung ist in der Ausgabe vom 14.09.2024 erschienen, dem Tag der Genossenschaftsversammlung:

Werbung für taz-Flugreisen: „Mit taz-Reisen der Sonne hinterher“, taz, 14.09.2024, am Tag der Abstimmung.

Und da steht es schwarz auf gelb: „Mit taz-Reisen der Sonne hinterher“. Da können Sie von Austausch und Horizonterweiterung reden, so viel wie Sie wollen. Sie appellieren an touristische Bedürfnisse, Sie wecken sie, Sie fördern sie. Sie normalisieren sie. Menschen, die die taz lesen, denken: „Jo, ab in den Süden. Machen doch alle. Selbst die Öko-Zeitung macht Werbung dafür.“ Hier wird auch klar, warum Ihr Argument „Wir haben die Zahl der Flugreisen reduziert“ nicht viel taugt. Denn die Werbung bleibt. Selbst wenn Sie nur eine Flugreise anbieten würden und diese aber permanent bewerben würden, würden Sie Schaden anrichten.

Und ja: Wir brauchen Verbote. Wir brauchen Verbote, um die Menschheit vor sich selbst zu schützen. Wir brauchen Verbote, um die entfesselten Märkte in ihre Schranken zu weisen. Beispiele für erfolgreiche Verbote ist das Rauchverbot in öffentlichen Gaststätten, Werbeverbote für Alkohol und Zigaretten, das Glühlampenverbot, Verbot der Straßenbeheizung mit Heizpilzen. Ich habe schon 2019 für ein Tempolimit und das Verbot für Flugreisewerbung und für SUVs argumentiert. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, was Werbung bewirkt: Nach der Ölkrise gab es in den USA Beschränkungen für den Maximalverbrauch von PKWs. Lediglich Trucks durften mehr verbrauchen. Was Trucks genau sind, war nicht ausreichend strikt geregelt, weshalb die Autoindustrie diese Lücke nutzte und die SUVs erfand. Problem: Diese aufgeblasenen Metallberge wollte niemand haben. Die Autofirmen haben sie mit einem Werbebudget von 9 Milliarden Doller innerhalb von 10 Jahren in den Markt gedrückt (Schaupp, 2024: Stoffwechselpolitik). Gegen jegliche Vernunft, gegen Nachhaltigkeit, gegen den wirklichen Bedarf. Wenn Sie gegen Verbote sind, sind sie auf der Seite der INSM und der CDU/CSU, die die Grünen als Verbotspartei framen und für bedingungslose marktradikale Freiheit eintreten. Bei der Sache mit der Freiheit sollten Sie immer bedenken, dass Sie durch Ihre Freiheit und die Ihrer Reisenden die Freiheit anderer einschränken: die Freiheit der Menschen im globalen Süden, die nie ein Flugzeug betreten haben und die Freiheit zukünftiger Generationen. Zu dieser gibt es sogar ein Verfassungsgerichtsbeschluss:

Die Rich­te­r:in­nen sehen allerdings die Gefahr, dass, wenn jetzt zu wenig getan wird, die junge Generation ab 2030 ganz unverhältnismäßig belastet wird. Es dürfe nicht „einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen“ würde. So entstehe ein großes Risiko für die Freiheitsrechte, weil fast jede Freiheitsausübung – etwa Reisen oder Einkaufen – derzeit noch mit der Produktion von Treibhausgasen verbunden ist.

Pötter, Bernhard & Rath, Christian. 2021. Entscheidung zum Klimaschutzgesetz: Karlsruhe for Future. taz. 29.04.2021

Erst im Juni sprach sich UN-Generalsekretär António Guterres für ein Verbot von Werbung für fossile Brennstoffe aus und am 12.09.2024 hat die Stadt Den Haag in den Niederlanden Werbung für fossile Brennstoffe komplett verboten. Das schließt auch Werbung für Flüge und Kreuzfahrten ein:

Den Haag ist die erste Stadt der Welt, die ein Werbeverbot für fossile Brennstoffe erlässt, um ihren CO2-Fußabdruck zu verringern. In dem Beschluss der Ratssitzung vom 12. September 2024 heißt es: „Werbung für Produkte und Dienstleistungen fossiler Brennstoffe, Flugurlaub, Flugtickets, graue Stromverträge, Gasverträge, Kreuzfahrten oder Autos mit einem fossilen oder Hybridkraftmotor ist verboten.“ Weiter wird ausgeführt: „Fossile Werbung, die von einem öffentlichen zugänglichen Raum aus sichtbar ist, ist verboten, es sei denn, es betrifft Firmennamen, Firmenlogos und Anzeigen in oder in unmittelbarer Nähe des Gebäudes, in dem die Aktivitäten stattfinden, auf die sich die Werbung bezieht.

Hinske, Regine. 2024. Erste Stadt weltweit: Den Haag verbietet Werbung für fossile Brennstoffe. Squirrel News, 20.09.2024.

Für Verbote gibt es übrigens auch hierzulande Mehrheiten. So zum Beispiel für ein Tempolimit. Auch für die Verbote der taz-Flugreisen gibt es inzwischen Mehrheiten. Die absolute Mehrheit der taz-Genoss*innen (54%) war für flugfreie taz-Reisen. Nur 37% dagegen. Das sind 17% mehr Stimmen für ein Verbot der Flüge. Ein klares Ergebnis. Warum die taz dann von unentschiedenen Genoss*innen schreibt, ist mir unklar.

Auch der Move mit „Anreise kann individuell gewählt werden.“ ist sehr geschickt: FDP-like (Wissing zum Tempolimit: „Das Tempo gehört in die Eigenverantwortung der Bürger“, Tagesspiegel, afp, 22.01.2023). Im Prinzip kann man mit dem Zug fahren, aber leider, leider fliegen dann doch wieder die meisten Teilnehmer*innen. Der Flug wird ja vorgeschlagen, der Reiseleiter sitzt mit im Flugzeug und der Flughafentransfer ist auch schon organisiert.

Organisation der Reise nach Dakar (Senegal), taz, 2024

Sehr schön war der Diskussionsbeitrag einer Teilnehmerin, die sich für die taz-Reisen aussprach. Sie sei auf der Hinfahrt nach Sizilien mit dem Zug gefahren und rückzu, tja, leider, da ging es irgendwie nicht anders, was genau da war, wollte sie uns nicht sagen, aber sie ist dann doch lieber geflogen.

In der taz-Mitgliederinfo haben Sie Folgendes geschrieben und das dann auch in Ihrer Rede wiederholt.

effektiver Klimaschutz muss an den ökonomischen Rahmenbedingungen ansetzen: Fliegen darf nicht mehr subventioniert werden. Fliegen darf nicht billiger sein als Bahn fahren. Hier können massenhaft unnötige Flüge eingespart werden. Flugreisen zum Austausch mit Menschen im globalen Süden bleiben dringend erforderlich in unserer globalisierten Welt. Wir sollten unseren Blick auf die Welt nicht verengen.

taz Mitgliederinfo Nr. 34, S. 12

Diese Argumentation kennt man auch von anderen Akteuren: Die FDP verweist auf Europa, die AfD auf China oder Indien. Andere sollten was tun, andere sollten sich ändern oder etwas ändern. Es ist klar, dass wir die Probleme nur auf der internationalen Ebene lösen können. Alle Staaten gemeinsam müssen auf null kommen. Daraus folgt aber auch, dass jeder Staat auf null kommen muss und daraus, dass jede Organisation und jede Firma auf null kommen muss. Die taz arbeitet mit ihrem hervorragenden Klimajournalismus an der politischen Lösung. Das befreit sie aber nicht davon, als Firma die Klimaschäden, die sie zu verantworten hat, zu reduzieren. Und wie gesagt, es sind nicht nur die Schäden, die Sie direkt verursachen sondern auch die Schäden, die dadurch entstehen, dass es taz-Leser*innen normal finden, „der Sonne hinterher zu fliegen“, weil Sie das pausenlos bewerben. Ich kann Ihnen die Katastrophen aufzählen, an denen sich die taz mitschuldig macht. Die taz schreibt täglich darüber. Sie müssen mir den positiven Nutzen aufzeigen. Dieser wurde immer nur behauptet. Lesegeräte sind im Vergleich zu gebrochenen Staudämmen und überfluteten Städten lächerlich.

Sie zitieren Peter Unfried:

Peter Unfried aus der taz […] hat es schon vor über zehn Jahren in der taz immer wieder reflektiert und festgestellt: Oh Gott, ich sollte wohl meine inspirierenden Besuche in Kalifornien nur alle zwei oder drei Jahre besuchen.

Thomas Hartmann in der taz-Genossenschaftversammlung am 14.09.2024 zum Thema Flugreisen

Peter Unfried ist der oberste Neoliberale in der taz. Das muss seine Argumente nicht falsch machen (siehe oben), aber die Argumente selbst sind eben neoliberal, die Tatsache, dass man anderen Menschen schadet, wird nicht ausreichend berücksichtigt. Und taz-Journalist*innen, die darüber schreiben, dass sie alle paar Jahre ihre Verwandten in den USA besuchen, haben eben nicht nur einen entsprechenden Fußabdruck, sondern auch einen Handabdruck: Sie haben als Journalisten gesellschaftlichen Einfluss. Sie senden Signale: Fliegen ist OK, ist leider geil.

Deichkind: Leider geil

Wissen Sie, ich halte es da lieber mit einem anderen Mitglied der Familie Unfried. Peter Unfrieds kleiner Bruder Martin Unfried hatte in der taz die Kolumne Ökosex. Hier schreibt er im VCD-Magazin fairkehr über das Fliegen und Moral.

Martin Unfried argumentiert wie ich gegen die Normalisierung und schreibt auch konkret zu den USA-Flügen: Es sollte für einen 60-Jährigen, der schon viel gesehen hat, einfacher sein, auf interkontinentale Flüge zu verzichten. Das gilt natürlich auch für seinen 5 Jahre älteren Bruder. Dieser ist kein gutes Vorbild.

Sie haben in Ihrer Rede von fünf taz-Reisen gesprochen. Barbara Junge im Newsletter von sechs. Ich habe mich intensiv vorbereitet. Da ich nur drei Minuten Zeit hatte, habe ich die folgende Folie nicht verwendet, aber ich möchte sie Ihnen zeigen:

Es waren sieben Reisen geplant und diese wurden beworben. Immer wieder. Vietnam, Kuba, Togo, Senegal, Saudi-Arabien, Marokko, Libanon. Bei diesen würde ich einen Anreise ohne Flug für unrealistisch halten. Dazu kommen Reisen nach Estland, Istanbul, Irland, Rom, Warschau, Sizilien. Ziele, zu denen man nicht unbedingt fliegen muss, aber wie Ihre Verteidigerin freimütig bekannt hat, dann doch fliegt.

Als ich in den 90ern nach West-Berlin konnte, habe ich dort überall an den Häusern Graffiti gesehen: taz lügt. Ich wusste nicht, warum und wer die an die Häuser gesprüht hatte. Aber ich habe gesehen, dass Sie jetzt wie die BILD-Zeitung auf der persönlichen Ebene argumentiert haben, dass Sie Zahlen manipulieren und dass Ihre Argumente neoliberal sind. Sie stehen nicht für die gesamte taz, aber mich hat das an die 90er erinnert.

Herr Hartmann, Sie haben in den 70ern die taz gegründet. Eine radikal linke Tageszeitung. Ich weiß nicht, was für Musik Sie damals gehört haben. Zappa? The Doors? Greatful Dead? Oder Punk? PVC, Wall City Rock, No Escape? Die Neubauten, Kein Bestandteil sein? Ich war da noch klein, aber in den 80ern habe ich angefangen, mich für Musik zu interessieren, bin zu Konzerten gegangen. Eine wichtige Band war „Die Firma“. Nach der Wende ist eine CD erschienen. Ein Lied heißt RGM: Rock gegen Mittelmäßigkeit. Darin heißt es: „Wir müssen aus dem Zentrum, weg von der Mitte, weg von Geheucheltem! Wo ist der Weg von der Mitte?“

Tatjana Besson von der Firma beim letzten Konzert der Freygang-Band in Berlin, Schokoladen, 22.03.2019

Hören Sie mal rein. Vielleicht erinnert Sie das an etwas.

Das Ende: sanft, friedlich, versöhnt

Sie sind jetzt 77 Jahre alt und werden bald sterben. (Wenn Sie 80 wären, wäre Ihre Lebenserwartung für Berlin als Mann 88,21 Jahre. Da Sie aber Raucher sind oder waren (taz, Personalseiten), verkürzt sich Ihre Lebenserwartung um 9 Jahre (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2014: Was uns Lebensjahre raubt). Also 80. Ich wünsche Ihnen, so wie ich es allen wünsche, die sterben müssen, einen angenehmen Tod. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ohne Schmerzen.

Wenn Sie Pech haben, werden sie klimawandelbedingt in der Hitze umkommen, von Fluten hinweggespült werden oder im Urlaub von einem zusammenbrechenden Berg erschlagen werden, weil der Permafrost in den Hochgebirgen zu tauen beginnt.

Dieses Jahr hatten wir den heißesten Sommer seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen. Der zweitheißeste lag im Jahr davor. Es gab in den Hitzesommern seit 2003 hunderttausende Tote in Europa (Hitzesommer 2003, Winklmayr et al. 2022). Betroffen sind vor allem Neugeborene und Alte. Ich habe einmal in meinem Leben ein Dehydrierung erlebt. Ich wünsche das meinem ärgsten Feind nicht. Sie sind nicht mein Feind und ich wünsche Ihnen auch nicht den Tod. Ich kämpfe gegen die weitere Erderhitzung. Für uns alle, für meine Kinder, für Sie, für mich.

Herr Hartmann, es ist Ihr Lebenswerk, aber unser Leben. Bitte beenden Sie Ihre Arbeit bei den taz-Reisen, ohne weiter Flugreisen anzubieten. Konzentrieren Sie sich auf Zug- oder Busfahrten, damit Sie uns allen als der Coole, der Lässige, der Flexible in Erinnerung bleiben, als der Sie auf den taz-Mitarbeiterseiten beschrieben wurden. Es ist nie zu spät.

