Zuletzt geändert am 2. Januar 2025
Bernward Gesang
Der Professor für Wirtschaftsethik Bernward Gesang hat in der taz wieder einen Artikel veröffentlicht. In Der Kipppunkt für unseren Klimaschutz argumentiert er, dass durch die Wahl Trumps Klimaschutz der Art, wie sie im Pariser Abkommen vorgesehen ist, sinnlos wird und wir unser Geld doch lieber für „auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung“ ausgeben sollten.
Das Milliardenprojekt Klimarettung ist mit der Wiederwahl Donald Trumps gescheitert. Ist unser Geld in Armutsbekämpfung besser investiert?
Bernward Gesang, 2024: Unterüberschrift zum Artikel Der Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Der Text ist inkonsistent, extrem schwach argumentiert und gefährlich. Jemand mit einer Professur in Philosophie hat wahrscheinlich eine viersemestrige Ausbildung in Logik und weiß, wie Argumente aufgebaut sein müssen. Jemand mit einer Professur in irgendwas muss wissen, wie man wissenschaftlich arbeitet. Jemand mit einer Professur in Wirtschaftsethik muss über Nachhaltigkeit und über Gerechtigkeit nachdenken:
Gegenstand der Wirtschaftsethik ist die Reflexion ethischer Prinzipien im Rahmen wirtschaftlichen Handelns und ihre Anwendung auf diesen Bereich. Als zentrale Werte gelten dabei Humanität, Solidarität und Verantwortung. Die Rechtfertigung wirtschaftsethischer Normen kann sich aus den Folgen wirtschaftlichen Handelns auf andere Menschen und die Umwelt ergeben oder aus der Frage, welche Normen an sich als richtig angesehen werden können. Gängige Maßstäbe für die Rechtfertigung sind soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.
Wikipedia-Eintrag für Wirtschaftsethik
Im Folgenden möchte ich zeigen, warum dieser Beitrag von Bernward Gesang kein seriöser und ernstzunehmender Debattenbeitrag ist und warum Bernward Gesang deshalb auch nicht in der taz (oder sonst wo) veröffentlichen können sollte. Im Rahmen der Berichterstattung über den Klimawandel und die damit einhergehenden notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen muss auf Ausgewogenheit geachtet werden. Das bedeutet aber nicht, dass es zu jedem Punkt zwei Meinungen geben muss bzw. dass jeweils zwei Meinungen in der Presse gegenübergestellt werden müssen. Die physikalischen Fakten der Klimakatastrophe sind inzwischen sehr klar und wenn man zu jeder Veröffentlichung auch eine Gegenmeinung abdrucken würde entstünde eine false balance: Falsche Behauptungen, die nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen, wäre überrepräsentiert. Für die Physik des Klimawandels ist das klar und wird in Zeitungen wie der taz auch berücksichtigt. Bei den gesellschaftswissenschaftlichen Themen muss man genauer hinschauen und fragen, ob gewisse Argumentationen sinnvoll sind. Wenn Personen wiederholt unstimmige Aufsätze abgeben, sollte man ihnen keinen Raum mehr geben.
Ich möchte im Folgenden den Artikel auseinandernehmen. Zeile für Zeile.
Der Text
Die Wiederwahl von Donald Trump birgt unbedachte Folgen.
Nein. Wir wissen, was aus der Wiederwahl Trumps folgt. Wir wissen, dass Trump von „clean coal“ gesprochen hat (Präsident Trump, 28.03.2017) und sein Slogan im Wahlkampf „Drill, baby drill!“ war (Trump, 19.07.2024). Er ist am 04.11.2020 aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen und er wird es wieder tun. Wir wissen das. Aus der taz.
Klimaschutz zu spät und erfolglos?
Gesang schreibt:
Ein energischer Green New Deal schien bisher als Lösung, indem grüne Technologien gefördert und günstiger als fossile Alternativen werden. Dies könnte, so die Hoffnung, eine politische und wirtschaftliche Aufbruchstimmung erzeugen. Um 2020 schien dies möglich, da Europa und Amerika gemeinsam grüne Technologien ausbauten. Bidens Inflation Reduction Act und europäische Maßnahmen zeigten, dass Klimaschutz als Investition in die Zukunft verstanden wurde. Doch der Erfolg blieb fraglich, da der Prozess zu spät begann.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Ach. Ach was. Über die letzten beiden Sätze kann man lange nachdenken. Es wird nicht einfacher, wenn man erst über den ersten und dann über den zweiten nachdenkt. Warum wurde die Vergangenheitsform verwendet? Wäre es nicht so besser: „Bidens Inflation Reduction Act und europäische Maßnahmen zeigen, dass Klimaschutz als Investition in die Zukunft verstanden wird. Doch der Erfolg blieb aus, da der Prozess zu spät begonnen wurde.“1 Aber selbst dann wird es nicht viel besser. „Klaus buk einen Kuchen, aber der Erfolg war fraglich, weil Klaus zu spät begann.“ Die Frage, die für die Bewertung des Satzes von BG wichtig ist, ist: Was ist Erfolg? Erfolg für Klimaschutzmaßnahmen besteht darin, dass wir es als Menschheit schaffen, klimaneutral zu leben und den CO2-Gehalt der Atmosphäre von jetzt 424 ppm auf 350 ppm zu reduzieren (IPCC-Report). Egal, wann Klaus mit dem Kuchenbacken anfängt, wenn er einen Kuchen zustandebringt, ist das großartig, denn wir können ihn dann essen und alle haben gute Laune. Es kann allerdings sein, dass Klaus rumtrödelt und sehr spät mit dem Kuchenbacken anfängt, vielleicht, weil er auf Bernward gehört hat und noch eine Weltreise eingeschoben hat. Dadurch kann es passieren, dass Klaus sehr viel mehr für das Mehl bezahlen muss, das er zum Kuchenbacken braucht. Will heißen: Es ist eine unsinnige Argumentation, daraus, dass man zu spät ist, zu folgern, dass man die Ziele aufgeben sollte. Zumal es einfache Mittel gäbe, diesen Zielen näher zu kommen. Spontan fällt mir ein Tempolimit ein und dann noch der Abbau der Subventionen für fossile Brennstoffe (66 Milliarden € pro Jahr in Deutschland). Nun könnte es natürlich sein, dass Klaus so lange mit dem Backen gewartet hat, dass es überhaupt kein Mehl mehr zu kaufen gibt (Klimakatastrophe so weit fortgeschritten, dass die menschliche Zivilisation zusammengebrochen ist). Dann macht die von Bernward Gesang vorgeschlagene Armutsbekämpfung aber auch keinen Sinn mehr, denn dann werden wir alle arm sein.
