Zuletzt geändert am 16. September 2024
Diesen Brief habe ich an die Mitarbeiter*innen meines Instituts geschrieben, nachdem mich zwei Personen um die Genehmigung ihrer Flugreise nach Sizilien gebeten hatten.
Liebe alle,
Ich wurde von zwei Personen um die Genehmigung ihrer Dienstreise nach Sizilien gebeten. Die Reisen sind mit Flug geplant. Wie Ihr wisst, genehmige ich seit 2022 keine Reisen mit Flügen mehr (Flüge, CO2, Verantwortung und Mitschuld). Das bedeutet nicht, dass die Reisen nicht stattfinden können, denn andere Personen mit den entsprechenden Befugnissen können die Reise genehmigen. 2022 war ich stellvertretender Institutsdirektor. Ich habe damals meinen Entschluss mitgeteilt. Inzwischen habt Ihr mich zum Institutsdirektor gewählt. Ich möchte den Anlass nutzen, erneut ein paar Dinge zur Klimakatastrophe zu sagen und zu versuchen, mein Handeln zu erklären.
Die Klimakatastrophe ist da, es gibt kein CO2-Restbudget
In den Monaten von März bis Juni gab es wieder einen Hungerstreik. Mehrere Klimaaktivist*innen haben gestreikt, darunter die Mutter zweier Kinder. Wissenschaftler*innen von Scientist Rebellion haben solidarisch gefastet. Wolfgang Metzeler-Kick, Ingenieur für Technischen Umweltschutz, war insgesamt fast 100 Tage im Hungerstreik.
Wolfgang Metzler-Kick war bereit, Hungers zu sterben, damit vier Fakten in das Bewusstsein der Bevölkerungen dringen:
- Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation ist durch die Klimakatastrophe extrem gefährdet.
- Der CO₂-Gehalt in der Luft ist viel zu hoch (0,42 ‰). Der Weltklimarat zeigt einen Weg (SSP1-1.9 “1,5°-Pfad”), mit dem die Menschheit die beste Überlebenschance hat.
- Dieser Pfad hat einen Zielwert von 0,35 ‰ (bis zum Jahr 2150). Das bedeutet, es sind bereits jetzt hunderte Gigatonnen zu viel CO₂ in der Luft.
- Wir müssen jetzt, wenn auch mit Jahren Verspätung, radikal umsteuern.
Die Hungerstreikenden waren in Kontakt mit den Scientists 4 Future und diese haben die vier Punkte der Hungerstreikenden überprüft und eine Aussage korrigiert. In ihrer Presseerklärung vom 06.05.2024 haben sie die vier Punkte, die oben aufgeführt sind, formuliert.
Die Scientists schreiben dazu:
Diese Feststellungen sind wissenschaftlich solide und vernünftig. Die Erderhitzung ist unzweifelhaft eine existenzielle Gefahr für die menschliche Gesellschaft, im Sinne nicht nur der angesprochenen „Überlebenschancen“, sondern eines menschenwürdigen Lebens und einer Lebensweise, die mit dem Erdsystem verträglich ist. Ebenso unzweifelhaft ist die Erderhitzung überwiegend die Folge des ungebremsten Verbrennens von Kohle, Gas und Öl, worauf die Energieversorgung der meisten Volkswirtschaften immer noch gründet. Letztlich tun die Regierungen der Welt zweifellos viel zu wenig, um die technisch mögliche und finanziell machbare Defossilisierung voranzutreiben.
Presseerklärung der Scientists 4 Future vom 06.05.2024
Zur Einordnung: Scientists 4 Future ist eine Vereinigung von Wissenschaftler*innen, die zum Thema Klimawandel arbeiten und sich für eine entsprechende Politik engagieren. Es ist die Fakt-Checking-Organisation hinter Fridays for Future. Das Fachkollegium, das für die Presseerklärungen verantwortlich ist, besteht aus hoch angesehenen Professor*innen aus dem Klimabereich. Ein Gründungsmitglied ist zum Beispiel der Klimageograph und Vizepräsident für Forschung der Humboldt-Universität Prof. Dr. Christoph Schneider.