Wolfgang Metzeler-Kick, 49, Ingenieur für technischen Umweltschutz am Tag 38 seines Hungerstreiks, wird aus dem Polizeikessel gebracht. Beugehebel an der Hand, Hand unter dem Kinn. Auf dem Plakat einer Frau steht: „Wer wollen wir gewesen sein?“. Nach Blockade der Frankfurter Allee durch die Letzte Generation, 13.04.2024

Es gibt ein Beispiel: Ein Pilot hat viel in seine Ausbildung investiert. Das Fliegen war sein Traum. Irgendwann hat er erkannt, dass das Fliegen aus ökologischen Gründen nicht zu rechtfertigen war. Er hat seinen Beruf aufgegeben und hat sich Extinction Rebellion angeschlossen (Walker, 2022). Sie haben mir vorgeworfen, ich würde nur an mich denken. Das ist nicht richtig. Ich denke auch an Sie: Sie haben ein großes Wissen in Bezug auf Reiseplanung. Zugreisen durch Europa oder sogar weltweit zu planen und zu buchen ist nicht trivial. Agenturen stellen die online-Buchungen ein, weil die Bahn die Vermittlungshonorare gestrichen hat. Wie wäre es, wenn die taz-Reisen den Genoss*innen bei der Buchung von Zugreisen helfen würden? Auch darüber könnte man eine Leserbindung erreichen.

Bezüglich Flugreisen ist jetzt, glaub ich, alles gesagt, aber wenn Sie möchten, können wir uns mal treffen und über die taz-Reisen ohne Flüge oder den Teil der taz-Reisen, der ohne Flüge stattfindet, reden. Zum Beispiel die Reisen mit dem Zug nach Vietnam und Indien, die sie organisiert haben!

Peace!

Es grüßt Sie herzlich Ihr Stefan Müller

Quellen

afp. 2023. „Autofahren bedeutet Freiheit“: Verkehrsminister Wissing lehnt Tempolimit ab. Tagesspiegel. Berlin. (https://www.tagesspiegel.de/politik/autofahren-bedeutet-freiheit-wissing-lehnt-tempolimit-ab-9221373.html)

Appiah-Nuamah, Maame & Berner, Richard & Gipp, Antonia & Hohmann, Theresa & Nöfer, Johannes & Pätzke, Franka & Prawitz, Hannah et al. 2021. Wissenschaftliches Reisen: THESys Humboldt-Stipendium Themenklasse Nachhaltigkeit und Globale Gerechtigkeit 2020/2021. Humboldt-Universität zu Berlin. (http://dx.doi.org/10.18452/23298)

Bishen, Shyam & Glick, Sam. 2024. Quantifying the Impact of Climate Change on Human Health. World Economic Forum & Oliver Wyman. (https://www.oliverwyman.de/unsere-expertise/publikationen/2024/jan/quantifying-climate-change-impact-on-human-health.html)

Guterres, António. 2024. There is an exit off ‘the highway to climate hell’, Guterres insists. United Nations. (https://news.un.org/en/story/2024/06/1150661#:~:text=Guterres.,have%20control%20of%20the%20wheel.%E2%80%9D&text=The%20iconic%20blue%20whale%20looms,special%20address%20on%20climate%20action)

Hinske, Regine. 2024. Erste Stadt weltweit: Den Haag verbietet Werbung für fossile Brennstoffe. Squirrel News, 20.09.2024. (https://squirrel-news.net/de/news/erste-stadt-weltweit-den-haag-verbietet-werbung-fuer-fossile-brennstoffe/)

Mignake, Gnim Zabdiel & Jordan, Juraj. 2023. Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit. fluter / Bundeszentrale für Politische Bildung. (https://www.fluter.de/kuestenerosion-togo-klimawandel-film)

Pötter, Bernhard & Rath, Christian. 2021. Entscheidung zum Klimaschutzgesetz: Karlsruhe for Future. taz. (https://taz.de/Entscheidung-zum-Klimaschutzgesetz/!5763553/)

Schaupp, Simon. 2024. Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp.

Walker, Tamsin. 2022. Meet the pilot who stopped flying because of climate change. Deutsche Welle. Bonn. (https://www.dw.com/en/todd-smith-emissions-aviation-pilot-safe-landing-extinction-rebellion-climate-activist/a-61953106)

Winklmayr, Claudia & Muthers, Stefan & Niemann, Hildegard & Mücke, Hans-Guido & an der Heiden, Matthias. 2022. Hitzebedingte Mortalität in Deutschland zwischen 1992 und 2021. Ärzteblatt. (doi:10.3238/arztebl.m2022.0202)

Genehmigung von Flugreisen

Diesen Brief habe ich an die Mitarbeiter*innen meines Instituts geschrieben, nachdem mich zwei Personen um die Genehmigung ihrer Flugreise nach Sizilien gebeten hatten.

Liebe alle,

Ich wurde von zwei Personen um die Genehmigung ihrer Dienstreise nach Sizilien gebeten. Die Reisen sind mit Flug geplant. Wie Ihr wisst, genehmige ich seit 2022 keine Reisen mit Flügen mehr (Flüge, CO2, Verantwortung und Mitschuld). Das bedeutet nicht, dass die Reisen nicht stattfinden können, denn andere Personen mit den entsprechenden Befugnissen können die Reise genehmigen. 2022 war ich stellvertretender Institutsdirektor. Ich habe damals meinen Entschluss mitgeteilt. Inzwischen habt Ihr mich zum Institutsdirektor gewählt. Ich möchte den Anlass nutzen, erneut ein paar Dinge zur Klimakatastrophe zu sagen und zu versuchen, mein Handeln zu erklären.

Die Klimakatastrophe ist da, es gibt kein CO2-Restbudget

In den Monaten von März bis Juni gab es wieder einen Hungerstreik. Mehrere Klimaaktivist*innen haben gestreikt, darunter die Mutter zweier Kinder. Wissenschaftler*innen von Scientist Rebellion haben solidarisch gefastet. Wolfgang Metzeler-Kick, Ingenieur für Technischen Umweltschutz, war insgesamt fast 100 Tage im Hungerstreik.

Wolfgang Metzeler-Kick am 86. Tag im Hungerstreik, 8. Tag im absoluten Hungerstreik, Hungerstreikcamp, Invalidenpark, Berlin, 31.05.2024

Wolfgang Metzler-Kick war bereit, Hungers zu sterben, damit vier Fakten in das Bewusstsein der Bevölkerungen dringen:

  1. Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation ist durch die Klimakatastrophe extrem gefährdet.
  2. Der CO₂-Gehalt in der Luft ist viel zu hoch (0,42 ‰).  Der Weltklimarat zeigt einen Weg (SSP1-1.9 “1,5°-Pfad”), mit dem die Menschheit die beste Überlebenschance hat.
  3. Dieser Pfad hat einen Zielwert von 0,35 ‰ (bis zum Jahr 2150).  Das bedeutet, es sind bereits jetzt hunderte Gigatonnen zu viel CO₂ in der Luft.
  4. Wir müssen jetzt, wenn auch mit Jahren Verspätung, radikal umsteuern.

Die Hungerstreikenden waren in Kontakt mit den Scientists 4 Future und diese haben die vier Punkte der Hungerstreikenden überprüft und eine Aussage korrigiert. In ihrer Presseerklärung vom 06.05.2024 haben sie die vier Punkte, die oben aufgeführt sind, formuliert.

Die Scientists schreiben dazu:

Diese Feststellungen sind wissenschaftlich solide und vernünftig. Die Erderhitzung ist unzweifelhaft eine existenzielle Gefahr für die menschliche Gesellschaft, ​​im Sinne nicht nur der angesprochenen „Überlebenschancen“, sondern eines menschenwürdigen Lebens und einer Lebensweise, die mit dem Erdsystem verträglich ist. Ebenso unzweifelhaft ist die Erderhitzung überwiegend die Folge des ungebremsten Verbrennens von Kohle, Gas und Öl, worauf die Energieversorgung der meisten Volkswirtschaften immer noch gründet. Letztlich tun die Regierungen der Welt zweifellos viel zu wenig, um die technisch mögliche und finanziell machbare Defossilisierung voranzutreiben.

Presseerklärung der Scientists 4 Future vom 06.05.2024

Pressekonferenz von „Hungern bis Ihr ehrlich seid“ Am 62. Tag des Hungerstreiks. vlnr: Wolfgang Metzeler-Kick, 49, Umweltingenieur, Dr. Bernhard Steinberger, Scientists 4 Future, Lea Dohm, Psychologists 4 Future, Adrian Lack, ab heute im stillen Hungerstreik, Marlen Stolze, Moderatorin, PD Dr. Susanne Koch, Scientist Rebellion und betreuende Ärztin, Michael Winter, 22. Tag im Hungerstreik, BMI von 16. Ganz rechts außen Lebenspartnerin von WMK. Links im Bild die Forderungen. Hungerstreikcamp, Invalidenpark, Berlin, 07.05.2024

Zur Einordnung: Scientists 4 Future ist eine Vereinigung von Wissenschaftler*innen, die zum Thema Klimawandel arbeiten und sich für eine entsprechende Politik engagieren. Es ist die Fakt-Checking-Organisation hinter Fridays for Future. Das Fachkollegium, das für die Presseerklärungen verantwortlich ist, besteht aus hoch angesehenen Professor*innen aus dem Klimabereich. Ein Gründungsmitglied ist zum Beispiel der Klimageograph und Vizepräsident für Forschung der Humboldt-Universität Prof. Dr. Christoph Schneider.

Noch mal im Detail: Was bedeuten diese vier Punkte? Der erste Punkt ist klar: Die menschliche Zivilisation ist in Gefahr. Zu dieser Zivilisation gehören Kunst und Kultur, gehören Sprachen. Sprachen, die Ihr liebt und erforscht. In Gesellschaften, die sich im Existenzkampf befinden, wird es dafür keine Ressourcen mehr geben. Der zweite Punkt ist: Wir sind bei 424 parts per million (ppm) CO2-Gehalt in der Luft. Wir müssen zu 350 ppm zurück. Ist es da schlau weiteres CO2 auszustoßen? Zumal nicht geklärt ist, wie das Rückholen von CO2 und die Speicherung von CO2 ohne mögliche Leckagen im Gigatonnen-Berich funktionieren kann.

Selbst wenn man – wie die IPCC-Szenarien – davon ausgeht, dass wir noch in einem gewissen Rahmen CO2 emittieren können, das wir dann eben zurückholen müssen, ist das Kontingent, das wir als Deutsche nach dem Pariser Abkommen für die Erreichung des 1,5°-Ziels noch hatten, seit diesem März aufgebraucht. Das zeigt der Sachverständigenrat für Umweltfragen in einer Veröffentlichung (SRU, 2024). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen ist ein Gremium, das die Bundesregierung berät. Zu den sieben Personen in diesem Rat gehört seit 2016 Prof. Dr. Wolfgang Lucht (Physiker und Geographieprofessor der Bereiche Klimaforschung, Erdsystemanalyse und Nachhaltigkeitswissenschaft ebenfalls von der Humboldt-Uni und vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung).

Wenn aber selbst dieses Budget aufgebraucht ist und wir aber irgendwie leben müssen (essen, heizen, Kleidung, Bahn fahren, das Fahrrad reparieren), dann sollten wir wohl als Gesellschaft darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist und was nicht.

Der letzte Brief, den ich Euch geschrieben habe, ist von 2022. Jetzt ist es inzwischen 2024. 2024 war der heißeste Sommer, der jemals gemessen wurde (afp, 06.09.2024). Der zweitheißeste war 2023. Die Scientists 4 Future kommen mit der Aktualisierung ihrer Demomaterialien gar nicht hinterher.

Scientists 4 Future bei Fridays for Future-Demo zur Europawahl mit Transparent: „Wir liefern die Fakten. Zeit zu handeln!“. Das Transparent ist wahrscheinlich von 2019, denn nach dem auf dem Transparent verzeichneten Sommer 2018 gab es mehrere heißere Sommer. Luisenstraße, Berlin, 31.05.2024

Dieser weitere Anstieg der Temperatur in den letzten beiden Jahren seit 2022 war verbunden mit vielerlei Katastrophen: Dürre, Hitze, Hunger, Fluten. Die Klimaveränderungen führen zum Einwandern von Arten in unsere Lebensbereiche. Zum Beispiel die Tiegermücke wird hier heimisch. Sie überträgt gefährliche Krankheiten wie das Dengue-Fieber.

Aktivistin bei der Rebellion of One blockiert eine Straße in Kreuzberg mit einem Schild, auf dem steht: „Die Klimakatastrophe ist da“. An der Laterne rechts steht: „Why are we here?“. Berlin, 21.08.2021

Fliegen tötet

Bei einer Diskussion von Flugreisen im Jahr 2022 hatte ich auch Parncutt (2019) erwähnt, der berechnet hat, wie viele zukünftige Tote die Verbrennung von Kohlenstoff bewirkt. Seinen Abschätzungen nach führen 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff zu einem vorzeitigen klimabedingten Toten (die 1000-Tonnen-Regel). 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff erzeugen 3700 Tonnen CO2. Man kann also leicht ausrechnen, wie viele Menschen bei einem gewissen Flugaufkommen sterben werden. In diesem Jahr versuche ich, die taz davon abzubringen, touristische Flugreisen zu organisieren und zu bewerben (Gespräch in der taz). Bei den Gesprächen wurden die Zahlen von Parncutt in Frage gestellt. Im Zuge der Diskussion habe ich eine aktuelle Veröffentlichung von Pearce & Parncutt (2023) zum Thema gefunden, die die Argumentation ausbaut, und ich habe die Abschätzung eines Journalisten besprochen, der fand, dass Parncutts Zahlen und meine Berechnungen um Größenordnungen falsch liegen. Interessanterweise kam bei dieser Diskussion heraus, dass die Abschätzungen, auf die sich der Journalist bezog, in derselben Größenordnung liegen. Siehe Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen. Das halte ich für eine gute Bestätigung dieser Abschätzungen. Als Ergebnis bleibt die Schlussfolgerung von Parncutt (2019):

Therefore, flying should be made more expensive (e.g. by carbon taxes) and reserved for emergencies and life-saving projects.

Parncutt, Richard. 2019. The human cost of anthropogenic global warming: Semi-quantitative prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. S. 12.

Sizilien als Reiseziel

Sizilien liegt in Europa. Es ist mit dem Zug + Fähre erreichbar (Brouter: Berlin, München, Bologna Centrale, Siracusa, Noto, 32 Stunden mit Nachtzug von Bologna nach Siracusa). Sprachwissenschaftler*innen können in Zügen arbeiten. Es gäbe also keinen Grund zu fliegen. Wenn man es dennoch tut, kann man die Insel von oben sehen. Man kann die Katastrophe sehen, die man selbst gerade mit seinem Flug verstärkt:

tagesschau vom 07.08.2024: Sizilien von Hitze und Dürre geplagt – Tiere werden notgeschlachtet

In Sizilien gibt es die schlimmste Dürre seit 20 Jahren. Die Bauern schlachten ihre Tiere, weil sie nicht genug Wasser haben. Das Wasser wird für die Bevölkerung rationiert. Der Tourismus ist nicht betroffen. Die Konferenz wird in einem klimatisierten Hotel stattfinden. Es wird wunderbar. Man kann mit anderen Wissenschaftler*innen interessante Probleme besprechen. Das Essen wird sicher gut sein. Ein Salat mit Ziegenkäse vielleicht? Wenn die Konferenzteilnehmer*innen nicht rausgehen, werden sie auch nicht mit der unterversorgten Bevölkerung ringsum in Kontakt kommen. Sie werden nicht erfahren, dass die Bauern ihre Ziegen schlachten müssen und vielleicht in einigen Jahren der Ziegenkäse aus Deutschland importiert werden wird.