Aber ganz unabhängig von der Frage, wann der Prozess began und der verschwiemelten Formulierung: Der Erfolg ist nicht fraglich. Er ist eingetreten, wie die folgende Grafik vom Frauenhofer-Institut zeigt. Die Erneuerbaren Energien sind jetzt die billigsten.
Das bedeutet, dass Zubau am ökonomischsten mit Erneuerbaren Energien erfolgen wird. Seit 2023 ist es möglich, natriumbasierte Batterien herzustellen (taz, 07.02.2024). Das Natrium ist in Kochsalz enthalten und Salz gibt es wie Salz im Meer. Goldmann Sachs geht davon aus, dass die Batteriepreise sich bis 2026 halbieren werden (Goldmann Sachs, 07.10.2024). Man kann nun immer noch beklagen, dass es besser gewesen wäre, wenn diese Technologien früher zur Verfügung gestanden hätten. Das ist richtig, die deutsche Solarindustrie wurde 2012 durch CDU und FDP zerstört. Schade. Aber der Kuchen ist jetzt fertig und wir können mehr davon machen und er wird immer billiger und besser.
Auswirkungen der Trump-Präsidentschaft
Das Institut Carbon Analytics schätzt Trumps Einfluss auf das Klima jedoch als gering ein: 0,04 Grad Celsius zusätzliche Erwärmung.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Es gibt kein Institut Carbon Analytics. Carbon Analytics ist eine Firma, die Firmen hilft, ihren CO2-Ausstoß zu bilanzieren. Carbon Brief hat sich intensiv mit den Folgen einer zweiten Amtszeit von Trump beschäftigt (Carbon Brief 07.11.2024) und der Climate Action Tracker hat in seinem Bericht vom November 2024 Folgendes geschrieben:
The election of Donald Trump as President would impact the projected temperature levels that we present here, but it is uncertain to what extent. It could add 0.04°C of warming by 2100 to our current policy estimate of 2.7°C (assuming the rollback of policies is limited to the United States) to a few tenths of a degree to our optimistic scenario of 1.9°C (assuming the US net zero target is permanently removed).
Climate Action Tracker. 14.11.2024: As the climate crisis worsens, the warming outlook stagnates
Das bedeutet: Wenn Trumps negativer Einfluss auf die Klimapolitik auf die USA und auf eine Amtszeit begrenzt ist, dann betragen die Auswirkungen 0,04°, wenn das Ziel der Klimaneutralität der USA für immer aufgegeben wird, beträgt der Einfluss mehrere Zehntel-Grad. Bei diesen Abschätzungen wird davon ausgegangen, dass andere Staaten nicht Trumps Beispiel folgen und die Klimaziele aufgeben oder verwässern. Genau dafür argumentiert aber Bernward Gesang.
Die Studie geht von einer normalen Amtszeit Trumps aus und ignoriert internationale Nachahmer.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Die Behauptung, dass die Studie von einer normalen Amtszeit ausgeht, ist falsch. Wie man oben lesen kann, wird auch der Fall erwogen, dass das Ziel der Klimaneutralität für immer aufgegeben wird (mit oder ohne Trump). Richtig wäre gewesen, zu behaupten, dass der 0,04°-Wert unter der Annahme ermittelt wurde, dass Trump nur eine Amtszeit die Klimaziele der USA beeinflussen kann.
Auch der Professor für Energiesysteme und -politik Jesse D. Jenkins schätzt Trumps Zerstörungspotential gering ein, weil die Energiewende schon weit fortgeschritten ist, gerade auch in konservativen Staaten:
Texas, that paragon of conservatism, is now the undisputed king of clean energy. Factories producing batteries, EVs and solar panels are sprouting across Georgia, the Carolinas, Kentucky, Indiana, Michigan, and beyond. Clean energy is now big business, and influential companies stand to lose billions if the Inflation Reduction Act is repealed. With Republicans securing razor-thin legislative majorities, these laws could thus prove surprisingly durable.
Jenkins, Jesse F. 2024. Trump Is Not the End of the Climate Fight. The next battle begins today. Heatmap.
US-Firmen verdienen Geld im Energiesektor und werden das auch weiterhin tun wollen.
Weiter im Text:
Eine globale, reaktionäre Bewegung könnte stärker wirken als erwartet. Man muss daher wenigstens in Erwägung ziehen, dass der anstehende Rückschritt dem Klimaschutz – im Sinne der Vermeidung der Kipppunkte – das Genick brechen wird.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Man möge sich die Logik noch einmal durch den Kopf gehen lassen: Der Einfluss Trumps, wenn er lokal und temporär begrenzt handeln würde, ist vermutlich gering (0,04°). Bernward Gesang gibt diese Zahl an, sagt, dass Trump aber die Welt beeinflussen wird und dass wir uns deshalb beeinflussen lassen sollten und dass wir wenn Kipppunkte überschritten sind, den bisherigen Klimaschutz aufgeben sollten. Mind-boggling.
Kipppunkte
Aber ist die genaue Verortung der Kipppunkte nicht ungewiss? Vielleicht werden einige von ihnen durch reaktionäres Handeln doch nicht ausgelöst. Auch ist unklar, was überhaupt geschieht, wenn diese Kipppunkte wirklich ausgelöst werden.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Das geht ganz gerade in Richtung Wissenschaftsleugnung. Kann man so lesen: „Ach, irgendwie weiß es keiner so genau. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm.“ Die Kipppunkte kann man in bestimmten Temperaturbereichen verorten und man kann Wahrscheinlichkeiten für das Kippen angeben. Das ist die Übersichtskarte vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung:
Die einzelnen Kipppunkte, die Temperaturbereiche, in denen sie wahrscheinlich ausgelöst werden und die Folgen sind auf der Web-Seite des PIK erklärt: Kippelemente – Großrisiken im Erdsystem Aktueller Forschungsstand: Kippelemente.