Noch mal im Detail: Was bedeuten diese vier Punkte? Der erste Punkt ist klar: Die menschliche Zivilisation ist in Gefahr. Zu dieser Zivilisation gehören Kunst und Kultur, gehören Sprachen. Sprachen, die Ihr liebt und erforscht. In Gesellschaften, die sich im Existenzkampf befinden, wird es dafür keine Ressourcen mehr geben. Der zweite Punkt ist: Wir sind bei 424 parts per million (ppm) CO2-Gehalt in der Luft. Wir müssen zu 350 ppm zurück. Ist es da schlau weiteres CO2 auszustoßen? Zumal nicht geklärt ist, wie das Rückholen von CO2 und die Speicherung von CO2 ohne mögliche Leckagen im Gigatonnen-Berich funktionieren kann.
Selbst wenn man – wie die IPCC-Szenarien – davon ausgeht, dass wir noch in einem gewissen Rahmen CO2 emittieren können, das wir dann eben zurückholen müssen, ist das Kontingent, das wir als Deutsche nach dem Pariser Abkommen für die Erreichung des 1,5°-Ziels noch hatten, seit diesem März aufgebraucht. Das zeigt der Sachverständigenrat für Umweltfragen in einer Veröffentlichung (SRU, 2024). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen ist ein Gremium, das die Bundesregierung berät. Zu den sieben Personen in diesem Rat gehört seit 2016 Prof. Dr. Wolfgang Lucht (Physiker und Geographieprofessor der Bereiche Klimaforschung, Erdsystemanalyse und Nachhaltigkeitswissenschaft ebenfalls von der Humboldt-Uni und vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung).
Wenn aber selbst dieses Budget aufgebraucht ist und wir aber irgendwie leben müssen (essen, heizen, Kleidung, Bahn fahren, das Fahrrad reparieren), dann sollten wir wohl als Gesellschaft darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist und was nicht.
Der letzte Brief, den ich Euch geschrieben habe, ist von 2022. Jetzt ist es inzwischen 2024. 2024 war der heißeste Sommer, der jemals gemessen wurde (afp, 06.09.2024). Der zweitheißeste war 2023. Die Scientists 4 Future kommen mit der Aktualisierung ihrer Demomaterialien gar nicht hinterher.
Dieser weitere Anstieg der Temperatur in den letzten beiden Jahren seit 2022 war verbunden mit vielerlei Katastrophen: Dürre, Hitze, Hunger, Fluten. Die Klimaveränderungen führen zum Einwandern von Arten in unsere Lebensbereiche. Zum Beispiel die Tiegermücke wird hier heimisch. Sie überträgt gefährliche Krankheiten wie das Dengue-Fieber.
Fliegen tötet
Bei einer Diskussion von Flugreisen im Jahr 2022 hatte ich auch Parncutt (2019) erwähnt, der berechnet hat, wie viele zukünftige Tote die Verbrennung von Kohlenstoff bewirkt. Seinen Abschätzungen nach führen 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff zu einem vorzeitigen klimabedingten Toten (die 1000-Tonnen-Regel). 1000 Tonnen verbrannter Kohlenstoff erzeugen 3700 Tonnen CO2. Man kann also leicht ausrechnen, wie viele Menschen bei einem gewissen Flugaufkommen sterben werden. In diesem Jahr versuche ich, die taz davon abzubringen, touristische Flugreisen zu organisieren und zu bewerben (Gespräch in der taz). Bei den Gesprächen wurden die Zahlen von Parncutt in Frage gestellt. Im Zuge der Diskussion habe ich eine aktuelle Veröffentlichung von Pearce & Parncutt (2023) zum Thema gefunden, die die Argumentation ausbaut, und ich habe die Abschätzung eines Journalisten besprochen, der fand, dass Parncutts Zahlen und meine Berechnungen um Größenordnungen falsch liegen. Interessanterweise kam bei dieser Diskussion heraus, dass die Abschätzungen, auf die sich der Journalist bezog, in derselben Größenordnung liegen. Siehe Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen. Das halte ich für eine gute Bestätigung dieser Abschätzungen. Als Ergebnis bleibt die Schlussfolgerung von Parncutt (2019):
Therefore, flying should be made more expensive (e.g. by carbon taxes) and reserved for emergencies and life-saving projects.
Parncutt, Richard. 2019. The human cost of anthropogenic global warming: Semi-quantitative prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. S. 12.
