Bernhard Pötter schreibt in der taz zu Klimathemen. Ich schätze Ihn sehr. Zur Letzten Generation hat er geschrieben:
Verglichen mit ihrem Pathos und ihrem Störpotenzial sind ihre Forderungen fast banal: Tempolimit, 49-Euro-Ticket, Bürgerrat, Gespräche mit der Regierung, wie am Beginn der Woche mit Verkehrsminister Volker Wissing. Alles gute Ideen – aber nichts, was uns einer echten Veränderung des fossilen Systems wirklich näher bringt. Keine Disruption.
Bernhard Pötter, Debatte um Letzte Generation: Klimakleben für alle, 06.05.2023, taz
Ich denke, dass Bernhard Pötter das Potenzial der Bürgerräte kollossal unterschätzt und habe ihm deshalb diesen Brief geschrieben:
Lieber Herr Pötter,
Vielen Dank für Ihren Beitrag zur Letzten Generation. Ich schätze Ihre Beiträge in der taz sehr! Insbesondere auch Ihren Humor. Ohne Humor wäre die gesamte Situation sehr schwer zu ertragen. So ist sie nur schwer zu ertragen.
Zu Ihrem Artikel bzgl. Letzte Generation möchte ich aber ein paar Anmerkungen machen. Ich habe mich auch oft gefragt, warum die Letzte Generation so etwas wie Tempolimit fordert und verspricht, die Proteste nach Umsetzung einzustellen. Das kann doch nicht ernst sein. Die Logik dahinter ist: Es ist klar, dass die Gegenseite (Porsche und Wissing) nicht auf dieses Angebot eingehen, obwohl ein Tempolimit nichts kosten würde und sehr einfach umzusetzen wäre. Damit kann man dann immer sagen: „Selbst zu diesen einfachsten Maßnahmen wart Ihr nicht bereit.“
Das 9€-Ticket (nicht das Jetzt-noch-49€-Ticket) wäre schon eine Stufe höher, denn dafür müsste der Nahverkehr massiv ausgebaut werden. Deshalb wurde das von Wissing eben auch nicht umgesetzt.
Die dritte Forderung der Letzten Generation nennen Sie auch zu soft, dabei ist das die Hammer-Forderung schlechthin und der einzige Weg, wie wir aus der Situation kommen, in der wir sind. Fridays For Future wurde dafür gelobt, dass sie (anfänglich) eben keine konkreten Forderungen gestellt haben. Sie haben „lediglich“ die Einhaltung des Pariser Abkommens gefordert. Es ist Sache der Politik, den Prozess der Transformation zu gestalten. Sache der Gesellschaft das irgendwie auszuhandeln. Fridays for Future hat das eingefordert. Nicht viel anders ist es bei der Letzten Generation: Sie haben einige Grundforderungen, Notmaßnahmen, aber die Hauptforderung ist jetzt Klimaneutralität 2030 + Gesellschaftsrat. Das große Problem, das wir haben, ist, dass Politik immer in Legislaturperioden gedacht und gemacht wird. Lobbyist*innen beeinflussen Politiker*innen. Politiker*innen wollen wiedergewählt werden. Das führt dazu, dass nicht im Sinne langfristiger positiver Entwicklungen entschieden wird. Außerdem wählt ein Großteil der Bürger*innen überhaupt nicht mehr. Sie sind durch unser Parlament also nicht repräsentiert. Ja, ihr Wille ist nicht einmal irgendwo erfasst. Diese Probleme wären mit einem Bürgerrat gelöst, denn der würde Deutschland repräsentativ abbilden. Gelost.
Lobbyismus wäre stark erschwert. Wiederwahl egal. Es würden alle berücksichtigt. Man könnte dann – unter medialer Begleitung – aushandeln, was Deutschland bereit wäre zu tun, damit es 2030 oder wann auch immer klimaneutral wird. (Ein sehr schöner Film zum Thema ist When Citizens Assemble, der einen Bürgerrat in Irland dokumentiert. Es ging um Abtreibung, ein Thema, das mit anderen demokratischen Mitteln nicht entschieden werden konnte.)
Manche Ihrer Vorschläge würden vielleicht Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses sein. Andere Dinge, die Sie aufgezählt haben, sind freiwillige Initiativen, die man einfach jetzt schon machen könnte, und der Steuerboykott ist eine Protestform, die man dann vielleicht nicht mehr bräuchte.
Ich möchte Sie bitten, sich die Bürgerräte doch noch einmal genauer anzugucken. Für mich scheint es die einzige Möglichkeit zu sein, wie wir aus dem Schlamassel rauskommen. Die Letzte Generation hat eine gute FAQ zum Gesellschaftsrat auf ihrer Webseite. Die Bürgerräte stehen auf S. 8 schon im Koalitionsvertrag. Frühere Bürgerräte in Deutschland hatten CDU-Schirmherren (Schäubele, Köhler). Das heißt, dass sie parteienübergreifend als mögliche Erweiterung unserer Demokratie gesehen werden.
Das könnte etwas werden. Es muss. „Failure is not an option.“ Noam Chomsky
Herzliche Grüße
Stefan Müller