Was soll uns die Äußerung mit dem reaktionären Verhalten sagen? Wir sind jetzt laut Climate Action Tracker auf einem 2,7° Pfad. Ganz ohne Trump.
Die Effekte, die durch die Schäden, die Trump anrichten wird, hinzukommen, kommen on top. Was sie genau auslösen werden, wissen wir nicht, weil wir nicht genau abschätzen können, wie stark sich Trumps Zerstörungskraft entfalten kann. Aber das ist letztendlich auch egal, denn wir müssen insgesamt klimaneutral werden und das so schnell wie möglich. „Auch ist unklar, was überhaupt geschieht, wenn diese Kipppunkte wirklich ausgelöst werden.“ Das ist Wissenschaftsleugnung. Es ist klar, was geschieht, denn das steht so auf der Karte. Beim orangenen Punkt in Südamerika steht: Absterben des Amazonas Regenwalds. Wenn dieser Kipppunkt erreicht wird, stirbt der Regenwald ab. Wenn der rote Punkt auf Grönland erreicht wird, haben wir den Grönländischen Eisschild verloren. Es sind sehr viele der sich daraus ergebenden Folgen klar. Und sie sind katastrophal. Der Klimafolgenforscher Prof. Dr. Rahmstorf schrieb schon 2016:
Die Eisschilde in Grönland und der Antarktis verlieren inzwischen jährlich eine Eismenge, die einem Mehrfachen der Masse des Mount Everest entspricht. Die Westantarktis ist nach mehreren übereinstimmenden Studien inzwischen bereits destabilisiert: Wahrscheinlich wurde der kritische Punkt überschritten, ab dem der komplette Verlust des Eisschilds zum Selbstläufer wird, der in den folgenden Jahrhunderten zu einem unaufhaltsamen globalen Meeresanstieg um drei Meter führen wird.
Rahmstorf 2016: Lage, Lage, Lage. Mare 118. S. 60–81. (geteilt auf Mastodon am 27.12.2024)
Das heißt, dass alle Städte und Gebiete, die an Küsten in Mündungsgebieten von Flüssen liegen, betroffen sein werden. Durch das Tauen der oberen Eisschichten auf Grönland kommen die Eismassen, die mit Luft in Kontakt sind, in tiefere, wärmere Bereiche, wodurch das Schmelzen schneller wird und unumkehrbar wird. Unser (Nicht-)Handeln jetzt bestimmt das Leben vieler zukünftiger Generationen. Auch wenn es irgendwann später möglich sein wird, klimaneutral zu leben und CO2 aus der Atmosphäre zurückzuholen, könnte das für einige der Kipppunkte zu spät sein. Deshalb gilt es jetzt schnell zu handeln und möglichst weit vor 2050 klimaneutral zu werden. Das hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Bernward Gesang stellt sich also der gültigen Rechtsauffassung entgegen, wenn er dafür argumentiert, „diesen Klimaschutz“ aufzugeben.
Die direkten Folgen der jeweiligen Kipppunkte sind klar. Was unklar ist, sind weitere Folgen, die sich aus der Interaktion mehrerer sich gegenseitig antreibender Klimaveränderungen ergeben können.
Ein wichtiger Punkt scheint Bernward Gesang nicht klar zu sein: Es ist nicht so, dass wenn der erste Kipppunkt erreicht ist, Klimaschutz komplett sinnlos wird. Betrachtet man die Karte oben, so sieht man, dass sich die Kipppunkte verschiedenen Temperaturbereichen zuordnen lassen.
- 1,5–2,0°
- 2,0–3,7°
- 3,7–6,0°
- > 6,0°
Die folgende Grafik aus Kornhuber et al. (2024) visualisiert die Kipppunkte sehr schön im Vergleich zu Temperaturen:
Auf der X-Achse sind die Temperaturen abgetragen. Die Höhe auf der Y-Achse zeigt, wie stark die globalen Auswirkungen der ausgelösten Veränderungen sein werden. Kipppunkte, die weiter unten angeordnet sind, haben global gesehen größere Auswirkungen. Die Strichellinien zeigen den Bereich, in dem ein Kippen wahrscheinlich ist. Der jeweilige Punkt markiert die Temperatur mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für ein Kippen. Die Farben sagen etwas darüber aus, wie lange es dauert, bis der ausgelöste Prozess vollzogen ist. Zum Beispiel ist das Abschmelzen des Ostantarktischen Eisschildes im Bereich von 5–10° wahrscheinlich. Am wahrscheinlichsten ist es bei 7,5°. Das Abschmelzen würde mehrere Jahrtausende dauern und hätte große globale Auswirkungen. Die im Folgenden verwendeten Daten zu den Temperaturbereichen der Kipppunkte und der Folgen, die aus dem Kippen resultieren, sind ebenfalls Kornhuber et al. (2024) entnommen.
Da wir jetzt auf einem 2,7°–Pfad sind, bedeutet das, dass, wenn wir dem Klimaschutz folgen, so wie er geplant ist, wir nicht den 3,7–6°-Bereich der ersten Abbildung erreichen und schon gar nicht den Bereich oberhalb von 6°. Der Climate Action Tracker beziffert den Komplettausstieg der USA mit einigen Zehntelgraden. Damit wären wir dann immer noch unterhalb des 3,7–6,0°-Bereichs. Wir haben erste Kipppunkte eventuell bereits erreicht: Die Korallenriffe sterben ab, der Permafrostboden beginnt zu tauen (taz, 06.12.2024) und der West-Antarktische Eisschild könnte 2024 gekippt sein (Schwanke, 19.12.2024, bei 9:00 Minuten). Das bedeutet aber nicht, dass wir jetzt den Klimaschutz aufgeben sollten oder können. Alles CO2, das wir weiter emittieren, wird dafür sorgen, dass wir in noch gefährlichere und noch unangenehmere Bereiche kommen. Es besteht also überhaupt keine Alternative als irgendwie gearteten Klimaschutz zu betreiben, der zu einer Klimaneutralität führt. Da das CO2 nicht so schnell aus der Atmosphäre verschwindet, werden wir alles, was wir jetzt emittieren, zurückholen müssen und vorher wird es eventuell weitere Schäden verursachen und Kipppunkte auslösen.