Wenn Ihr mit dem Flugzeug einschwebt, werdet ihr das vertrocknete Land sehen können und die leeren Wasserbecken. Achtet darauf! Ich möchte, dass Ihr Euch das für immer merkt! Dass Ihr es nie vergessen könnt.

Bin nur ich es, der das alles pervers findet?

Genehmigung von Flugreisen

Ich kann die aktuelle Situation nicht verdrängen. Ich beneide Euch darum, dass Ihr es könnt. Ich kann verdrängen, dass Ihr fliegt. Bitte erinnert mich nicht daran. Bitte treibt mich nicht in die Verzweiflung. Behaltet die Tatsache für Euch, bittet mich nicht um Genehmigungen. Macht das mit Eurem Gewissen aus. Ist es wichtig zu fliegen? Wofür? Muss ich diese Aktivität unternehmen, das schlimmste Umweltverbrechen, das man legal als Einzelperson begehen kann (Niko Paech 2019)? Und wenn Ihr die Frage mit Ja beantwortet, dann schämt Euch und sagt mir nichts davon und bittet mich nicht um Beihilfe. Ich werde nicht unterschrieben. Wenn Ihr mir dennoch schreibt, werdet Ihr eine Reaktion wie diesen Brief bekommen. Ihr werdet Daten und Fakten über Euer Reiseziel bekommen und ich werde Euch aufzeigen, wie Ihr gerade dieses Ziel mit Euren Aktivitäten zerstört. Sei es Vanuatu, seien es die Gebiete in Südamerika. Fragt mich nicht. Bitte!

Ich hoffe, dass der Tag kommen wird, an dem Ihr versteht, warum ich so handele, wie ich handele. Ich hoffe, dass er bald kommt.

Quellen

afp. 2024. Globale Rekordtemperaturen: Der heißeste Sommer – weltweit. taz. Berlin. (https://taz.de/Globale-Rekordtemperaturen/!6035053/)

Matthias Politycki vs. Niko Paech: Müssen wir reisen? 2019. Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/matthias-politycki-vs-niko-paech-muessen-wir-reisen-100.html)

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Pearce, Joshua M. & Parncutt, Richard. 2023. Quantifying Global Greenhouse Gas Emissions in Human Deaths to Guide Energy Policy. Energies 16(6074). 1–20. (doi:10.3390/en16166074)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)

Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2024. Wo stehen wir beim CO2-Budget? Eine Aktualisierung. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2024_03_CO2_Budget.pdf?__blob=publicationFile&v=8)

Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen

Ich habe an verschiedenen Stellen Parncutt (2019) zitiert, der die 1000-Tonnen-Regel aufgestellt hat, wonach 1000-Tonnen verbrannter Kohlenstoff einem zukünftigen Klimatoten entsprechen. In der Diskussion um die taz-Flugreisen habe ich mit vielen Menschen gesprochen oder gemailt. Es gab zwei Einwände gegen Parncutt (2019). Der erste ist ad hominem und im Prinzip als Argument unzulässig: „Richard Parncutt ist Musikologe und was hat das denn mit Klimafolgenforschung zu tun?“. Davon abgesehen, dass ad-hominem-Argumente unzulässig sind, hat Parncutt aber nicht nur Musikologie studiert, sondern Psychologie, Physik und Musik. Damit kennt er sich mit Fragen der menschlichen Wahrnehmung bestens aus und kann Modellierungen, Wahrscheinlichkeiten und mathematische Zusammenhänge verstehen. Er ist also jemand, der hervorragend für das Thema geeignet ist. In einer weiteren Publikation zu Treibhausgasemissionen und deren Folgen arbeitet er mit Joshua M. Pearce zusammen. Pearce ist Informatiker und einer der meistzitierten kanadischen Wissenschaftler (> 31.000 Zitationen, h-index: 86, google scholar-Profil).

Parncutt hat in seinem Aufsatz Berechnungen angestellt, wie viele Menschen sterben müssen, wenn eine bestimmte Menge CO2 ausgestoßen wird. Da niemand in die Zukunft schauen kann, handelt es sich bei seiner Berechnung um eine Abschätzung. Er hat als Grundlage ein 2°-Szenario angenommen. Unser Ziel als Menschheit ist, deutlich unter 2° zu bleiben (Pariser Abkommen) und sogar 1,5° anzustreben. Derzeit läuft es wohl auf 2,7° hinaus (climateactiontracker.org). Alle Berechnungen der Klimaforscher*innen sind mit Wahrscheinlichkeiten behaftet, weil sich Klimaentwicklungen nur mit Wahrscheinlichkeiten vorhersagen lassen. Wichtig ist, dass der Worst-Case überhaupt noch nicht bekannt ist und erforscht werden müsste, damit wir wissen, was im schlimmsten Fall passieren kann (Kemp, Xu, Depledge & Lenton 2022). In der Diskussion, ob die taz Flugreisen anbieten soll oder nicht, hat mich eine Mail erreicht, in der jemand Parncutts Berechnungen grundsätzlich in Zweifel gestellt hat. Er bzw. sie hat andere Abschätzungen zitiert und behauptet, dass diese in Größenordnungen auseinander liegen. Das wäre für meine Argumentation natürlich unschön gewesen, weshalb ich mir den Einwand genauer angeschaut habe.

Eine andere Abschätzung und ein Fehler?

Das war die Berechnung, die zeigen soll, dass Parncutt und ich in meinem Post Sind Fluggäste Mörder? falsch liegen:

  1. Die jüngste Zahl zum globalen Flugverkehr bezieht sich auf 2021 und das waren 3,8 Billionen Personen-Flugkilometer (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/311643/umfrage/flugverkehr-entwicklung-nach-rpk-weltweit/).
  2. 16.482 Kilometer Luftlinie sind es von Frankfurt nach Sydney  
  3. Das sind 32.964 Kilometer hin und zurück
  4. Wenn im Flugzeug 300 Menschen sitzen, entstehen insgesamt hin und zurück 300 x 32.964 KM = 9.889.200 Personen-Flugkilometer (PFKM)
  5. Teilt man das globale Flugaufkommen (siehe 1.) von 3,8 Billionen PFKM durch die auf diesem einen Flug geflogenen PFKM dann kommt man auf einen Wert von 3,8 Billionen/9,8892 Mio = 384.257. Das ist das  Äquivalent von Sydney-Flügen in den 2021 global geflogenen Jahres-Personenkilometern. Es ist also insgesamt weltweit pro Jahr so viel geflogen worden, wie 384.257 mal ein volles Flugzeug FRA-Sydney und zurück.
  6. Sie sagen, der Sydney-Flug verursache insgesamt 0,61 vorzeitige Todesfälle. Setzt man das ins Verhältnis zum gesamten Flugaufkommen, würde das 0,61 x 384.257 = 234.397 vorzeitige Todesfälle insgesamt durch das globale Flugaufkommen 2021 bedeuten.
  7. Der Flugverkehr trägt mit etwa 5 Prozent zur globalen Erderhitzung bei, das hatten Sie ja auch so gesagt. Damit trägt er dann wohl auch mit etwa 5 Prozent zur Zahl der Klimawandel-bedingten vorzeitigen Todesfälle bei. Das bedeutet, es müsste 20 mal so viele vorzeitige Todesfälle durch den Klimawandel insgesamt geben als jene, die auf den Flugverkehr entfallen, also 234.397 x 20 = 4.687.942, pro Jahr.
  8. Wenn man bspw. den Zeitraum 2000 bis 2050 betrachtet, wären das also 4.687.942 x 50 = 234,3 Millionen vorzeitige Todesfälle in 50 Jahren.
  9. Das liegt um ein Vielfaches über dem, was Studien zufolge angenommen wird, 14,5 Mio etwa: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/davos-wef-klimawandel-100.html

Das sieht erst mal plausibel aus und wenn das so richtig wäre, dann wäre die Abschätzung von Parncutt und meine Berechnung für den Sydney-Flug um den Faktor 16,16 falsch.

Bevor wir uns die Details angucken noch eine grundsätzliche Frage an den Kritiker und die Leser*innen: Würde es für Sie einen Unterschied machen, wenn Sie mit einer Handlung einen Menschen töten würden oder wäre es weniger schlimm, wenn der Mensch erst stirbt, wenn Sie diese Handlung 16 Mal wiederholt hätten bzw. wenn die Handlung von 16 Personen parallel ausgeführt würde? Also: Egal, wie meine Erörterung im Folgenden ausfällt, wir können bereits jetzt festhalten: Fliegen tötet! Wenn Sie fliegen, töten Sie. Ja, Sie!

Berlin vs. Frankfurt und Umstiege

Ich nenne den Kritiker bzw. die Kritikerin im Folgenden K. In meiner Abschätzung hatte ich nicht den Flug von Frankfurt/Main nach Sydney berechnet, sondern den von Berlin nach Sydney. Es gibt keine Direktflüge vom BER sondern nur Verbindungen mit Zwischenstopp. Für meine Berechnung hatte ich einen Zwischenstopp in Singapur angesetzt. Es gibt noch Flüge über London oder Paris, aber die wären vom CO2-Ausstoß noch schlimmer. Ich hatte mir bei meiner Berechnung die Flugzeugtypen genau angeschaut und bin von maximaler Auslastung ausgegangen, als dem bestmöglichen Fall für das Klima. Damit wären es 329 Plätze und nicht 300. Die Entfernung von Berlin nach Singapur und von Singapur nach Sydney sind laut luftlinie.org 16.222,34 km. 16.222,34 * 2 * 329 = 10.674.299,72 Personen-Flugkilometer (PFKM). 3,8 Billionen PFKM / 10.674.299,72 ergibt 355.995 Flüge Berlin Sydney und zurück, statt wie in 5. 384.257. Multipliziert mit 0,61 ergibt 217.157 vorzeitige Todesfälle durch das gesamte Flugaufkommen in 2021. Mal 20 ergibt die CO2-Toten insgesamt: 4.343.142. Mal 50 die CO2-Toten in 50 Jahren laut K., also 217.157.102. K. hatte 234,3 Mio vorzeitige Sterbefälle ausgerechnet. Durch meine Korrektur der Flugdistanzen und der Personen im Flugzeug habe ich die Zahl der Toten schon mal um 17,1 Mio reduziert. Das waren Fehler, die durch Änderungen der Reise und der Auslastung der Flugzeuge entstanden sind. Man darf diese Größen aber nicht ändern, denn das Ziel von K. war ja, zu zeigen, dass die Größe 0,61 falsch war und diese Bezog sich auf den Berlin–Singapur–Sydney-Flug. Es gibt aber noch weitere, gravierendere Fehler.

2021 mal 50?

Begin der Abschätzung

K geht zurück nach 2000 und berechnet dann die Zahl der Toten, indem er die Zahl der Toten, die man aufgrund des CO2-Ausstoßes von 2021 erwarten würde, mit 50 multipliziert. Die Studie vom Weltwirtschaftsforum, die K. zitiert, ist von 2024 (Bishen & Glick 2024). Der Aufsatz von Parncutt, den ich zitiere, ist von 2019. K schreibt: „Wenn man bspw. den Zeitraum 2000 bis 2050 betrachtet, wären das also 4.687.942 x 50 = 234,3 Millionen vorzeitige Todesfälle in 50 Jahren.“ Das Zurückgehen in der Zeit funktioniert nicht, weil die Effekte des CO2s kumulativ sind. Das CO2 bleibt in der Atmosphäre und dadurch, dass es dort mehr wird, verstärken sich die Effekte. Die Temperaturen steigen, Dürren nehmen zu, Fluten nehmen zu, Hitzetote nehmen zu. 2000 war unsere Welt in Bezug auf die Klimaschäden noch viel weniger schlimm als heute. Parncutt macht Vorhersagen über zukünftige Tote, d. h. über Menschen, die sterben werden, weil sie immer größer werdenden Katastrophen zum Opfer fallen werden. Es sterben schon jetzt in manchen Jahren in Europa Zehntausende an Hitze, aber das wird noch zunehmen. Die Opferzahlen in den vergangenen 25 Jahren sind winzig im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Ich habe hier schon eine Seite mit Katastrophenberichten gesammelt. Das ist das, was wir jetzt haben. Bei ca. 1,2° + El Niño.

Abschätzung für 25 Jahre oder für 100–200 Jahre?

Die von K zitierte Studie geht von 14,5 Mio Toten bis 2050 aus (25 Jahre). Parncutt (2019) geht von Toten bis 2120–2220 („spread over one to two centuries“) aus. Ob man jetzt die 14,5 Mio Toten vervierfachen bzw. verachtfachen sollte, vermag ich nicht zu sagen. Dazu müsste man mehr über die Studien wissen und ins Detail gehen. Die Klimawissenschaftler*innen gehen davon aus, dass die Schäden, die wir jetzt anrichten, ihre Folgen noch sehr viel später entfalten werden. Auftauende Permafrostböden können kommen, dadurch, dass der Eispanzer auf Grönland schmilzt, kommt das Eis in tiefere Regionen, wodurch es schneller schmilzt usw. Das wird alles auch noch weitergehen, nachdem wir aufgehört haben zu emittieren.

Das CO2 ist in der Luft und verschwindet dort nicht so schnell. Die Rückholmaßnahmen sind teuer und noch nicht ausreichend entwickelt. Wer weiß, vielleicht kriegen wir es in den Griff, vielleicht nicht. Es ist alles andere als klar, wie das weiter läuft.

Mitarbeiterin von Wintershall DEA erklärt CCS-Technik.
Ich konnte bei der GeoBerlin 2023 mit der Person sprechen, die bei Wintershall DEA für CSC zuständig ist. Wir sind weit davon entfernt, das Zurückholen von CO2 im Griff zu haben.

Ein wichtiger Punkt beim Zurückholen ist, dass wir dazu erneuerbare Energie benötigen, denn CO2-Entfernung ist energieintensiv und wenn wir nicht erneuerbare Energie verwenden würden, würden wir bei der Entfernung von CO2 gleich neues produzieren.