Sizilien als Reiseziel
Sizilien liegt in Europa. Es ist mit dem Zug + Fähre erreichbar (Brouter: Berlin, München, Bologna Centrale, Siracusa, Noto, 32 Stunden mit Nachtzug von Bologna nach Siracusa). Sprachwissenschaftler*innen können in Zügen arbeiten. Es gäbe also keinen Grund zu fliegen. Wenn man es dennoch tut, kann man die Insel von oben sehen. Man kann die Katastrophe sehen, die man selbst gerade mit seinem Flug verstärkt:
In Sizilien gibt es die schlimmste Dürre seit 20 Jahren. Die Bauern schlachten ihre Tiere, weil sie nicht genug Wasser haben. Das Wasser wird für die Bevölkerung rationiert. Der Tourismus ist nicht betroffen. Die Konferenz wird in einem klimatisierten Hotel stattfinden. Es wird wunderbar. Man kann mit anderen Wissenschaftler*innen interessante Probleme besprechen. Das Essen wird sicher gut sein. Ein Salat mit Ziegenkäse vielleicht? Wenn die Konferenzteilnehmer*innen nicht rausgehen, werden sie auch nicht mit der unterversorgten Bevölkerung ringsum in Kontakt kommen. Sie werden nicht erfahren, dass die Bauern ihre Ziegen schlachten müssen und vielleicht in einigen Jahren der Ziegenkäse aus Deutschland importiert werden wird.
Wenn Ihr mit dem Flugzeug einschwebt, werdet ihr das vertrocknete Land sehen können und die leeren Wasserbecken. Achtet darauf! Ich möchte, dass Ihr Euch das für immer merkt! Dass Ihr es nie vergessen könnt.
Bin nur ich es, der das alles pervers findet?
Genehmigung von Flugreisen
Ich kann die aktuelle Situation nicht verdrängen. Ich beneide Euch darum, dass Ihr es könnt. Ich kann verdrängen, dass Ihr fliegt. Bitte erinnert mich nicht daran. Bitte treibt mich nicht in die Verzweiflung. Behaltet die Tatsache für Euch, bittet mich nicht um Genehmigungen. Macht das mit Eurem Gewissen aus. Ist es wichtig zu fliegen? Wofür? Muss ich diese Aktivität unternehmen, das schlimmste Umweltverbrechen, das man legal als Einzelperson begehen kann (Niko Paech 2019)? Und wenn Ihr die Frage mit Ja beantwortet, dann schämt Euch und sagt mir nichts davon und bittet mich nicht um Beihilfe. Ich werde nicht unterschrieben. Wenn Ihr mir dennoch schreibt, werdet Ihr eine Reaktion wie diesen Brief bekommen. Ihr werdet Daten und Fakten über Euer Reiseziel bekommen und ich werde Euch aufzeigen, wie Ihr gerade dieses Ziel mit Euren Aktivitäten zerstört. Sei es Vanuatu, seien es die Gebiete in Südamerika. Fragt mich nicht. Bitte!
Ich hoffe, dass der Tag kommen wird, an dem Ihr versteht, warum ich so handele, wie ich handele. Ich hoffe, dass er bald kommt.
Quellen
afp. 2024. Globale Rekordtemperaturen: Der heißeste Sommer – weltweit. taz. Berlin. (https://taz.de/Globale-Rekordtemperaturen/!6035053/)
Matthias Politycki vs. Niko Paech: Müssen wir reisen? 2019. Deutschlandfunk. (https://www.deutschlandfunk.de/matthias-politycki-vs-niko-paech-muessen-wir-reisen-100.html)
Parncutt, Richard. 2019. The Human Cost of Anthropogenic Global Warming: Semi-Quantitative Prediction and the 1,000-Tonne Rule. frontiers in Psychology 10(2323). 1–17. (doi:10.3389/fpsyg.2019.02323)
Pearce, Joshua M. & Parncutt, Richard. 2023. Quantifying Global Greenhouse Gas Emissions in Human Deaths to Guide Energy Policy. Energies 16(6074). 1–20. (doi:10.3390/en16166074)
Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2022. Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.html)
Sachverständigenrat für Umweltfragen. 2024. Wo stehen wir beim CO2-Budget? Eine Aktualisierung. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. (https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2024_03_CO2_Budget.pdf?__blob=publicationFile&v=8)
Richtig so.
Danke !
Ein starker Post! Würden sich nur alle Profs in DE so engagieren, könnte es schon was bewewgen…
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Dem kann ich nur vollumfänglich zustimmen (ich bin Physiker und auch bei Scientists for Future aktiv).