Es stimmt, Kipppunkte sind eine Blackbox, von der man aber mit hoher Wahrscheinlichkeit weiß, dass sie existieren, wo sie sich in etwa befinden und dass ein Auslösen teilweise zu unumkehrbaren Dominoeffekten führt.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Na, gerade noch mal die Kurve gekriegt, aber die Sätze davor sind in der Welt und sie richten mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden an. Herr Gesang, Sie richten mit hoher Wahrscheinlichkeit Schaden an. Noch mal ins Detail, so unter uns Logikern: Die Formulierung „Kipppunkte sind eine Blackbox, von der man aber mit hoher Wahrscheinlichkeit weiß, dass sie existieren“ ist in sich komplett verquirlt. von der bezieht sich auf die Blackbox, sie bezieht sich auf die Kipppunkte. Es hätte wohl heißen sollen: „Kipppunkte sind eine Blackbox, aber man weiß von ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass sie existieren.“. Aber auch das wäre falsch gewesen, denn man kann etwas wissen oder nicht, man weiß nicht etwas mit hoher Wahrscheinlichkeit („Ich weiß mit 50% Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann Klaus heißt.“ bedeutet, dass ich es weiß oder auch nicht, nicht dass ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann Klaus heißt, bei 50% liegt.) Die Wortgruppe „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ ist im falschen Teilsatz gelandet (Das Fachwort dafür ist Skopus). Es hätte also heißen müssen: „Kipppunkte sind eine Blackbox, aber man weiß von ihnen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit existieren.“ Das entspricht wohl dem, was Bernward Gesang behaupten wollte, aber das ist schlicht falsch. Man weiß, dass die Kipppunkte existieren und dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bei bestimmten Temperaturen erreicht werden. Dass sie existieren, kann man sich klarmachen, wenn man einfach überlegt, was bei 10° oder 20° Erwärmung passieren würde (6.4–9.5° entspricht der Verbrennung allen fossilen Kohlenstoffs, die durchschnittliche Erwärmung in der Arktis läge bei 14.7–19.5 °C, Tokarska et. al. 2016). Eis würde schmelzen, Wälder würden sterben. Das ist auch schon bei wesentlich geringeren Temperaturerhöhungen so und dafür gibt es Wahrscheinlichkeiten. Und Kipppunkte sind keine Blackbox. Auch dieser Satz ist sprachlich unsauber.
Das Scheitern des Pariser Abkommens
Die rechtsnationalistische Politik wird wahrscheinlich einige wesentliche Kipppunkte auslösen. Ein Scheitern des Pariser Klimaabkommens ist ernsthaft zu erwägen.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wir können das Scheitern nicht erwägen. Das Abkommen kann scheitern. Wir können es scheitern lassen und wir können ein Scheitern-Lassen erwägen.
Natürlich kann man dagegenhalten, dass eine vorzeitige Aufgabe dieses Klimaschutzes fatale Folgen hat und deshalb zu vermeiden ist.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirklich! Die Formulierung: „vorzeitige Aufgabe“ suggeriert, dass es eine rechtzeitige Aufgabe gäbe. Lieber Herr Gesang: Beschäftigen Sie sich bitte mit der Klimakrise. Lesen Sie den IPCC-Report. Beschäftigen Sie sich mit den Zielen von Klimapolitik. Ich habe sie ja oben schon ausgeführt. Das Ziel ist, auf 350 ppm CO2 zu kommen, denn nur in diesem Rahmen können wir als Menschheit vernünftig leben. Wir sind zur Zeit bei 424 ppm und haben noch nicht aufgehört, CO2 auszustoßen.
Allerdings wird die Wahrscheinlichkeit, dass man diesen Klimaschutz wirklich zu früh aufgibt, immer geringer; die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Klimaschutz eine unsinnige Investition ist, hingegen immer größer.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Die Schäden, die bereits durch den Klimawandel entstanden sind und noch entstehen werden, sind gigantisch. Die Reduktion des CO2-Ausstoßes auf ein sehr geringes Maß und die Rückholung von CO2 ist alternativlos. Das Gerede von Wahrscheinlichkeiten dient wohl dazu, irgendwie wissenschaftlich zu wirken.
Bernward Gesang ist Professor an der Uni Mannheim. Ich frage mich ernsthaft, wie bei ihm Seminare ablaufen. Gibt es dort niemanden, der ihm widerspricht? Gibt es in Mannheim niemanden, der sich mit der Klimakatastrophe so gut auskennt, dass er oder sie sagen kann: Lieber Herr Professor, Sie reden gefährlichen Unsinn!
Kann man es verantworten, diese Kosten-Nutzen-Abwägung zu ignorieren? Ist es sinnvoll, auf möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeiten einen erheblichen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen zu setzen? Zwar könnten wir neben der notwendigen Anpassung an Klimaschäden noch bewirken, dass der Klimawandel, nachdem entscheidende Kipppunkte gefallen sind, bei vielleicht 4,5 statt bei 4,8 Grad Celsius gestoppt wird. Das wäre zwar auch ein „Erfolg“. Dieser Erfolg wäre jedoch mit Klimaschutzpolitik, wie sie derzeit in Europa praktiziert wird, zu teuer erkauft.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Was soll „möglicherweise geringe Wahrscheinlichkeit“ bedeuten? Nehmen wir das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes. Der Kipppunkt liegt in einem Bereich von um 1–3°. Am wahrscheinlichsten ist das Kippen bei 1,5°. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Eisschild genau bei 1° oder bei genau 3° kippt, gering ist. Am höchsten ist sie bei 1,5°. Aber bei einer Temperaturerhöhung von 3,1° ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Eisschild gekippt sein wird, bei 100%, denn alle Temperaturpunkte, bei denen es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gab, sind überschritten. Der Grönländische Eisschild wird verloren sein und wir können ihm nur noch beim Schmelzen zugucken.