Real emittiertes CO2 bzw. hoffentlich sinkender Ausstoß

Wir sind dabei, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Bis 2050 will die Welt klimaneutral sein. Das heißt, wir werden in den kommenden Jahren immer weniger CO2 ausstoßen. Das bedeutet, dass die Anzahl der verursachten Toten mit dem sinkenden Ausstoß an CO2 abnimmt. Man kann also nicht einfach die Zahlen von heute bzw. 2021 mal 50 nehmen. Hier sind ein paar Szenarien aus dem IPCC-Bericht:

Die Grafik beginnt erst 2010. In den Jahren bis 2023 ist der CO2-Ausstoß aber bis auf die Corona-Delle immer angestiegen:

2021 ist der Höchstwert in der IPCC-Abbildung, also wären nach dem IPCC-Szenario alle Jahre vor und nach 2021 niedriger als der Wert von 2021, den K mit 50 multiplizieren wollte. Leider ist der CO2-Ausstoß nach 2021 noch nicht gesunken, sondern gestiegen. Um Ks Fehler zu reparieren, muss man die Flächen unter der Kurve ansehen bzw. einfach die bereits bekannten ausgestoßenen CO2-Mengen für die Berechnung verwenden. Nach den Angaben von statistica und IEA (2024) ist die Gesamtmenge des von 2000 bis 2023 ausgestoßenen CO2s 789,430 Giga-Tonnen. Pro Jahr wären das im Schnitt 32,893 Giga-Tonnen. K hat aber den CO2-Ausstoß von 2021 mit 50 multipliziert. 2021 war der Ausstoß 36,817 Giga-Tonnen. Für den Zeitraum 2000–2023 ergäben sich 24 * 36,817 = 883,608, also 94,178 Giga-Tonnen zu viel.

Wie die CO2-Emissionen in der Zukunft aussehen werden, wissen wir leider nicht genau. Parncutt geht von einem 2° Szenario aus, d. h. die CO2-Emmisionionen müssen sinken und es wird in Zukunft weniger emittiert als jetzt. Zur Korrektur von Ks Zahlen könnte man alles durch zwei teilen (die Fläche unterhalb der Kurve).

Wenn wir also den korrigierten Wert für die Toten oben nehmen und dann annehmen, dass der Wert unter der Kurve insgesamt die Hälfte an CO2 ist und also durch zwei teilen bekommen wir
217.157.102 / 2 = 108.578.551.

Nimmt man die 14,5 Millionen aus der Studie, die K angeführt hat, mal 8 (für 200 statt 25 Jahre), kommt man auf 116 Millionen. Das ist doch wunderbar nah beieinander, oder. =:-)

Ich würde es aber insgesamt eher so ausrechnen wie Parncutt. Der hat eine Abschätzung des bisher verbrannten Kohlenstoffs/Tote einer Abschätzung der Verbrennung allen verfügbaren Kohlenstoffs gegenübergestellt.

Dennoch: Wir sind bei unserem Rumgerechne bei denselben Zahlen rausgekommen und ich bin noch nicht fertig.

Eine wichtige Anmerkung zu einem wahrscheinlichen Denkfehler von K. In 8 hatte er die Toten in 50 Jahren ausgerechnet. Es geht nicht um Menschen, die innerhalb dieser Jahre sterben, obwohl auch jetzt schon Hunderttausende vorzeitige, kimawandelbedingte Tote zu beklagen sind (taz, Spiegel zu Hitzetoten), es geht um das in dieser Zeit ausgestoßene CO2, den verbrannten Kohlenstoff und die Toten, die das in der Zukunft wahrscheinlich jetzt schon bewirkt hat. Die oben erwähnten 789,430 Giga-Tonnen CO2 aus dem Zeitraum 2000–2023 entsprechen 213,359 Giga-Tonnen Kohlenstoff = 213.359.000.000 Tonnen. Wenn 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff einem zukünftigen Toten entsprechen, dann haben wir in der Zeit von 2000 bis 2023 den vorzeitigen klimawandelbedingten Tod von 213.359.000 Menschen bewirkt. Dieser zukünftige vorzeitige Tod kann in der Zeit von 2000 bis 2023 gelegen haben, es kann aber auch einer der Tode sein, die noch kommen werden. Wie oben dargelegt, rechnet Parncutt mit den Toten innerhalb von 100–200 Jahren.

Unberücksichtigte Todesursachen bei Bishen & Glick (2024)

Die Studie von Bishen & Glick (2024) berücksichtigt laut ZDF-Meldung folgende Faktoren: „Die Studienautoren betrachten sechs zentrale Klimawandel-Folgen: Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen, tropische Stürme, Waldbrände und einen steigenden Meeresspiegel.“

Kriege

Dabei sind keine Kriege berücksichtigt. Es wird ziemlich sicher Kriege geben. Kriege um Wasser, Kriege um Anbaugebiete, kriegsähnliche Situationen bei Migrationsversuchen, bei denen viele Menschen sterben. Eine solche Situation gab es schon in Spanien (tagesschau 29.06.2022).

Indien, Pakistan und China hängen von denselben Wasserressourcen ab (Tibet). Alle drei sind Atommächte. Das sind die am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Magnason (2020) hat anschaulich darüber geschrieben.

Hans-Josef Fell zitiert immer die Studie von Spratt & Dunlop (2019) aus Australien:

Hans-Josef Fell spricht beim Gründungsparteitag der Berliner Klimaliste. Berlin, 09.08.2020

Die hat ein Vorwort eines Admirals. Das Militär beschäftigt sich schon sehr lange mit den drohenden Klimakriegen.

Krankheiten

Ebenfalls nicht berücksichtigt wurden in der von K zitierten Studie die Toten durch Krankheiten. Durch die Klimaverschiebung werden z.B. hier in Deutschland Tiere heimisch, die Krankheiten verbreiten. Zecken kommen weiter in den Norden und auch die Asiatische Tiegermücke wird hier heimisch.

Die Asiatische Tigermücke ist in der Partymeile der deutschen Hauptstadt angekommen. Die eingeschleppte Art hat eine schwarz-weiße Zeichnung und ist für den Menschen nicht nur nervig. Sie kann auch Erreger wie Dengue-, Zika- oder Chikungunya-Viren übertragen. Durch die Klimaverschiebungen aufgrund der Erderhitzung fühlt sie sich zunehmend auch in Europa heimisch.

dpa. 2024. Asiatische Tigermücke in Berlin: Gesundheitsschädlinge gesichtet. taz 16.04.2024. Berlin.

Parncutt berücksichtigt die Krankheiten sehr wohl:

Many different climate impacts could directly or indirectly lead to premature death or exacerbate existing rates of premature death from hunger or avoidable disease. Vector- and rodent-borne diseases including arboviral (dengue, chikungunya, West Nile, and malaria) may change their geographic distribution with climate change (temperature, extreme weather events, and seasonality) and environmental factors (land-use, ecosystems, deforestation, hydrology, and biodiversity); rodent population density and distribution are also affected by weather conditions (Apfel, 2007, p. 4). “(H)uman illnesses due to antimicrobial-resistant infections may become a major cause of death from infectious diseases worldwide by 2050” (UN Environment, 2019, p. 12).
At the same time, food demands may increase by 50% (Searchinger et al., 2018).

Zwei Grad, drei Grad oder mehr?

Parncutt geht bei seinen Abschätzungen von 2° Erwärmung aus.

My focus will instead be on a single scenario in which GMST rises to 2°C above pre-industrial temperatures.

Pearce & Parncutt (2023) schreiben dazu:

For example, the increase in mortality caused by a global mean temperature increases from 1.5° to 1.6°C relative to pre-industrial temperatures will probably be less than the increase in mortality caused by raising global temperature from 2.5° to 2.6° C. The 1000-tonne rule applies to global warming of less than 2° C, and more work is needed to model possible non-linearities at higher temperatures.

Gegenwärtig sind wir laut climateactiontracker.org auf einem 2,7°-Pfad. 

Das bedeutet, dass die Katastrophen, die am Ende auf uns warten, wahrscheinlich noch einmal viel härter werden, als das, was Parncutt in seine Berechnungen einbezogen hat. Das bedeutet auch, dass Kipppunkte erreicht werden können, die dann zu wesentlich schlimmeren Zuständen führen. Etwas zugespitzt kann es sein, dass zehn Flüge einer taz-Reise (und die 200, die im Zusammenhang mit dieser Reise auf das Konto der taz-Werbung gehen, weil Flüge als etwas Normales beworben werden) dazu geführt haben werden, dass wir über die Klippe gehen.

Technology will fix it

Den Hunger haben wir im Griff. Menschen werden länger leben. Oder doch nicht?

K zieht die Argumentation grundsätzlich in Zweifel, weil unsere Lebenserwartung ja steigt:

b) Mein eigentlicher Punkt aber ist, dass es zu kurz greift, die Emissionen auf einzelne Konsum-Einheiten herunterzubrechen, wenn man in die Zukunft schauen will. Es ist ja gleichzeitig so, dass 1. viele Prozesse, die die Lebenserwartung und Gesundheit – also Summe gesunder Lebensjahre – stetig höher schrauben, weitergehen und sich beschleunigen und

Diese werden durch den Klimawandel wieder aufgehoben und entwickeln sich gerade in die andere Richtung. Ein Beispiel ist der Hunger. Es wurde behauptet, dass die Menschheit den Hunger in den nächsten Jahren in den Griff bekommen würde. Ich habe da mal nachgeschaut:

Diese Entwicklungen legen offen, dass die heutigen Ernährungssysteme nicht nachhaltig, ungerecht, nicht inklusiv und anfällig für Umweltschäden und die gefährlichen Folgen des Klimawandels sind. Auf der elementarsten Ebene sind diese Ernährungssysteme nicht in der Lage, alle Menschen mit ausreichend nahrhaften Lebensmitteln zu versorgen.

Wiemers & Bachmeier. 2023. Welthunger-Index 2023: Kampf gegen Hunger dreht sich im Kreis. Welternährung, das Fachjournal der Welthungerhilfe: Entwicklungspolitik & Agenda 2030 10.

Der Kampf gegen den Hunger war in den letzten Jahren nicht mehr erfolgreich. Polykrisen machen alles kaputt. Die Katastrophe hat bereits begonnen.

Aktivistin bei der Rebellion of One blockiert eine Straße in Kreuzberg mit einem Schild, auf dem steht: „Die Klimakatastrophe ist da“. Darüber ein schwarzer Himmel und Vögel, an der Laterne rechts steht: „Why are we here?“. Berlin, 21.08.2021

Davon abgesehen, ist die Argumentation schräg: Weil wir unsere Lebenserwartungen erhöhen, können wir fliegen, denn das gleicht sich dann aus? Vielleicht würde ich gern länger leben und bin nicht bereit, meine potentielle Lebenszeit für den Urlaub weniger zu opfern? Wer entscheidet, dass ich früher sterben soll? Wer entscheidet, dass Menschen im Globalen Süden, die nie ein Flugzeug betreten haben, sterben sollen? K?

Anpassung! Wie wir uns nur zu gern einlullen lassen

K schreibt:

2. viele Prozesse weitergehen, die die Wahrscheinlichkeit, durch die Folgen der Erderhitzung vorzeitig zu sterben, verringern, u.a. durch Anpassung, wegen der bei steigender Bevölkerungszahl und schwerer werdenden Extremwetterereignissen relativ weniger Menschen zu Tode kommen als früher

Überschwemmungen

Ja, aber das ist ein Wettlauf in verschiedene Richtungen. Das Klimachaos wird immer schlimmer werden und die Frage ist, wie viel unsere Anpassungen nützen werden. Das Ahrtal ist hinüber, andere Regionen werden folgen. Große Teile der Welt sind dicht besiedelt. Wie will man die schützen? Wie will man die U-Bahn in Berlin und den chinesischen Großstädten schützen? Dort standen Menschen bis zu den Schultern im Wasser, weil alles geflutet wurde (Starkregen in China: Mindestens 12 Menschen sterben. 2021. tagesschau).

Ja, ich weiß: Schwammstadt. Wurde in Berlin gerade am Hegelplatz angefangen. Aber ansonsten dauert es mehrere Jahre eine Brücke zu sanieren und wir werden weltweit mit der Beseitigung von Schäden beschäftigt sein. Im Ahrtal sind die Schäden immer noch nicht behoben und schon gibt es die nächsten Fluten. Haben Sie mal versucht einen Handwerker zu bekommen? Bei zunehmenden Katastrophen wird das immer schwieriger werden. Und die Alterspyramide ist auch gegen uns.

Pakistan, 2022: 1700 Tote. 33 Mio Menschen betroffen. Ein Drittel des Landes unter Wasser. 30 Mrd US$ Schaden. Da is nix mit Schwammstadt. Arme Länder können sich nicht so schützen wie wir und mal ganz ehrlich: Wir können es auch nicht. Siehe oben.

Hitze: Tote Menschen

Und vor der Hitze kann sich die Menschheit nur bedingt schützen. Die Menschen in Togo zum Beispiel, die am Meer gewohnt haben. Im Beitrag Klimawandel in Togo kann man sehen, dass sie gar keine Betonhäuser mehr gebaut haben, weil sie vor dem Wasser zurückweichen. Ohne feste Häuser ist auch nichts mit Klimaanlage.

2003 kam der erste Hitzesommer in Europa mit 45.000–70.000 Toten (Wikipedia, Rahmstorf, 2022).

Gegen die Hitze kann man sich bedingt schützen, aber wir können nicht unser komplettes Leben klimatisieren. 2022 waren es 62.000–107.000 Hitzetote (Barcelona Institute for Global Health nach Reimer 2024, Rahmstorf, 2022). 2023 dann 47.690 (Reimer 2024). Es gibt Menschen, die im Freien arbeiten müssen (Polizei, Feuerwehr bei zunehmenden Waldbränden, Bäuer*innen, Forsterbeiter*innen). PD Dr. Susanne Koch von der Charité und Scientist
Rebellion weist in Vorträgen immer wieder darauf hin:

PD Dr. Susanne Koch, Anästhesistin an der Charité Berlin, hält einen Vortrag bei der Veranstaltung Klima und Klimaaktivismus. Titel: Limits of Life. Auf dem Weg zur malignen Hyperthermie. Humboldt-Universität zu Berlin, 21.04.23
PD Dr. Susanne Koch, Anästhesistin an der Charité Berlin, hält einen Vortrag bei der Veranstaltung Klima und Klimaaktivismus. Titel: Limits of Life. Auf dem Weg zur malignen Hyperthermie. Humboldt-Universität zu Berlin, 21.04.23
PD Dr. Susanne Koch, Anästhesistin an der Charité Berlin, hält einen Vortrag bei der Veranstaltung Klima und Klimaaktivismus. Titel: Limits of Life. Auf dem Weg zur malignen Hyperthermie. Humboldt-Universität zu Berlin, 21.04.23

In den USA arbeiten die Bauern bereits nachts …

Hitze: Artensterben durch Hitze

In Mexiko sind die Brüllaffen von den Bäumen gefallen (dpa-Meldung im Stern, 23.05.2024).