Die 4,5 bis 4,8° liegen genau in dem Bereich, in dem sich die zweite Gruppe Kipppunkte befindet. Bernward Gesang scheint irgendwie anzunehmen, dass wir Glück haben, dass keiner der Kipppunkte, die bei 4° liegen ausgelöst worden ist, denn wenn sie ausgelöst werden, führt das zu weiterer Erwärmung, so dass bei 4,8° nicht Schluss wäre. Wenn einige der Kipppunkte aber jeweils zum wahrscheinlichsten Punkt ausgelöst werden, bedeutet das, dass die drei Zehntelgrad genau dafür ausschlaggebend sein können, welcher Kipppunkt erreicht wird. Auch das Arkitische Winter-Meereis könnte mit geringer Wahrscheinlichkeit in diesem Bereich schon kippen (4,5–8,7°). Das würde zu einer zusätzlichen Erwärmung von 0,6° führen. Damit wäre man bei 5,4° und somit auch im Bereich, wo der Ostantarktische Eisschild betroffen sein könnte. Das Abschmelzen des Ostantarktischen Eisschildes würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 50m und zu zusätzlicher Erwärmung von 0,6° führen. Herr Gesang, wollen Sie über die Kosten-Nutzen-Abwägung noch mal nachdenken? Wir sollten also – vielleicht ohne Herrn Gesang – darum kämpfen, dass wir gerade nicht in diese zweite Gruppe von Kipppunkten hineingeraten.
In jedem Fall sind drei Zehntelgrad für die Stärke von Stürmen und Starkregenereignissen wichtig: Je mehr Energie die Stürme antreibt, desto stärker werden sie. Je wärmer es wird, desto mehr Wasser verdunstet und kommt irgendwo wieder herunter.
Und noch eine Frage: Wie glaubt Bernward Gesang denn, dass der Klimawandel bei 4,8° gestoppt wird? Wie soll das funktionieren, wenn wir nicht aufhören CO2 zu emittieren, wenn wir nicht die Erneuerbaren Energien ausbauen und unseren Lebensstil ändern? D.h. wenn wir nicht das tun, was der Inflation Reduction Act und der New Green Deal vorsehen und noch viel mehr? Und wenn wir es ohnehin machen müssen, dann können wir es auch jetzt tun. Und Milliarden Menschen unsägliches Leid ersparen.
Lieber Herr Gesang, wissen Sie, was Sie hier vorschlagen? Mit welchen Zahlen Sie spielen? 4,8°? Wir sind auf einem 2,7°-Pfad. Das ist schlimm genug. Bei den Gradangaben handelt es sich immer um globale Durchschnittswerte. Über den Landmassen ist der Temperaturzuwachs in etwa doppelt so hoch wie über den Meeren. Das bedeutet, dass es bei einem Temperaturzuwachs von 2,7° in Deutschland 5,4° wärmer wird. In Ihrem Szenario würde es 9° bzw. 9,8° wärmer werden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sehr, sehr alt werden, damit Sie noch möglichst viele Hitzesommer miterleben können. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem Sie sich fragen werden: „Was habe ich getan? Wie konnte ich jemals einen Temperaturzuwachs von 4,8° irgendwo als irgendwie mögliches Szenario besprechen?“ Bitte achten Sie darauf möglichst viel zu trinken. Dehydrierung ist wirklich sehr unangenehm. Wahrscheinlich sind Sie vermögend genug, sich eine Klimaanlage anzuschaffen, aber jeder Moment, den Sie im Freien verbringen müssen, wird Sie quälen.
Karsten Schwanke vom Meterologischen Team der ARD hat erklärt (Schwanke, 19.12.2024), was passiert, wenn wir nichts tun. Wir werden dann Ende des Jahrhunderts in Deutschland Höchsttemperaturen von 46–48° haben.
Und nur zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hat die Klimapolitik der vorigen Regierung als nicht verfassungsgemäß eingestuft. Ihr Vorschlag, den Klimaschutz aufzugeben, dürfte genauso bewertet werden.
Armutsbekämpfung
Gesang schlägt vor, statt Klimaschutz direkt in „auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung“ zu investieren:
Die Bilanz in Form geretteter Leben könnte unter Beachtung der Wahrscheinlichkeiten besser sein, wenn die für den Klimaschutz nötigen Milliardeninvestitionen direkt in die auf den Klimaschutz ausgerichtete Armutsbekämpfung fließen würden.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Was ist hiermit genau gemeint? Soll Geld verteilt werden, damit sich alle eine Klimaanlage kaufen können? Wo kommt die Energie dafür her? Ach, aus Erneuerbaren Energien? Aber war nicht der Ausbau erneuerbarer Energien genau ein Bestandteil „dieser Klimapolitik“ (Green New Deal und Inflation Reduction Act)? Die Menschen in Togo bauen keine Betonhäuser mehr, weil das sinnlos ist, weil das Meer diese in wenigen Jahren verschlingt.
Sollte man nicht die Ursachen für Katastrophen beseitigen, anstatt der Katastrophe hinterherzuräumen? Als WIRTSCHAFTSethiker sollten Sie schon mal von den gigantischen Schadenssummen gehört haben, die die Klimakrise heute schon verursacht. Bei 1,2°. Man wird den Schäden durch Anpassungen entgegenwirken können, jedoch werden die Stürme, die Regenmengen, die als Starkregen auf uns herniederstürzen, die Fluten und Überschwemmungen, wesentlich häufiger und intensiver werden. Das Artensterben wird beschleunigt, weil Arten sich nicht so schnell an die extremen Veränderungen anpassen können. Es wird Ernteausfälle geben. Herr Gesang, in einer 4,8° wärmeren Welt wird es weder für Philosoph*innen noch für Sprachwissenschaftler*innen einen Platz geben. Wir wären unnütze Esser und auch körperlich nicht in der Lage, uns durchzusetzen. Vielleicht würde einer von uns beiden am Lagerfeuer geduldet, weil er witzig ist, aber zwei Clowns braucht keiner.
Und das scheint eine sinnvolle Alternative zu sein, sowohl was staatliches wie auch privates Engagement angeht. Privat kann man, statt ein großes Auto zu erwerben, das Geld an entsprechende NGOs spenden. Natürlich wäre eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse hilfreich. Die müsste die für den Klimaschutz aufzuwendenden Kosten mit den Wahrscheinlichkeiten vergleichen, den gewünschten Effekt zu erzielen. Allerdings fürchte ich, eine solche Analyse wäre wegen der Komplexität der Materie sowieso fehlerhaft.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Hier verabschiedet sich Bernward Gesang aus dem Team Wissenschaft. Argumentation: 1) Ich habe einen absurden Vorschlag. 2) Man müsste mal nachrechnen. 3) Ach was, ist zu komplex, da wären sowieso Fehler drin. 4) Also nehmt bitte den Vorschlag aus 1.