Schwarzer Brüllaffe, Bild: Steve Wikimedia, CC-BY-SA, 16.06.2007

Brüllaffen sind wie wir Primaten. Das sollte dem Letzten klarmachen, dass schon jetzt in einigen Regionen lebensfeindliche Bedingungen herrschen, an die die Natur sich nicht und wir nur mit technischem Aufwand anpassen können.

In Indien fallen die Vögel vom Himmel (rnd, 22.05.2022). Fische sterben massenhaft im Amazonasgebiet und in Lagunen am Mittelmeer (ZEIT online, 28.09.2023, taz, 12.08.2024). „Wassertemperaturen von 35 Grad töteten dort [in der Lagune von Orbetello am Mittelmeer] fast alles Leben.“ Wie sollen wir uns anpassen? Das Mittelmeer kühlen, das jetzt im Schnitt 28,9° warm ist (tagesschau, 16.08.2024)? Fischer*innen leben von diesem Meer. Wie sollen sie sich anpassen? Sollen sie in Bürojobs wechseln? Oder Bauarbeiter*innen werden und die Schäden der Katastrophe beheben? Sicher findet sich schon was …

Auch bei den Arten (Pflanzen und Tiere, ja, auch Bäume wandern, langsam) gibt es Wanderungen in Richtung Pole bzw. in höhere Regionen bzw. tiefer ins Meer. Aber das funktioniert nicht, weil es in der Biologie verschiedene Trigger gibt: Licht und Wärme. Wenn Futter und Beute auf andere Trigger reagieren, sterben Arten aus.

Dr. Bernhard Kegel, Biologe, spricht beim Klimamontag über Artensterben, Lebewesen haben unterschiedliche Trigger (Temperatur und Länge der Tage), wenn diese nicht zusammenpassen, finden sie keine Nahrung mehr. Berlin, Alexanderplatz, 03.05.2021

Ein Beispiel ist der Hering (Bolten 2021): Weil die Heringslarven sich im warmen Wasser früher entwickeln als das Plankton, das sie als Nahrung benötigen. Wegen dieser klimawandelbedingten Desynchronisierung brechen die Heringsbestände massiv ein:

„Damit wird klar, dass der Klimawandel bereits heute wirtschaftlich erhebliche Auswirkungen hat, nicht erst in 30 Jahren: Der Bestand ist nur noch halb so produktiv wie vor 30 Jahren“, erklärt Christopher Zimmermann, vom Thünen-Institut.

Bolten, Anna. 2021. Ostsee: Erwärmung verändert Herings-Nachwuchs. scineXX.de das Wissensmagazin.

Und irgendwann können Arten auch nicht mehr höher auf den Berg oder tiefer ins Wasser, weil sie entweder ganz oben/unten angekommen oder nicht angepasst sind.

Der Biologe Dr. Mark Benecke erklärt Artensterben wie folgt: Wir machen gerade irreversibel Sachen kaputt. Die Arten sind ein Netz. Nahrungsketten. Man kann Teile eines Netzes zerschneiden. Es funktioniert dann immer noch einigermaßen. Aber wenn zu viel zerschnitten ist, crasht es irgendwann.

Klimamontag: Der Biologe Dr. Mark Benecke spricht über die Ernährungskette und die Notwendigkeit veganer Ernährung. Berlin, Alexanderplatz, 02.11.2020

Die aktuelle Katastrophe und die Zukunft

Wir sind zur Zeit bei 1,2° + El Nino. Über Landmassen erwärmt sich die Erde doppelt so stark. Durch die Klimakatastrophe entstehen vermehrt so genannte Omega-Lagen, so dass Hitzeglocken länger an einem Ort stehen. Man kann sich vorstellen, was noch kommt. Auch wenn die Menschen selbst nicht sterben, so stirbt das Draußen. Und die Frage wird sein: Wollen wir so leben? Dann kommen Depressionen und Suizide (Heinz, Andreas, Andreas Meyer-Lindenberg, 2023).

Ansonsten bewundere ich Ks Optimismus. Das Wasser, das jetzt zusätzlich in der Luft ist, kommt irgendwo wieder runter. Wir hatten im Juli 2024 eine Gewitterzelle über Berlin. Die hat den Nordosten verwüstet. Es kam so viel Wasser in einem Rutsch runter, dass ich das gegenüberliegende Haus nicht mehr sehen konnte. So etwas habe ich noch nie vorher erlebt. Stefan Rahmstorf hat einen Artikel im Spiegel über Stürme geschrieben. Die Hurrikane kommen bei zunehmender Erwärmung der Meere auch nach Europa (Rahmstorf 2019).

K schreibt:

Das muss man, will man ein realistisches Bild haben, mit einkalkulieren. Menschen werden umsiedeln,

Wir werden sie erschießen oder im Meer ersaufen lassen (siehe Christian Jakob, 2024 zur Situation in Mauretanien).

K schreibt:

ihre Anbaumethoden umstellen, anders bewässern, ihre Häuser und Städte anders bauen, sich vor Hochwasser und Hitze schützen. Das wird nicht allen gelingen und man kann das alles nicht direkt gegeneinander rechnen, dafür sind die Dinge zu komplex.

Ja, es ist sehr komplex. Dafür gibt es dann Wahrscheinlichkeiten und Abschätzungen. Das hat Parncutt gemacht. 

Für die Details empfehle ich die Lektüre des Artikels.

K weiter:

Aber trotzdem ist ihre Frage – „Wollen Sie, die 300 Sydney-Passagier, trotzdem fliegen, wenn Sie dazu 0,61 Menschen erschießen müssten?“ eine mir zweifelhaft scheinende Verkürzung.

Ich möchte das Grauen sichtbar machen. Das, was wir verdrängen. Selbst wenn wir nur 0,3 Menschen erschießen müssten oder nur 0,1, bleibt die Frage: Ist es das wert? Und wir kennen ja das Elend vor Ort. Man muss ja nicht mal von erschießen und sterben reden. Es reicht ja schon, das Leid zu kennen, das man (mit) verursacht. (Die Sache mit dem Erschießen habe ich als Gedankenexperiment aufgeschrieben: Fliegen tötet. Würdest Du es auch direkt tun? Ein Experiment)

Zwei Sachen noch:

1) Wir haben in der Wissenschaft noch nie über Worst-Case-Szenarien geredet. Niemand von den Klimawissenschaftler*innen will als Doomer gelten (Kemp, Xu, Depledge & Lenton 2022). Für unsere Entscheidungen sollten wir den Worst Case kennen. Das, was passieren kann, wenn wir Pech haben: den schlimmsten Fall. Wie gesagt: Alles in der Klimawissenschaft arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten. Das ist es, worüber wir gerade reden und wie Niko Paech 2019 gesagt hat: Zu fliegen ist das größte Umweltverbrechen, das man als Einzelperson legal begehen kann. 

Zusammenfassung

Zusammenfassung: Ks Zahl von 14,5 Mio liegt in der Größenordnung genau bei dem, was Parncutt sagt, nur dass die zitierte Studie viele Todesursachen nicht einbezieht. Aus Sicht der Autor*innen der Studie müsste es insgesamt also noch schlimmer sein. Eine Anpassung ist nur bedingt möglich, jedenfalls sicher nicht so, dass sich für die zukünftigen Generationen ein lebenswertes Leben ergibt. Deshalb müssen wir JETZT jeden erdenklichen CO2-Ausstoß vermeiden.

Fliegen tötet. Und zwar wahrscheinlich viel mehr Personen, als sich jede*r Fliegende eingestehen möchte.

Das Problem muss auf überindividueller Ebene gelöst werden. Das ist unter den gegebenen politischen Umständen nicht einfach, aber Firmen sollten keine Flugreisen organisieren oder bewerben, schon gar nicht, wenn das wie bei Leser*innenreisen von Zeitungen nicht zu ihrem Kerngeschäft gehört.

Quellen

Bishen, Shyam & Glick, Sam. 2024. Quantifying the Impact of Climate Change on Human Health. World Economic Forum & Oliver Wyman. (https://www.oliverwyman.de/unsere-expertise/publikationen/2024/jan/quantifying-climate-change-impact-on-human-health.html)

Bolten, Anna. 2021. Ostsee: Erwärmung verändert Herings-Nachwuchs. scineXX.de das Wissensmagazin. (https://www.scinexx.de/news/biowissen/ostsee-erwaermung-veraendert-herings-nachwuchs/)

Matthias Politycki vs. Niko Paech: Müssen wir reisen? 2019. Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/matthias-politycki-vs-niko-paech-muessen-wir-reisen-100.html)

dpa. 2024. Asiatische Tigermücke in Berlin: Gesundheitsschädlinge gesichtet. taz 16.04.2024. Berlin. (https://taz.de/Asiatische-Tigermuecke-in-Berlin/!6004438/)

dpa. 2024. Extreme Hitze: Brüllaffen fallen tot von den Bäumen. Stern. 23.05.2024. (https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/mexiko–bruellaffen-fallen-in-hitzewelle-tot-von-den-baeumen-34734688.html)

Heinz, Andreas, Andreas Meyer-Lindenberg & DGPPN-Task-Force „Klima und Psyche“. 2023. Klimawandel und psychische Gesundheit. Positionspapier einer Task-Force der DGPPN. Nervenarzt 94(3). 225–233. (doi:10.1007/s00115-023-01457-9)

IEA. 2024. CO2 Emissions in 2023: A new record high, but is there light at the end of the tunnel? Paris: IEA. (https://www.iea.org/reports/co2-emissions-in-2023)

Jakob, Christian. 2024. Geflüchtete in Mauretanien:Bis hier und nicht weiter. taz. Berlin. (https://taz.de/Gefluechtete-in-Mauretanien/!6016668)

Kemp, Luke & Xu, Chi & Depledge, Joanna & Lenton, Timothy M. 2022. Climate Endgame: Exploring catastrophic climate change scenarios. PNAS. (https://doi.org/10.1073/pnas.2108146119)

Kriener, Manfred. 2024. Fisch-Inferno in der Perle der Toskana. taz. 12.08.2024. Berlin. (https://www.taz.de/!6029159)

Magnason, Andri Snaer. 2020. Wasser und Zeit: Eine Geschichte unserer Zukunft. Berlin: Insel Verlag.

Mignake, Gnim Zabdiel & Jordan, Juraj. 2023. Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit. fluter / Bundeszentrale für Politische Bildung. (https://www.fluter.de/kuestenerosion-togo-klimawandel-film)

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Pearce, Joshua M. & Parncutt, Richard. 2023. Quantifying Global Greenhouse Gas Emissions in Human Deaths to Guide Energy Policy. Energies 16(6074). 1–20. (doi:10.3390/en16166074)

Rahmstorf, Stefan. 2019. Warum der Klimawandel Tropenstürme gefährlicher macht. Der Spiegel. (https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/hurrikan-dorian-klimawandel-verstaerkt-tropenstuerme-a-1284894.html)

Rahmstorf, Stefan. 2022. Extremsommer 2022: Was 100.000 Tote zusätzlich mit dem Klimawandel zu tun haben. Der Spiegel. (https://www.spiegel.de/wissenschaft/klimawandel-erhoeht-sterblichkeit-in-europa-100-000-tote-zusaetzlich-im-sommer-2022-a-49651597-e247-4b4d-ab76-41469994554f)

Reimer, Nick. 2024. Folgen der Klimakrise: Mehr als 47.000 Hitzetote in Europa. taz. 13.08.2024. Berlin. (https://taz.de/Folgen-der-Klimakrise/!6026777)

rnd. 2022. Temperaturen von fast 50 Grad Hitzewelle in Indien: Vögel fallen vom Himmel. RND Redaktionsnetzwerk Deutschland. (https://www.rnd.de/panorama/indien-hitzewelle-laesst-voegel-vom-himmel-fallen-2YQPKJFKUZAL5MB2SPP4YU7YTM.html)

Spratt, David & Dunlop, Ian. 2019. Existential climate-related security risk: A scenario approach. Melbourne, Australia: Breakthrough – National Centre for Climate Restoration. (https://www.preventionweb.net/publications/view/65812) (Accessed April 4, 2021.)

tagesschau. 2021. Starkregen in China: Mindestens 12 Menschen sterben. 2021. tagesschau 21.07.2021. (https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-893071.html)

tagesschau. 2022. Ermittlungen wegen Tod von Migranten von Melilla. tagesschau 29.06.2022. (https://www.tagesschau.de/ausland/europa/spanien-melilla-migranten-ermittlungen-101.html)

Walker, Tamsin. 2022. Meet the pilot who stopped flying because of climate change. Deutsche Welle. Bonn. (https://www.dw.com/en/todd-smith-emissions-aviation-pilot-safe-landing-extinction-rebellion-climate-activist/a-61953106)

Wiemers, Miriam & Bachmeier, Marilena. 2023. Welthunger-Index 2023: Kampf gegen Hunger dreht sich im Kreis. Welternährung, das Fachjournal der Welthungerhilfe: Entwicklungspolitik & Agenda 2030 10. (https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/entwicklungspolitik-agenda-2030/welthunger-index-2023-zurueck-auf-los)

Fliegen tötet. Würdest Du es auch direkt tun? Ein Experiment

Menschen fliegen. Seit 1810. Zuerst nur in die Donau, aber seit 100 Jahren recht erfolgreich längere Strecken. Das Problem ist, dass dabei CO2 ausgestoßen wird und die Schäden wegen der Höhenwirksamkeit noch um einen Faktor von 2,7 größer sind (Radiative Forcing Index). Die meisten Menschen wissen, dass ihr Handeln Schäden erzeugt, fliegen aber dennoch. Das Umweltbundesamt hat berechnet, dass die Schäden, die durch den Ausstoß einer Tonne CO2 entstehen, 860€2023 betragen (Umweltbundesamt 2024). Das bedeutet 860€ mit der Kaufkraft, die der Euro im Jahr 2023 hatte. Inflationsbedingt wäre die Euroangabe des Schadens jetzt also höher. Für beim Fliegen ausgestoßenes CO2 wäre der Preis pro Tonne wegen der Höhenwirksamkeit also 2322€2023.

Gerechte Flugpreise

Für einen Flug von Frankfurt/Main nach Tokio setzt Atmosfair 5.124kg CO2 an (schon mit RFI-Korrektur mit dem Faktor 2,7). Das bedeutet für einen Flug nach Tokio müsste man den jetzigen Kaufpreis, die Subventionen, die es nicht mehr geben darf (Kerosinsteuerbefreiung, nicht erhobene Mehrwersteuer bei Grenzüberschreitung), und die Schäden addieren, um zu einem gerechten Flugpreis zu kommen. Der Flug würde also statt 800€, 800€ + 4406,64€2023 + X kosten, wobei X die Höhe der Subventionen ist. Also ganz klar über 5000€.

CO2-Ausstoß für Flug von Frankfurt/Main nach Tokio und zurück laut Atmosfair, 09.08.2024

Zur Zeit ist es so, dass diejenigen Menschen auf der Welt, die nicht fliegen, die Kosten für die Schäden mittragen. Diejenigen, die in Deutschland Steuern bezahlen, tragen die Kosten für die Subventionen.

Würdest Du töten, um nach Sydney zu gelangen?

Ökonom*innen berechnen Schadenssummen. Dabei werden Menschenleben in Geld umgerechnet. Für Ökonom*innen ist ein Mensch so viel wert, wie jemand anders bereit wäre, für das Weiterleben des jeweiligen Menschen zu bezahlen. Ich persönlich finde das zynisch, aber so ist die Welt. So sind Ökonom*innen. Die meisten anderen Menschen können mit Zahlen nichts anfangen. Sie können nicht verstehen, was die enormen Schäden, die sie verursachen, bedeuten. Das war der Grund für Parncutt (2019) und Parncutt & Pearce (2023) eine Abschätzung bezüglich der Anzahl von Menschen vorzunehmen, die wegen Kohlenstoffverbrennung sterben. Nach dieser Abschätzung stirbt wegen der Verbrennung von 1000 Tonnen Kohlenstoff (= 3.700 Tonnen CO2) in der Zukunft ein Mensch. Ich habe in Sind Fluggäste Mörder? ausgerechnet, dass die 329 Passagiere der Flüge, die von Berlin nach Sydney und zurück fliegen, 0,61 Menschen töten. Das ist sehr viel anschaulicher und konkreter als eine Schadenssumme. Es bleiben aber immer noch die Verdrängungsmechanismen, die Aussage, dass die anderen es doch auch machen würden usw. Vielleicht würde es helfen, die Frage nach der Bereitschaft zur Tötung explizit zu machen. Dazu könnte man eine Vorrichtung bauen, mit der alle Passagiere mit einer Strippe verbunden werden. Wenn jeder der Passagiere einen Meter zurücktritt, wird ein Schuss ausgelöst. Das wird einmal ohne Ziel geprobt. Dann wird eine echte Person als Ziel aufgestellt. Die Frage, die noch beantwortet werden muss, ist diese: Wer ist das Ziel? Ich sehe drei Möglichkeiten: 1) eine Person aus dem Abflugland, 2) eine Person aus dem Ziel-Land,5 3) einer der Reisenden. Mir erscheint 3) am fairsten und es hilft auch für die Identifikation der Tötenden mit dem Opfer.

Dieses Experiment wird wohl von keiner Ethikkommission zugelassen werden. So bleibt es ein Gedankenexperiment. Die Frage, die jede*r, die in ein Langstreckenflugzeug steigt, sich beantworten muss, ist: Würde ich jemanden direkt dafür töten, damit ich fliegen kann? Wenn die Antwort nein ist, muss sich diese Person fragen (lassen), warum sie fliegt.

Quellen

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Pearce, Joshua M. & Parncutt, Richard. 2023. Quantifying Global Greenhouse Gas Emissions in Human Deaths to Guide Energy Policy. Energies 16(6074). 1–20. (doi:10.3390/en16166074)

Umweltbundesamt. 2024. Gesellschaftliche Kosten von Umweltbelastungen. (https://www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-wirtschaft/gesellschaftliche-kosten-von-umweltbelastungen#klimakosten-von-treibhausgas-emissionen)

Touristische Flugreisen, Klima, Moral, Tod und die Rechthaber

Am 03.08. erschien in der taz ein Gespräch von Christian Jakob und mir über die Frage, ob die taz Flugreisen anbieten sollte. Ich denke, dass eine ökologisch orientierten Zeitung wie die taz keine Flugreisen organisieren und bewerben sollte, weil es dabei ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt: Man kann nicht einerseits auf die Folgen des CO2-Ausstoßes hinweisen und andererseits eine Reise organisieren und dann ein Bedürfnis in potentiellen Konsument*innen wecken. Werbung für Flugreisen lässt diese als etwas Normales erscheinen, was sie nicht sind, denn wir müssen unseren CO2-Ausstoß auf Null bringen. Offiziell bis 2045, aber eigentlich eher heute als morgen, denn es ist bereist jetzt zu viel CO2 in der Luft.

Auf derselben Seite wie das Streitgespräch befindet sich ein Text von Bernhard Pötter, meinem Lieblings-taz-Autor, der viel über die Klimakrise schreibt, aber stets mit Humor. Ich schätze das sehr, denn ohne Humor wäre das alles nicht auszuhalten. Es gibt, glaube ich, bisher nur einen Text von ihm, der mir nicht gefällt, und das ist der vom 03.08. Ich werde ihn im Folgenden zerrupfen und die Einzelteile besprechen.

Los geht’s.

Ach ja, das Fliegen. Seufz. An keiner anderen Frage trennt sich heutzutage so die Spreu der Klimaschweine vom Weizen der Aufrechten. Ob jemand in ein Flugzeug steigt oder nicht, hat heute oft die Qualität einer Nagelprobe. Früher lauteten die entscheidenden Fragen: Beatles oder Stones? Katholisch oder evangelisch? Dortmund oder Bayern? Heute heißt es: Mit dem Flugzeug in den Urlaub oder nicht? Die Antwort sagt oft viel über den jeweiligen Menschen. Und leider meist nichts Gutes.

Das bagatellisiert die Geschichte irgendwie gleich im ersten Absatz. Beatles oder Stones ist egal. Beide gut. Katholisch oder evangelisch ist egal. Sich deshalb die Nase einzuhauen ist irre. Dortmund oder Bayern? Wie kann man eine Stadt mit einem Bundesland vergleichen? Mit dem Flugzeug in den Urlaub oder nicht? Tja, lieber Herr Pötter, die Realität ist die: Diese Frage wird nicht gestellt. Jedenfalls nicht von mir. Meine Prenzlauer-Berg-Freunde fliegen alle in den Urlaub. Auf einem Messaging-Kanal kamen mal Grüße aus Laos, woraufhin ich anmerkte, dass die Grüßenden, doch wenigstens so viel Umweltbewusstsein haben sollten, dass sie diese Grüße weglassen, wenn sie schon fliegen. Danach gab es einen Riesen-Shitstorm und zwar nicht gegen die Laoten, sondern gegen mich, wie ich es denn wagen könne, individuelles Verhalten zu kritisieren. Also: In meinem Umfeld fliegen alle fröhlich, als gäbe es kein Morgen und niemand stellt die Frage nach dem Fliegen. Es ist sogar klar, dass sie nicht gestellt werden darf. Würde sie gestellt, wären wir schon einen Schritt weiter.

Leider ist das aber auch überhaupt nicht das Thema des Streitgesprächs mit Christian Jakob und das Gesamtthema der Wochenend-taz, das groß auf der Titelseite angekündigt wurde, gewesen.

„Alle wissen: Fliegen schadet dem Klima. Trotzdem jetten viele weiter in den Urlaub. Auch die taz veranstaltet noch Fernreisen – und diskutiert, ob das vertretbar ist.“, Titelseite der taz vom 03.08.2024

Bernhard Pötter lenkt vom Thema ab. Die Frage war nicht, ob man privat fliegen sollte, sondern vielmehr: Darf eine Firma Flugreisen organisieren? Konkret: Darf die Firma, für die Bernhard Pötter arbeitet, nämlich die taz, Flugreisen organisieren? Darf sie dafür werben? Darf sie ein Bedürfnis nach einer Flugreise (der beworbenen taz-Reise oder qua Normalisierung irgendeiner anderen Flugreise) erzeugen?

Wir sind bei 424 ppm CO2 und müssen zurück auf 350 ppm

Weiter im Text:

Denn entweder die Flugbegeisterte blendet alle ökologischen und sozialen Probleme aus, die der massenhafte Luftverkehr mit sich bringt. Oder der Fluggegner reklamiert für sich, den einzig wahren Weg zum Ökofrieden zu kennen. Weil er am Boden bleibt und vielleicht sogar dort klebt. Es gibt da keine Grauzone, keinen Raum für Kompromisse. Für die Lösung von Problemen ist das nie gut.

Sie haben es im weiteren Artikel geschrieben: Klimaverträgliches Fliegen ist zur Zeit und bis auf Weiteres nicht möglich. Wir müssen auf Null CO2-Emissionen kommen und danach mit dem Rückholen von CO2 aus der Atmosphäre beginnen. Es sind bereits jetzt hunderte Gigatonnen CO2 zu viel in der Luft. So steht es auch im IPCC-Report (SSP1-1.9 “1,5°-Pfad”). Der Klimaaktivist Wolfgang Metzeler-Kick war bereit, dafür zu sterben, dass sich das Wissen um diese Tatsache weiter in der Gesellschaft verbreitet. Die Statements der Hungerstreikenden wurden von den Scientists for Future bestätigt (Presseerklärung vom 06.05.2024).

Ingenieur für technischen Umweltschutz Wolfgang Metzeler-Kick am 86. Tag im Hungerstreik, 8. Tag im absoluten Hungerstreik, Hungerstreikcamp, Invalidenpark, Berlin, 31.05.2024

Alles was wir jetzt weiter in die Luft pusten, müssen wir dann später zurückholen. Das Rückholen ist sehr energieaufwendig und kann sinnvoll nur mit erneuerbaren Energien erfolgen, weil man sonst sofort wieder neues CO2 emittieren würde.

Es ist ungefähr so: Wenn Sie mich zu sich nach Hause einladen würden (worüber ich mich jetzt ohne jeden Quatsch sehr freuen würde), würde ich ins Wohnzimmer gehen, wo hoffentlich ein Teppich liegt, und einfach draufpullern. Ich bin ein sehr großzügiger Mensch und würde die Reinigung auch bezahlen. Nicht nett? Unmögliches Benehmen? Aber das ist es, was wir gerade tun. Entweder wird die Pisse in den nächsten Jahren über Kompensationsprojekte entsorgt (falls die nicht Fake sind) oder wir heben uns das für später für die nächste Generation auf. Zwischendurch stinkt es halt ein bisschen. Vielleicht kacken wir auch ganz ab, wenn wir über die Kipppunkte kommen. Dann wird das Wohnzimmer komplett unbewohnbar. Aber einige von uns können dann vielleicht noch im Schlafzimmer weiterleben, das in Richtung Nordpol ausgerichtet ist.

Die Lösungen liegen auf dem Tisch (seit 2019 bzw. 2022)

Für die Lösung des Problems mit den Flugreisen gibt es inzwischen gute Vorschläge. Prof. Andreas Knie schlägt ein Kontingent von drei Flugreisenpaare pro Jahr pro Person vor. Wer weniger braucht, kann seine Anrechte verkaufen (Schier 2019). Die Kontingente werden dann mit der Zeit von drei auf zwei auf eins reduziert. Eine andere Idee habe ich bei einer Flughafenblockade von Scientist Rebellion zum ersten Mal gehört: exponentielle Besteuerung von Flugmeilen.

Scientist Rebellion blockiert das Privatflieger-Terminal des BER, Berlin, 10.11.2022

Dabei würde ich entstehende Schäden in beiden Varianten sofort einpreisen (860€2023 pro Tonne CO2, Umweltbundesamt 2024). Das Fliegen würde in jedem Fall sehr viel teurer werden. Subventionen (Kerosinsteuer, Unterstützung defizitärer Flughäfen) sollten sofort gestrichen werden.

Wir beide wissen, dass die Klimabewegung diese Sachen seit Jahren fordert. Wir wissen, dass sich bezüglich der Subventionen nichts ändert. Was soll man als Individuum tun? Was soll ich tun? Was können Sie tun? Ich wähle alle paar Jahre brav. Ich habe bei Scientist 4 Future eine Selbstverpflichtungsaktion für den Verzicht auf dienstliche Kurzstreckenflüge mitinitiiert und diese dann von Berlin/Brandenburg auch auf das Bundesgebiet ausgeweitet: #unter1000. Sie informieren, wie ja auch vorbildlich in Ihrem Beitrag, über die Schädlichkeit des Fliegens. Aber dann? Was dann? Was folgt? Wie kriegen wir die Subventionen weg? Was sollen Kompromisse? Soll ich mit meinen Prenzlauer-Berg-Freunden aushandeln, dass sie nur noch drei mal im Jahr eine Wochenendreise machen? Würde das das Problem der Flugreisen lösen? Noch mal zur Erinnerung: Wir müssen auf Null. Wie kann ein Kompromiss aussehen?

Es gibt eine Sache, die Teil der Lösung ist, die ich bisher nicht erwähnt habe: ein Werbeverbot für Fernreisen (Das habe ich schon 2019 gefordert: Verzicht und Verbote). So wie es Werbeverbote für Tabak und für Alkopops gibt, sollte es auch Werbeverbote für Flugreisen, SUVs und andere klimaschädliche und damit tödliche Produkte geben. Kann ich als Stefan Müller ein solches bundesweites oder gar europa- oder weltweites Werbeverbot irgendwo erreichen? Nein. Ich kann alle vier Jahre wählen, aber diese Zeitabstände sind viel zu groß und wer weiß, was die dann gebildete Regierung umsetzt.

Deshalb versuche ich nun, wenigstens die taz dazu zu bringen, keine Flugreisen mehr zu organisieren und diese dann eben auch nicht mehr zu bewerben.

Aber geht es hier darum, ein Problem zu lösen? Oder eher darum, recht zu haben?

Mir geht es darum, das Problem zu lösen. Ich arbeite seit 2019 an der Reduktion der Flugreisen im akademischen Bereich und gerade die Togo-Reise, wo man als Tourist die Opfer der Klimakrise besichtigen sollte, hat mich hart getriggert. Deshalb nun seit April der Kampf gegen die touristischen Reisen für Bildungsbürger*innen von der taz.

Für n bisschen Recht haben, wäre das wohl etwas viel Aufwand.

Gasheizungen und Whataboutismus

Bernhard Pötter schreibt weiter:

Vielleicht helfen ein paar Fakten: In Deutschland verursachen Flüge laut Statistischem Bundesamt und Öko-Institut pro Jahr etwa 28 Millionen Tonnen CO2– ungefähr 3 Prozent der Treibhausgase. Rechnet man alle Faktoren ein, dass Treibhausgase so weit oben in der Luft zum Beispiel noch stärker wirken als am Boden, machen diese Flüge etwa 10 Prozent des deutschen Beitrags zur Erderhitzung aus. Ganz schön happig für eine Aktivität, die zu großem Teil reiner Luxus ist: Zwei Drittel der Flugreisen in Europa und nach Übersee sind Urlaubsreisen.