Was wir derzeit sagen können, ist, dass wir einen erheblichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Klimaschutz im Sinne einer Orientierung an Paris aufwenden müssten und wir dafür eventuell nur noch wenig Gewinn erwarten könnten. Eventuell sind unsere Investitionen völlig umsonst und bewirken nichts Gutes.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wieso sollen Investitionen in Klimaschutz umsonst sein? Diese Welt muss lernen, klimaneutral und ressourcenschonend zu leben. Möglichst unterhalb von 2°, aber besser bei 2,5 oder 2,7° mehr als bei 4,5 oder 4,8°. Nur so gibt es überhaupt eine Chance, in einer Form weiterzuleben, die dem ähnelt, was wir heute haben.
Daher bietet sich eine Verschiebung der Mittel hin zur am Klimaschutz orientierten Armutsbekämpfung an. Da erhalten wir fürs Geld jedenfalls einen positiven Wohlfahrtseffekt.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Hier wäre eine interessante Frage, was Bernward Gesang unter am Klimaschutz orientierter Armutsbekämpfung versteht. Man könnte die Armut in Deutschland ganz leicht bekämpfen, indem man hohe CO2-Steuern erhebt und die gesamten Einnahmen als Klimageld ausschüttet. Da Menschen mit hohem Einkommen viel mehr konsumieren und emittieren als Menschen mit niedrigen Einkommen (Otto et al. 2019), ergäbe sich so eine Umverteilung. Menschen mit niedrigen Einkommen hätten letztendlich mehr Geld zur Verfügung. Menschen mit sehr hohen Einkommen und entsprechendem Lebensstil ((Privat-)Flüge, mehrere Wohnungen, Yacht, usw. usf.) würden überproportional zur Kasse gebeten. Dadurch, dass bei armen Menschen mehr Geld zur Verfügung stünde, gäbe es gewisse Rebound-Effekte, was man dadurch abmildern kann, dass die Zuwächse in den unteren Einkommensklassen gedeckelt werden (500€–300€ pro Monat, je nach Einkommen) und das entsprechende überschüssige Geld in Klimamaßnahmen investiert würde. Das Klimageld war im Koalitionsvertrag der Ampel von 2021 vorgesehen (S. 49), wurde aber nicht umgesetzt.
Allerdings bleibt zu bedenken, dass dieses Ziel Armutsbekämpfung derzeit kaum jemand verfolgt und frei werdendes Geld am ehesten in weitere Aufrüstung fließen würde.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Was jetzt? Ich dachte, es ging darum, eine Vision zu entwickeln. Die weitere Aufrüstung wird bei mangelndem Klimaschutz auch deshalb erfolgen, weil wir die Armeen in den kommenden Klimakriegen brauchen werden. Wir werden sie brauchen, um die Klimaflüchtlinge an den Grenzen zur EU zu erschießen. Flüchtlinge, die kommen, weil wir ihnen ihre Lebensgrundlagen zerstört haben. Müsste man da als Professor für Ethik nicht irgendwie Bedenken haben? Gedanken?
Daher ist die zentrale Botschaft der neuen politischen Verhältnisse: Deutsche und europäische Klimaschutzpolitik in den bekannten Varianten ist auf den Prüfstand zu stellen! Sie kostet viel Geld, und ihre Ziele sind mit immer größer werdender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erreichbar.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Warum erreicht die Botschaft unseres UN-Generalsekretärs Bernward Gesang nicht? Antonio Guterres sagt immer wieder, dass jedes Zehntel-Grad zählt. Zum Beispiel am Ende des folgenden Videos:
Wenn wir 1,5° nicht mehr erreichen können, dann 1,6°, wenn nicht 1,6°, dann 1,7°. Wir müssen aufhören, CO2 zu emittieren. Mit dem Aufhören aufzuhören ist keine Option.
Das ist die harte Einsicht, der wir uns nicht mehr verschließen können. Ob es wirklich erforderlich ist, den Klimaschutz in Anlehnung an Paris aufzugeben, wird uns die Empirie zeigen.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Äh?
Wenn wirklich entscheidende Kipppunkte fallen, müssen wir die Konsequenz ziehen. In den derzeitig unklaren Zeiten bleibt nur zu beobachten und auch radikale Konsequenzen als Antwort auf die Phänomene zu erwägen.
Bernward Gesang, 2024: Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Herr Gesang! Schämen Sie sich und hören Sie auf zu veröffentlichen. Jedenfalls zum Klima.
Zusammenfassung
Bernward Gesang argumentiert dafür, den Klimaschutz, wie er im Inflation Reduction Act in den USA und im Green New Deal in der EU geplant ist bzw. durchgeführt wurde und wird, aufzugeben, wenn Kipppunkte erreicht werden, da dieser Klimaschutz seiner Meinung nach zu teuer ist und das Geld anders genutzt werden sollte. BG hat nicht verstanden, wie die Kipppunkte funktionieren. Die Kipppunkte werden bei unterschiedlichen Temperaturen überschritten. Die ersten Kipppunkte sind bereits erreicht oder wir sind kurz davor: das Absterben der Korallenriffe, das Auftauen des Permafrostbodens (taz, 06.12.2024). Das bedeutet aber nicht, dass wir den Klimaschutz aufgeben könnten/sollten. Wenn wir einfach alle fossilen Rohstoffe verbrennen würden, würden wir bei 6.4–9.5° landen. BG meint, dass es keinen großen Unterschied machen würde, wenn wir den Klimaschutz aufgäben und dann bei 4,8 statt 4,5° landen würden bzw. dass dieser Unterschied zu teuer erkauft wäre. Alternativen hat er nicht anzubieten, aber davon abgesehen liegt der Kardinalfehler in der Argumentation darin, dass BG behauptet, wir könnten die Klimawandel bei 4,8 statt 4,5° ohne Klimaschutz stoppen. Wie denn? So lange wir CO2 emittieren, werden die Temperaturen steigen. Es gibt zur Klimaneutralität und zur Rückgewinnung von CO2 aus der Atmosphäre keine Alternative. Je geringer der Temperaturanstieg, desto besser für die Menschheit.