Fliegen ist die klimaschädlichste Art der Fortbewegung, sie ist weltweit ein Luxus der Reichen und der wohl größte Hebel, mit dem man als Privatperson diesen Planeten ruinieren kann. Wir befinden uns mitten in einem Notstand und müssen schnell an allen möglichen Hebeln ziehen.

Aber Fliegen ist auch hochsymbolisch. Es ist zur Gretchenfrage geworden, ob es jemand ernst meint mit der Klimazukunft – oder ob er oder sie das Engagement nur heuchelt. Dabei hätten andere Themen mindestens genauso viel Aufmerksamkeit verdient.

Wer jetzt noch aus Trotz oder Unwissen die Entscheidung trifft, sich eine Gasheizung anzuschaffen, macht sein Leben sehr klimaschädlich, und das wahrscheinlich auf Jahrzehnte. Das Heizen von Räumen verursacht in Deutschland etwa 150 Millionen Tonnen Kohlendioxid jährlich. Das taugt den meisten Menschen aber anders als das Fliegen nicht für große Emotionen.

Sorry, lieber Herr Pötter, das ist Whataboutism vom Feinsten. Es tut natürlich besonders weh, wenn so etwas vom Lieblingsklimaautor kommt. Wie oft spricht man bei Partys darüber, was die Heizung so macht? Wie viele Städter können die Form ihrer Heizung überhaupt beeinflussen? Wenn sie in einem Miethaus wohnen? Die Entscheidung für eine neue Heizung fällt alle paar Jahre, die für Flugreisen vielleicht mehrfach im Jahr.

Folie zum Klimaschutzkonzept für den Stadtbezirk Pankow. Der größte Teil des CO2-Ausstoßes kommt aus den Haushalten und davon wieder der größte Teil aus der Heizung. 65% aus dem Bereich Heizung kommt von Erdgasheizungen und 21% aus dem Bereich Fernwärme, der ebenfalls nicht mit erneuerbarer Energie betrieben wird. Bürgerbeteiligung Klimaschutzkonzept Pankow, Fröbelstraße, Berlin, 08.07.2024

Und der wichtigste Punkt ist: Eine Heizung braucht man im Winter, eine Flugreise braucht man nicht. Wir haben in unserem Mehrfamilienhaus übrigens Erdwärme, Wärmepumpe und Solarthermie. Und natürlich würde ich das auch jedem und jeder erzählen, die mir von ihrer neuen Gasheizung berichtet.

Auch für mein Leben habe ich beim Reisen keine ideale Lösung. Ich hasse Fliegen. Ich finde es furchtbar, genervt mit anderen Genervten in langen Schlangen zu stehen, mich in einen unbequemen Sitz zu quetschen, schlecht zu essen und zu wissen, wenn etwas schiefgeht, hast du keine Chance. Wie vergleichsweise entspannend sind da die Nachtzüge und verspäteten ICEs mit verstopften Klos und verpassten Anschlusszügen.

Ach, ich fand’s ganz nett, als ich noch geflogen bin. 2017 bin ich sogar Business Class geflogen, weil ich sehr groß bin und die geringen Sitzabstände in der Economy Class eine Qual für mich waren. Das Essen war da ordentlich. Aber ganz im Ernst: Business Class ist noch schlimmer vom CO2-Impact und man sollte eben gar nicht mehr fliegen. Mein letzter privater Flug war 2008 und mein letzter dienstlicher Flug 2017. Zu einem eingeladenen Vortrag in Seoul. Seitdem fliege ich nicht mehr und habe das auch öffentlich gemacht: Ich fliege nicht mehr. Ich bin mehrfach mit Nachtzügen gefahren und das geht ganz gut.

Fliegen, Politik und Journalismus

Trotzdem sitze ich immer mal wieder im Flugzeug. Vor allem, wenn es zu Klimakonferenzen geht – und die hämischen Kommentare können Sie sich jetzt sparen: Jedes Champions-League-Spiel treibt mehr Menschen in ein Flugzeug als die Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen.

Das hatte ich ja auch im Gespräch mit Christian Jakob gesagt: Journalist*innen und Politiker*innen sind die Ausnahme. Die taz hat ein gutes Netz von Auslandskorrespondent*innen und wenn jemand vor Ort ist, muss auch nicht viel geflogen werden. Fachjournalist*innen müssen zu wichtigen Ereignissen gelangen. Ob sie mit der grünen Außenministerin mitfliegen müssen, müssen sie bzw. Sie mit ihrem Gewissen ausmachen (Pötterer. 2024. Arbeiten mit Flugscham: Als ich neulich in Neuseeland war).

Und ja, selten steige ich auch privat ins Flugzeug. Um die US-Verwandtschaft mal wieder zu sehen. Um die Gastfamilien der Kinder in Lateinamerika zu besuchen. Aber viel öfter mache ich mich bei Freunden und Verwandten unbeliebt, wenn ich nicht für zwei Wochen nach Portugal oder zum Wochenende nach Mallorca mitkommen will. Und nach Stockholm, Oslo, Korsika und Toulon kommen wir auch gut mit dem Zug.

Vielleicht schauen Sie den Beitrag Sind Fluggäste Mörder? an und wägen noch einmal neu ab, ob die Interkontinentalflüge noch vertretbar sind. Es sieht so aus, als seien wir gerade auf die individuelle Ebene abgerutscht, aber das stimmt nicht, denn Sie sind als Journalist eine öffentliche Person. Sie bilden Meinung. Sie sind ein Vorbild. Sie sind die Beruhigungspille für meine Freunde aus dem Prenzlauer Berg. Wenn der Pötter als Ober-Öko das Fliegen OK findet, kann ich es auch machen.

Aktivismus, Framing und Vorbilder

Aber es geht ja ums große Ganze: oben oder unten? Und das ist schon Teil des Problems.

Denn die Idee, eine richtige Botschaft brauche ideale BotschafterInnen, ist so alt wie falsch. Das Ideal einer lebendigen Demokratie wird auch durch korrupte Politiker nicht erledigt, freie Medien bleiben ein hohes Gut, auch wenn sie Unsinn verbreiten. Yannick Seuthe, der „Bali-Flieger“, der als Mitglied der Letzten Generation einen Flug nach Thailand buchte und trotzdem Flughäfen blockiert, sagt zu Recht: „Ich muss kein perfekter Mensch sein, um für meine Grundrechte einzustehen.“

Das ist recht lustig, wenn einem der Medien-Profi erklärt, dass das eigene Verhalten im Kampf für ein Ziel keine Rolle spielt. Natürlich haben Sie im Prinzip Recht: Es geht um die Frage individuelles Verhalten und Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene. Nur geht es andererseits auch um Glaubwürdigkeit. Die Bali-Geschichte, die ja eine Thailand-Geschichte war, war das größte PR-Desaster der Letzten Generation in der gesamten Zeit, die diese Bewegung existiert (seit 2021). Die Gegenseite wartet nur auf solche Fehler.

Ich habe 2021 eine Demonstration von Extinction Rebellion zur Wahltour der CDU fotografiert. Meine Agenturchefin rief mich extra an, um mir zu sagen, dass ich Bilder von Müll machen sollte, wenn irgendwo bei der Demo welcher liegen gelassen würde. Es gäbe Kunden, die dafür zahlen würden.

Die In von Extinction Rebellion vor dem Tempodrom währen des CDU-Wahlkampfendes mit Laschet. Meine Agenturchefin rief mich an und bat um Bilder mit Müll von Aktivist*innen, Berlin, 21.08.2021

Der CO2-Ausstoß eines Thailandfluges ist der größte und für die Gegenseite beste Müll, den man als Einzelner produzieren kann (Niko Paech, 2019), aber das sagten Sie ja oben bereits selbst. Es geht um Framing. Das sollten Sie als Profi wissen. Die Gegenseite framet die Grünen (#veggiDay usw.) und die Klimas als Menschen, die anderen etwas vorschreiben wollen, aber selbst nicht entsprechend handeln. Das entlastet all jene, die verdrängen und klimaunverträglich handeln wollen. Schlussfolgerung: Wenn man sich politisch exponiert, muss man höhere Ansprüche erfüllen, als wenn man als Privatperson unterwegs ist. Das gilt für Außenminister*innen, die mal eben ein Nachtflugverbot aushebeln, um per Kurzstreckenflug zum Fußball zu fliegen (taz 05.07.2024) genauso wie für Klimaaktivist*innen, die eben nicht nach Thailand fliegen und auch keine Mützen vom Jeep Club South Africa aufsetzen sollten. Über letztere habe ich in No Logo? Logo geschrieben.

Werbung für J*e*e*p South Africa-Club auf der Mütze eine Klimaaktivistin

Und die ganze Frage stellt sich natürlich noch einmal auf der überindividuellen Ebene: Wie glaubwürdig wäre German Zero, wenn auf ihren Webseiten Werbung für RWE geschaltet würde? Wenn German Zero einen Teil ihrer Einkünfte aus Kohlegeschäften bekommen würde? Wie glaubwürdig wäre Changing Cities, wenn ein Teil ihres Budgets aus Verkäufen und Werbung für Porsche-SUVs stammen würde? Wenn das Drogenhilfsprojekt Fixpunkt e.V. einen Teil seiner Einkünfte aus dem Verkauf von Heroin bekommen würde? Sollten sie Förderern anbieten, mal gemeinsam mit den Junkies vom Bahnhof einen Tag zu verbringen und sich selbst Heroin zu spritzen? Als ultimative Experience, damit die Förderer des Elend nachvollziehen können? Wie glaubwürdig ist eine Öko- und Bewegungszeitung, wenn sie Flugreisen organisiert und bewirbt?

Politikverdrossenheit und moralische Standards bei Politiker*innen

Und noch als Letztes zu diesem Punkt: „Das Ideal einer lebendigen Demokratie wird auch durch korrupte Politiker nicht erledigt“. Glauben Sie das ernsthaft selbst? Ja, sicher wird das Ideal nicht erledigt, aber schauen Sie sich den Osten an, schauen Sie sich Gründe für Politikverdrossenheit an. Lässt es Sie kalt, wenn Scheuer unsere Steuergelder in den Sand setzt und nicht dafür zur Verantwortung gezogen wird? Dass niemand mehr zurücktritt? Egal wie groß das Vergehen ist? Dass viele, viele Politiker*innen Betrüger*innen sind, die in ihren Dissertationen plagiert, also Ideen und Textteile gestohlen, haben? Ist das nicht höchst frustrierend? Ja. Das schadet der Demokratie.

Die Unterscheidung in Gut und Böse, Kompromisse und die Lösung von Problemen

Weiter im Text:

Wenn man die Flugdebatte moralisch auflädt, lauern große Gefahren: Man geht den Anti-Öko-Narrativen auf den Leim, die Krawall wollen und die Unterscheidung in Gut und Böse. Diese Identitätsdebatte lässt keinen Raum mehr für die Suche nach echten Lösungen.

Ach so. Wo sollen wir denn suchen? Ich glaube, die Lösungen stehen alle oben. Sofortige Streichung der Subventionen. Werbeverbot. Hohe Preise oder Kontingente. Andere Lösungen sehe ich nicht und diese reichen ja auch völlig aus. Sie müssen jetzt nur umgesetzt werden. Wie kommen wir da hin? Über Argumentationen für diese Lösungen? Wie können die aussehen? Wie soll man denn argumentieren, wenn Moral keine Rolle spielen darf? Warum darf man „Du sollst nicht töten!“ nicht erwähnen? Und wieso darf ich keine Maximalforderungen stellen? Natürlich darf ich das! Der Kompromiss wird mit der Gegenseite ausgehandelt und deren Standpunkt ist, dass alles so bleibt, wie es ist. Es wurde übrigens schon einmal ein Kompromiss ausgehandelt: in Paris. Die Welt hat sich auf ein Klimaziel deutlich unter 2 Grad geeinigt. Davon sind wir aber derzeit weit entfernt (climateactiontracker). Zu fordern, dass wir jetzt selbst den Kompromiss vorschlagen, damit die Anti-Ökos uns lieben, ist schräg.

Statt auf sinnvolle Regulierung zu setzen, wollen die rechten Bremser in Union und FDP alles über angeblichen technischen Fortschritt („Technologieoffenheit“) lösen – und es dem Einzelnen überlassen, was er oder sie tut. Ähnlich individualisiert ist da von der Gegenseite die Forderung nach moralisch einwandfreiem Verhalten.

Das nämlich löst kein kollektives Problem, wie wir es beim Fliegen haben. Es löst nicht den Skandal des steuerfreien Kerosins, es bringt uns nicht internationalen Abkommen zur Besteuerung von Flügen oder dem Verbot von Privatjets näher. Es liefert keinen technischen Durchbruch bei der Entwicklung und massenhaften Produktion von klima­neutralen E-Fuels.

Ja. Bzw. Nein. Nein, doch nicht. Es gibt die individuelle Ebene und dann die politische Ebene. Wenn nun aber alle Deutschen oder alle Europäer oder einfach alle einsehen würden, dass Fliegen verwerflich ist und nicht mehr fliegen würden oder zumindest bereit wären, nicht mehr zu fliegen, wenn auch die anderen nicht mehr fliegen, dann wären auch entsprechende politische Reglungen leichter umsetzbar. Es gibt Studien, die zeigen, dass individuelles Handeln auch Änderungen in der Gesellschaft bewirken. Menschen machen, was Menschen machen. Deswegen ist auch unser individuelles Verhalten wichtig. (siehe Warum individuelle Verhaltensänderungen wichtig sind von 2022)

Politik und Individuen

Das geht nur über gute, alte, langweilige Politik, also über kollektives Handeln. Und für ein gutes Verhandlungsergebnis sind andere Dinge wichtiger als eine blitzblanke Moral der VerhandlerInnen.

Ja. Aber es ist wichtig, dass es viele Individuen gibt, die im Prinzip bereit sind zu solch kollektivem Handeln und dafür ist ein Bewusstseinsbildungsprozess wichtig.

Am Ende muss aber natürlich wenig bis gar kein Fliegen herauskommen, solange das nicht annähernd klimaneutral geht, das ist auch klar. Nur sollte das eben keine moralischen Höchstleistungen der einzelnen Menschen erfordern, sondern durch die richtigen Strukturen ermöglicht werden.

Genau. Ein Anfang wäre, dass die taz nicht mehr für Flugreisen wirbt und diese als etwas Normales darstellt. Ihr Artikel legt nahe, dass Fliegen zwar schädlich ist, aber auch touristisches Fliegen irgendwie trotzdem doch manchmal gerechtfertigt ist. Damit fliegen Sie nicht nur selber, Sie reduzieren auch die Gewissensbisse anderer. Wie viel Einzelne dann fliegen, liegt in deren Ermessen. Ganz prima FDP-mäßig. Dieser Artikel geht dann leider auch von Ihrem sonst hervorragenden Handabdruck ab.

Kulturkampf, politischer Kompromiss und Übergriffigkeit oder die Arbeit in einer Rüstungsfirma

Wer sich von Öko-Seite auf einen Kulturkampf einlässt, diskreditiert den politischen Kompromiss. Dann ist der Aktivismus nicht an einer Lösung interessiert, sondern will den anderen vor allem seine Art zu denken und zu leben aufdrängen. Das ist nicht nur übergriffig, sondern geht auch schief.

Nun ja. Siehe oben. Die Fakten sehen so aus: Fliegen tötet. Es tötet Schwache. Das ist die Grundlage für jede Abwägung. Wenn man in einer Rüstungsfirma arbeitet, die Waffen für Kriege herstellt, weiß man, dass man mit dem Tod anderer Menschen Geld verdient. Wenn man in einer Firma arbeitet, die Flugreisen organisiert, weiß man, dass diese Firma mit dem Tod anderer Menschen Geld verdient. Christian Jakob und auch Thomas Hartmann, der Chef der taz-Reisen, hat diese Tode gegen andere Vorteile wie Kontakt zwischen Völkern aufgewogen. Christian Jakob in dem in der taz dokumentierten Gespräch und Thomas Hartmann in einem Telefonat mit mir. Sie sind der Meinung, dass der Nutzen der Reisen höher ist. Wie viele Leben durch taz-Reisen gerettet werden, konnte aber bisher niemand abschätzen. Wie viele Menschen durch verbrannten Kohlenstoff sterben, wurde dagegen schon abgeschätzt. Es gibt die 1000-Tonnen-Regel, die besagt, dass für 1000 Tonnen verbrannten Kohlenstoff ein Mensch in der Zukunft vorzeitig stirbt (Parncutt 2019, Pearce & Parncutt 2023). 1000 Tonnen Kohlenstoff sind 3.700 Tonnen CO2. Ich habe mit dieser 1000-Tonnen-Regel berechnet, dass die Passagiere in einem voll besetzten Flug nach Sydney gemeinsam für den Tod von 0,61 Menschen verantwortlich sind. Fliegen tötet.

Die Gefahr dabei, wie oft in linken und ökologischen Bewegungen: Wir verkämpfen uns bis aufs Blut bei Details und lassen die großen Gegner dabei ungeschoren. Fürs Rechthaben sind manche bereit, den ganzen Laden niederzubrennen, statt zu sehen, wo eigentlich der Feind steht.

Ich sehe das sehr klar. Ich möchte nichts niederbrennen. Ich habe Stand heute 30.000€ in Form potentieller Genossenschaftsanteile für meine Öko-Zeitung besorgt. Sie muss nur einfach aufhören, tödliche Produkte zu organisieren und zu bewerben, dann bekommt sie das Geld. Ich erinnere hier noch einmal gern an das World Media-Projekt, aus dem die taz ausgestiegen ist, weil die Pariser Projektkoordination darauf bestand, Werbung für Aérospatiale, eine Militärfirma, zu machen (1992, taz ohne Rüstung).

Schluss

Nicht in ein Flugzeug zu steigen, ist eine ehrenhafte Weigerung, an der Klimakrise mitzuwirken. Das allein löst aber das Problem nicht. Dafür braucht es Allianzen. Und die werden durch moralischen Rigorismus eher schwieriger als einfacher. So kompliziert ist das. Ach ja, das Fliegen. Seufz.

Meinetwegen sollen alle fliegen, wie sie wollen. Ich diskutiere mit meinen Freunden darüber nicht, denn es ist genau so, wie Sie sagen. Als Gesellschaft sollten wir aber darüber diskutieren, was unser Handeln bewirkt. Und Moral ist dabei eine wichtige Kategorie. Ich bin deshalb sehr froh, dass das Thema wieder in der taz diskutiert wird. Wenn uns allen klar ist, was Flüge bewirken, dann sollte auch klar sein, dass die taz keine Flugreisen mehr anbieten darf. Schon gar keine nach Togo mit dem Ziel, Gründe für Migration zu verstehen.

PS: Smart move, die Reise nach Togo erst mal abzusagen. Bleiben aber noch die Reisen nach Marokko, Dschidda (Saudi-Arabien), Kuba und Vietnam.

Werbung für Flugreisen in der taz: Togo, Marokko, Dschidda (Saudi-Arabien), Istanbul, 17.07.2024

Quellen

Althaus, Theresa. 2024. Klimakrise: Warum eure Doppelmoral mir auf die Nerven geht. WAZ. 03.08.2024. (https://www.waz.de/rhein-und-ruhr/article406898516/klimakrise-eure-doppelmoral-geht-mir-auf-die-nerven.html)

MR/M.S. 1992. TAZ INTERN: taz ohne Rüstung. taz. Berlin. (https://taz.de/Archiv-Suche/!1656941)

Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)

Pearce, Joshua M. & Parncutt, Richard. 2023. Quantifying Global Greenhouse Gas Emissions in Human Deaths to Guide Energy Policy. Energies 16(6074). 1–20. (doi:10.3390/en16166074)

Matthias Politycki vs. Niko Paech: Müssen wir reisen? 2019. Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/matthias-politycki-vs-niko-paech-muessen-wir-reisen-100.html)

Pötter, Bernhard. 2024. Arbeiten mit Flugscham: Als ich neulich in Neuseeland war. taz 10.05.2024. Berlin. (https://taz.de/Arbeiten-mit-Flugscham/!6009490)

Schier, Mike. 2019. Grünen-Abgeordneter: „Wir müssen die Lust-Vielfliegerei eindämmen“. Merkur. (https://www.merkur.de/politik/janecek-will-flugverkehr-reduzieren-11835782.html)

Schöneberg, Kai & Schwarz, Susanne. 2024. Streitgespräch über Klimaschutz: Soll die taz noch abheben? taz 03.08.2024. Berlin. (https://taz.de/Streitgespraech-ueber-Klimaschutz/!6024962/)

Scientist for Future. 2024. Stellungnahme von Scientists For Future-Aktiven zu Klima-Forderungen der Hungerstreikenden im Regierungsviertel. (https://de.scientists4future.org/stellungnahme-s4f-klimaforderungen-hungerstreikende/)

Schwarz, Susanne. 2024. Baerbocks Kurzstreckenflug: Desas­tröse Signale. taz 05.07.2024. Berlin. (https://taz.de/Baerbocks-Kurzstreckenflug/!6019210/)

Umweltbundesamt. 2024. Gesellschaftliche Kosten von Umweltbelastungen. (https://www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-wirtschaft/gesellschaftliche-kosten-von-umweltbelastungen#klimakosten-von-treibhausgas-emissionen)

Friedliche Proteste und adäquate Möglichkeiten für die Polizei

Es hat doch als Antwort auf meinen Blog-Post zu Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Polizeigewalt tatsächlich jemand gefragt, wie die Polizei ohne Folter ihre Polizeiarbeit machen soll! Also so ganz ohne gebrochene Handgelenke, vor Schmerzen schreienden Aktivist*innen und Druck auf Druckpunkte hinter dem Ohr?

Turbodemokrat fragt doch in der Tat, wie die Polizei ohne Folter ihre Polizeiarbeit machen soll.

Bei Turbodemokrat handelt es sich sicher um einen Troll, obwohl die auf Mastodon recht selten sind. Ich möchte hier ein paar Möglichkeiten aufführen, wie man Menschen ohne Gewalt von der Straße bekommt. Darunter sind einige, die auch Polizist*innen „mit Rücken“ einsetzen können. Das scheinen immerhin 98% der Berliner Polizisten zu sein, wenn man ihren Ansagen vor dem Einsatz von Schmerzgriffen glauben schenken kann (sarkastische Übertreibung).

Also: Es gibt mindestens fünf Möglichkeiten, Aktivist*innen von der Straße zu bekommen:

  1. Warten, bis sie wieder gehen
  2. Wegtragen als Päckchen,
  3. Wegrollern mit floor-board,
  4. Wegrollern mit Euro-Palette,
  5. Wegschleifen mit Trage.

Alle sind in Berlin schon zum Einsatz gekommen und ich habe sie auch selbst fotografiert. Es folgen die Möglichkeiten.

Warten

In anderen Städten werden bei Klima-Protesten die Straßen gesperrt, die Aktivist*innen demonstrieren und gehen irgendwann selbst nach Hause. Das folgende Bild zeigt Aktivist*innen verschiedener Klimagruppen auf der Straße des 17. Juli.

Zweite Massenblockade der Letzten Generation und anderer Klimagruppen an der Siegessäule, Berlin, 28.10.2023

Die Polizei ließ die Aktivist*innen gewähren, es gab keine Gewalt. Reden wurden gehalten, Lieder gesungen, nach einigen Stunden gingen alle friedlich nach Hause bzw. essen zur Küche für alle (Küfa).

Diese Strategie wurde auch bei Bauernprotesten mehrfach erfolgreich angewendet.

Päckchen

Wenn eine Straße nach Verlegung des Veranstaltungsortes und drei Durchsagen schnell geräumt werden muss, ist das mildeste Mittel das Wegtragen. Aktivist*innen setzen sich meist mit angezogenen Knien und untergeschlagenen Armen hin, so dass sie die Polizist*innen wegtragen können. Aktivist*innen und Polizist*innen üben ihre Parts vorher. Natürlich nicht gemeinsam.

Aktivistinnen von Extinction Rebellion machen ein Päckchen und werden nach der Blockade des Schlesischen Tors abtransportiert. Schlesisches Tor, Berlin, 17.09.22

Manche Polizist*innen sind so stark, dass sie eine Aktivist*in allein tragen können.

Räumung der Blockade von Extinction Rebellion durch die Polizei. Rebellen von Extinction Rebellion haben die Marschallbrücke blockiert, um auf den IPCC-Report hinzuweisen. Berlin, 05.03.2022

Davon ist aber aus Arbeitsschutzgründen abzuraten, da das eventuell zu Rückenproblemen führen kann.

Floor board

Aktivist*innen, die ein Päckchen machen, kann man auf ein floor board setzen. Man kann sie dann bequem wegrollern. Das können auch Polizist*innen, die eigentlich in der Rücken-Reha sein müssten.

Aktivistin von Extinction Rebellion macht ein Päckchen und wird von der Polizei mit einem floar board weggerollt. August Riseup, Brandenburger Tor, Berlin, 20.08.2021

Mit floor boards kann man sogar zwei mit einem Rohr verbundene Aktivist*innen transportieren.

Räumung der Blockade von Extinction Rebellion durch die Polizei. Rebellen von Extinction Rebellion haben die Marschallbrücke blockiert, um auf den IPCC-Report hinzuweisen. Berlin, 05.03.2022

Euro-Paletten

Euro-Paletten bieten noch mehr Platz. Hier werden zwei verklebte Aktivist*innen transportiert. Ein dritter darf zusätzlich mitfahren.

Miteinander verklebte Aktivisten der Letzten Generation werden auf Euro-Paletten zur Personalienfeststellung gefahren. Massenblockade der Straße des 17. Juni. Berlin, 28.10.2023

Ein massives Problem und seine Lösung: Krankentrage

Bei der ungehorsamen Versammlung der Letzten Generation am 25.05.2024 hatte die Polizei ein massives Problem: Der Koch der Letzten Generation hatte sich einfach auf die Straße gelegt und war nicht dazu zu bewegen, diese wieder zu verlassen. Ein Polizist fragte ihn, ob er denn die Straße freiwillig wieder verlassen würde und der Aktivist meinte: „Ja.“ Der Polizist fragte weiter, wann er denn zu gehen gedenke und die Antwort war 17:00. Es war da etwa 14:00 Uhr, die Blockade hatte um 12:00 begonnen.

Aktivist mit Schild: „Klimaschutz ist die beste Medizin.“, das ihn vor Sonne schützt. Auf seinem T-Shirt steht: „Eltern haften für ihre Kinder!“ Blockade am Hauptbahnhof durch Letzte Generation, Berlin, 25.05.2024

Die Polizei musste ihn also selbst bewegen. Das folgende Bild zeigt, dass in den Mannschaftswagen der Polizei auch floor boards transportiert werden. Das sind wahre Schatztruhen: Maschinenpistolen, Besen zum Straßefegen und floor boards sind immer mit dabei. Oder immer öfter.

Die Polizei hat ein Floorboard für den Transport besorgt. Blockade am Hauptbahnhof durch Letzte Generation, Berlin, 25.05.2024

Der Koch war aber zu groß für das floor board und die Mannschaftswagen sind wohl zu klein für Euro-Paletten und das entsprechende Palettentransportgerät. Jedenfalls gab es noch eine andere Lösung: die Krankentrage.

Transport eines übergewichtigen Aktivisten in einer Schale bei Blockade durch Letzte Generation am Hauptbahnhof. Berlin, 25.05.2024

Fünf Polizisten fixierten den Aktivisten auf der Krankentrage, wie man auf dem nächsten Bild sehen kann, auch mit Handschellen.

Transport eines übergewichtigen Aktivisten in einer Schale bei Blockade durch Letzte Generation am Hauptbahnhof. Er ist mit Handschellen gefesselt und angegurtet. Berlin, 25.05.2024

Dann wurde er von der Straße geschleift.

Varianten: An den Füßen schleifen

Eine besondere Variante kam mir am 20.10.2023 unter. Ich weiß nicht, ob das so in der Polizeiausbildung gelehrt wird. Prinzipiell scheint es sich um eine Variante der im vorigen Abschnitt vorgestellten Transportart mit Trage zu handeln. Nur ohne Trage halt.

Polizisten schleifen Aktivisten der Letzten Generation an den Füßen von der Straße. Er ruft immer wieder: „Ich bin ein Mensch!“, die Polizisten antworten beide: „Ich bin auch ein Mensch.“ Bei Blockade der Prenzlauer Allee/Danziger Allee, Berlin, 20.10.2023

Bei dieser Transportform geht die Jacke kaputt, aber zumindest werden keine Handgelenke gebrochen oder Schmerzpunkte am Kiefer bzw. hinter den Ohren gedrückt.

Schlussfolgerung

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Aktivist*innen, die zivilen Ungehorsam leisten, von der Straße zu bekommen. Die erste und einfachste, die ich bisher kennengelernt habe, besteht darin, abzuwarten, bis sie von selbst gehen. Ansonsten kann man sie von der Straße tragen. In Berlin ist vieles kaputt, aber ich hoffe, dass nicht alle Polizistenrücken kaputt sind, von denen das behauptet wird. Sollte das doch der Fall sein, dann können floor boards oder Euro-Paletten benutzt werden. Oder Tragen.

Es gibt keinen Grund für Schmerzgriffe oder Folter. Menschen über körperliche Züchtigungen vom Demonstrieren abzuhalten ist nicht die Aufgabe der Polizei. Es ist die Aufgabe von niemandem in diesem Land.