Flood the zone with shit
Ich bin Wissenschaftler. Meine Arbeit besteht darin, Argumente anderer Wissenschaftler*innen zu durchdenken und wenn möglich zu widerlegen. Bei der Arbeit an diesem Artikel habe ich Kopfschmerzen bekommen. Nicht im übertragenen Sinn, sondern richtig echte wirklich Schmerzen im Kopf. Bernward Gesangs Beitrag ist so schlecht und unstrukturiert, dass man keine klare Linie erkennen kann. Sätze sind inkohärent. Skopus von Modifikatoren ist falsch. Es ist wirres Gefasel.
Den Bauplan für seinen Beitrag findet man auch in einem Artikel von Emily Pontecorvo:
But with progress comes a new kind of conflict: infighting. Which climate solutions are the best climate solutions? How can we implement them the right way? When should other priorities, like affordability and national security, come first, if they should at all? Are those trade-offs even real? Or are they fossil fuel propaganda?
Emily Pontecorvo. 30.12.2024. The Hottest Climate Debates of 2024. Heatmap.
Das sind genau die Punkte, die BG aufführt: Behauptung: Klimaschutz ist zu teuer (ohne wirklich Vergleiche durchzuführen) und die Militärausgaben. Das mit den Militärausgaben ist besonders auffällig, denn die passen überhaupt nicht in BGs Argumentation (BG: Klimaschutz wie bisher ist sinnlos, deshalb geben wir den Armen was, aber ach was, das Geld wird sicher ohnehin für Militär ausgegeben.) Mit Emily Pontecorvo möchte ich fragen: Sind diese Abwägungen real oder ist das nur Propaganda der Fossil-Lobby?
Dieser Aufsatz entspricht der Strategie der Desinformierer der amerikanischen Rechten: „Flood the zone with shit“ (taz, 03.11.2024). Die Auseinandersetzung mit dieser Scheiße ist aufwändig und es bleibt irgendwo immer irgendwelche Scheiße übrig. Im Falle des Artikels von Bernward Gesang bleibt: „Professor für Wirtschaftsethik findet, Klimawandel kann man eh nicht mehr verhindern. Wäre schade, wenn wir für Klimaschutzmaßnahmen unser Geld ausgäben.“ Oder in seinen eigenen Worten: „Das Milliardenprojekt Klimarettung ist mit der Wiederwahl Donald Trumps gescheitert. Ist unser Geld in Armutsbekämpfung besser investiert?“ Aber es ist nicht gescheitert, wie die Energiekosten zeigen. Und jeder weitere Dollar, jeder Euro, jeder Yen, der für Klimaschutz ausgegeben wird, hilft, milliardenfaches Leid zu verhindern (siehe Abschätzung der Tode, die wir durch unsere Treibhausgas-Emissionen verursachen). Er hilft den Armen global und lokal, denn diese sind überproportional von den Folgen betroffen. Eine 4,8° wärmere Welt ist nicht erstrebenswert, aber selbst dafür müssen Alternativen zur Verbrennung fossiler Rohstoffe gefunden werden. Die Globale Erwärmung hört nicht einfach so auf, wenn wir keinen Klimaschutz betreiben. Sie würde dann erst aufhören, wenn wir alle fossilen Rohstoffe verbrannt hätten. Dann wären wir aber bei 6,4–9,5° Erwärmung (Tokarska et. al. 2016). Pläne, die in eine drei oder mehr Grad heißere Welt führen, entsprechen nicht unserer Verfassung. Die taz sollte sich an der Verbreitung von Desinformationsscheiße nicht beteiligen und Bernward Gesang nie wieder eine Bühne geben.
Gesang oder Mahnung?
Zum Jahreswechsel 2024 erschien in der taz eine Doppelseite, auf der verschiedene Autor*innen erklärt haben, wie sie es schaffen, nicht die Hoffnung zu verlieren (taz, 26,12,2024). Cornelia Schwarz schrieb: „Und wenn ich denke, dass nichts mehr hilft, hilft eines eigentlich immer: Humor. Nicht weil er mich hoffen, sondern weil er mich durchhalten lässt. Und sollte am Ende doch die Hoffnungslosigkeit siegen, dann habe ich wenigstens dabei gelacht.“ Mich schockieren die Beiträge von Bernward Gesang regelmäßig, aber ich denke dann einfach über seinen Namen nach und über den eines anderen Moralphilosophen und habe dann wieder bessere Laune. Während Prof. Dr. Bernward Gesang schon mehrfach für Party statt für anstrengende Maßnahmen argumentiert hat, ist Prof. Dr. Jürgen Manemann ein Mahner.
Hört lieber auf den Manemann. Und Prof. Gesang, hören Sie lieber auf!
Danksagung
Ich danke meinen Followern auf Mastodon und Mitgliedern der Signal-Gruppe der Scientists 4 Future Berlin-Brandenburg für Diskussion.
Quellen
Jakob, Christian. 2024. Strategien gegen Fake-News: Das Dilemma der freien Rede. taz. 03.11.2024. (https://taz.de/Strategien-gegen-Fake-News/!6044579)
Goldmann Sachs. 2024. Electric vehicle battery prices are expected to fall almost 50% by 2026. (https://www.goldmansachs.com/insights/articles/electric-vehicle-battery-prices-are-expected-to-fall-almost-50-percent-by-2025)
Guterres, António. 2022. UN-Generalsekretär António Guterres: Anmerkungen zur Pressekonferenz – Vorstellung des IPCC-Berichts, Genf, 28. Februar 2022. (https://unric.org/de/ipcc280202022/)
Janzing, Bernward. 2024. Neuer Stern am Batteriehimmel. taz. 07.02.2024. Berlin. (https://www.taz.de/!5990962)
Jenkins, Jesse F. 2024. Trump Is Not the End of the Climate Fight. The next battle begins today. Heatmap. (https://heatmap.news/ideas/trump-election-climate-fight)
Kirchner, Tabea. 2024. Studie zu Kipppunkten: Klima steht schon auf der Kippe. taz. 06.12.2024. Berlin. (https://taz.de/Studie-zu-Kipppunkten/!5978474/)
Kornhuber, Kai & Klönne, Uta & Kellou, Dalia & Schleußner, Carl-Friedrich. 2024. Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem: Erkenntnisse, Risiken sowie klima- und sicherheitspolitische Relevanz. Climate Analytics gGmbH, Berlin Im Auftrag des Umweltbundesamtes. (https://climateanalytics.org/publications/kipppunkte-und-kaskadische-kippdynamiken-im-klimasystem)
Kost, Christoph & Müller, Paul & Sepúlveda Schweiger, Jael & Fluri, Verena & Thomsen, Jessica. 2024. Stromgestehungskosten Erneuerbare Energien. Freiburg: Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. (https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/publications/studies/DE2024_ISE_Studie_Stromgestehungskosten_Erneuerbare_Energien.pdf)
Mignake, Gnim Zabdiel & Jordan, Juraj. 2023. Klimawandel in Togo: Die Frage nach Gerechtigkeit. fluter / Bundeszentrale für Politische Bildung. (https://www.fluter.de/kuestenerosion-togo-klimawandel-film)
Otto, Ilona M. & Kim, Kyoung Mi & Dubrovsky, Nika & Lucht, Wolfgang. 2019. Shift the focus from the super-poor to the super-rich. Nature Climate Change 2(9). 82–84. (doi:10.1038/s41558-019-0402-3)
Rahmstorf, Stefan. 2016. Lage, Lage, Lage. Mare 118. 60–81. https://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Other/rahmstorf_mare_2011.pdf
Rahmstorf, Stefan. 2022. Klima und Wetter bei 3 Grad mehr: Eine Erde, wie wir sie nicht kennen (wollen). In Wiegandt, Klaus (ed.), 3 Grad mehr: Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern (Forum Für Verantwortung), 13–30. München: Oekonom-Verlag. (http://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Klima%20und%20Wetter%20bei%203%20Grad%20mehr.pdf)
Schwanke, Karsten, 2024. Karsten Schwanke, Meteorologe ARD-Wetterkompetenzzentrum, über die Wetterextreme im Jahr 2024. 19.12.2024. tagesschau. (https://www.ardmediathek.de/video/tagesschau24/karsten-schwanke-meteorologe-ard-wetterkompetenzzentrum-ueber-die-wetterextreme-im-jahr-2024/tagesschau24/Y3JpZDovL3RhZ2Vzc2NoYXUuZGUvYjUyOTg5OTItMzFjNi00ZjJmLTk0YWQtMjE3ZThmOTIyZWJl)
Tokarska, Katarzyna B. & Gillett, Nathan P. & Weaver, Andrew J. & Arora, Vivek K. & Eby, Michael. 2016. The climate response to five trillion tonnes of carbon. Nature Climate Change (9). 851–855. (doi:10.1038/nclimate3036)
@Stefan Vielen Dank für die ausführliche Analyse und Einordnung dieses grässlichen Textes.
Im Tja, wo anfangen? Der Artikel befasst sich ausführlich mit meinem Artikel „Kipppunkt für unseren Klimaschutz“ in der taz. Er missversteht mich im Detail und in der allgemeinen Botschaft. Das Detail und die Beleidigungen lasse ich einfach mal beiseite, obwohl es den Philosophen wurmt, dass Argumentationsfehler unterstellt werden, die er nicht widerlegen soll. Aber persönliche Rechtfertigung bringt uns in der Sache nicht wirklich weiter. Das größte Missverständnis in der Sache wird leider durch die taz befeuert, die in den Untertiteln des Beitrags, auf die der Autor keinen Einfluss hat, dass Fazit zieht, der Klimaschutz sei nun aufzugeben. Das ist nicht meine These! Erstens, solange empirische Studien Zweifel haben, dass der Effekt der reaktionären Politik weltweit, wirklich so verheerend ist, wie befürchtet werden kann, muss man das ernst nehmen und weiterhin empirisch beobachten, ob nicht irgendwelche, sondern wesentliche Kipppunkte ausgelöst werden. Erst dann sollte man erwägen, etwas zu verändern, bis dahin gilt sowieso weitermachen wie bisher. Das hatte ich am Ende des Textes klar formuliert. Sodann hatte ich nie gefordert, allen Klimaschutz zur Disposition zu stellen. Wäre das gefordert, fragte sich in der Tat, wie man überhaupt einen Schlusspunkt von zum Beispiel 4,5° bei der Erderwärmung erzielen kann. Ich hatte zwischen Klimaschutz orientiert an den Zielen von Paris und Klimaschutz, der diese Ziele aufgibt unterschieden. Letzteren müssen wir natürlich in jedem Fall beibehalten! Wenn wir aufgrund reaktionärer Politik tatsächlich Kipppunkte auslösen, die uns in gefährliche Dimensionen bringen, sind die Ziele von Paris Makulatur (ob das Verfassungsgericht uns auf sie, bzw. baldige Klimaneutralität festlegt oder nicht). Der Klimaschutz, der sich an ihnen orientiert, dann auch. Es gibt aber auch andere Modelle, zum Beispiel Klimaschutz, der verstärkt auf Schutz von Senken wie Moore und Regenwälder setzt. Den kann man gut mit Armutsbekämpfung verkoppeln, indem man etwa armen Bauern im Regenwald ermöglicht, ein ausreichendes Einkommen zu haben, damit sie Regenwälder nicht an Palmölkonzerne verkaufen müssen etc. So ein nicht an Paris orientierter Klimaschutz wird etwa in F.J. Radermacher neuem Buch „All in!“ beschrieben. Dieser geht davon aus, Klimaneutralität erst 2070 zu erreichen, weil die Welt sich de facto entschlossen habe, fossile Ressourcen weiter zu nutzen. Deren fatale Wirkung soll durch Ausbau von CCS -Techniken abgefangen werden. Nicht, dass ich das auch fordern würde oder die gesetzten Prämissen plausibel fände, aber es ist eine Möglichkeit, den Gedanken an Klimaschutz nach Paris zu konkretisieren. Alles in allem möchte ich betonen, dass ich kein „Vordenker der Fossil- Lobby“ bin, sondern engagierter Klimaschützer, der sich anhand der katastrophalen neuen Gegebenheiten fragt, wie man angemessen darauf reagieren sollte. Maßstab dafür ist, wie sich am Ende die Bilanz in Form geretteter Leben darstellt.