Gisbert Fanselow: Ein Klima-Nachruf

Zuletzt geändert am 5. Mai 2023

Gisbert war nicht nur ein exzellenter Sprachwissenschaftler, was man daran ablesen kann, dass ein Workshop zu seinen Ehren, der all seine Aufsätze vorstellt, drei Tage dauert.

Gisbert war außerdem ein begeisterter Hobby-Ornithologe und von Anfang an in der Klimabewegung aktiv. Dieser Blog-Post will Gisberts Beiträge in der Klimabewegung beleuchten, die Entwicklung der Klimabewegung in Deutschland grob nachzeichnen und die Frage diskutieren, was er wohl von der Letzten Generation vor den Kipppunkten halten würde.

Das folgende Bild zeigt ihn auf der ersten größeren Demo Ende 2018. Zu einer Zeit, zu der es Fridays for Future in Deutschland noch nicht gab.

Kohle stoppen – Klimaschutz jetzt 2018

Der Linguist*innenblock bei Kohle stoppen – Klimaschutz jetzt! Berlin, 01.12.2018, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Scientists for Future 2019–

Gisbert war auch von Anfang an bei Scientists for Future (S4F) aktiv. S4F wurde gegründet, als Lindner in Bezug auf Fridays for Future sagte, die sollten das mal die Profis machen lassen.

Profi von morgen auf Fridays For Future Demonstration in Berlin, 15.03.2019, Bild: Stefan Müller CC-BY

Über 26.800 Wissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum taten sich zusammen und unterzeichneten ein Schreiben, das sich hinter Fridays for Future stellte, die Dringlichkeit der Klimakrise betonte und Maßnahmen forderte.

Researchstrejk – Forschungsmittagspause 2019–2020

Doch das war Gisbert nicht genug. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen der Berliner Unis gründete er im Mai 2019 (vor vier Jahren) Researchstrejk. Das war im Prinzip – wie die Schulstreiks von FFF – eine Aktion des zivilen Ungehorsams: Eine Stunde pro Woche wurde nicht geforscht, sondern mit Passant*innen diskutiert.

Wissenschaftlerinnen von HU, FU und der Uni-Potsdam beim Forschungsstreik bzw. der Forschungsmittagspause vor der Humboldt-Univeristät, Links Prof. Dr. Judith Meinschäfer, Prof. Dr. Heike Wiese, Katrin Neuhaus, Prof. Dr. Malte Zimmermann, Prof. Dr. Gisbert Fanselow, Berlin, 22.05.2019, Bild: Stefan Müller CC-BY

Weil einige seiner Mitstreiter*innen Bedenken hatten, wurde Researchstrejk in Forschungsmittagspause bzw. Climate Wednesday umbenannt. Die Mahnwachen fanden vor verschiedenen Berliner, Potsdamer und Leipziger Unis statt. Mitunter zusammen. Immer Mittwochs.

Forschungspause mit Wissenschaftler*innen von der HU, FU und aus Potsdam vor der FU Berlin. Gelbes Shirt: Prof. Uli Reich, kariert Dr. Hartmut Ehmler, rot Lorena Valdivia-Steel, weiß rechts Prof. Dr. Judith Meinschäfer, vorn kariert Gisbert Fanselow. 05.06.2019, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Bei diesem Protest vor dem Bildungsforum in Potsdam kam irgendwann die Polizei.

Researchmittagspause in Potsdam vor dem Bildungsforum, kariertes Hemd Prof. Dr. Gisbert Fanselow, kariertes Hemd daneben Dr. Hartmut Ehmler, am Transparent daneben: Dr. Lorena Valdivia-Steel, 12.06.19, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich dachte: „Oh, Mist! Nicht angemeldet!“ oder sonst wie Stress. Aber sie waren nur gekommen, um uns zu sagen, dass vor dem Landtag noch eine andere Klimagruppe war, die Verstärkung brauchte.

Proteste vor dem Potsdamer Landtag (mit Unterstützung des Researchstrejks). Links kariert Dr. Hartmut Ehmler, bei 1900 Prof. Dr. Gisbert Fanselow, 1980 Judith Meinschäfer, 2020: Dr. Lorena Valdivia-Steel, Potsdam, 12.06.2019, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Gisberts Idee war, dass viele verschiedene Berufsgruppen solche Aktionen machen sollten: Freitags die Schüler*innen, Mittwochs die Wissenschaftler*innen. „Auch guck mal die Bahn-Mitarbeiter*innen.“ „Nein, heute ist doch Donnerstag, das sind die Sparkassenangestellten.“ Das Medieninteresse an Researchstrejk war damals 0,0000. Aber vielleicht wussten wir auch nur nicht, wem wir wie hätten Bescheid sagen müssen.

Academia, DFG, DGfS, Selbstverpflichtung 2019–2020

Gisbert hat an der Uni Potsdam für Klimaschutz gekämpft, er hat sich in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wo er für Graduiertenkollegs verantwortlich war, und in der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) für Klimaschutz und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen eingesetzt. Gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer von der TU Berlin und mit mir hat er eine Selbstverpflichtungsaktion zum Verzicht auf Kurzstreckenflüge an den Unis in Berlin und Brandenburg gestartet. Die Unterschriften wurden dann beim globalen Klimastreik von Fridays for Future an FFF übergeben.

Verkündung der Ergebnisse der Selbstverpflichtungsaktion gegen Kurzstreckenflüge beim 3. globalen Klimastreik von Fridays for Future am Brandenburger Tor, Berlin, 20.09.2019, Bild: Melanie Quilitz CC-BY

Die Selbstverpflichtungsaktion wurde dann auf das Bundesgebiet ausgedehnt (S4F-Link), hat 4142 Unterschriften bekommen und ist wie so vieles andere in Corona untergegangen.

FFF und das Klimapäckchen 2019

Nach dem Klimastreik mit einer Beteiligung von 1,4 Millionen Menschen in Deutschland entwickelte die schwarz-rote Regierung (mit Olaf Scholz als Finanzminister) ein Klimapaket, das von der gesamten Klimabewegung als absolut unzureichend eingestuft wurde (#Klimapäckchen).

Demonstrationsteilnehmer kritisieren das Klimapaket der Großen Koalition bei der Fridays For Future-Demo . Das Transparent zeigt einen Rücksendeschein, auf dem Checkboxen angekreuzt sind: Der Artikel ist defekt oder beschädigt, zu spät geliefert, Lieferung unvollständig, Der Artikel entspricht nicht der Produktbeschreibung, Berlin, 29.11.19, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das Gesetz wurde im Oktober 2019 beschlossen. Nach einer Klage unter anderem von Rechtswissenschaftlern bei Scientists 4 Future wurde das Gesetz 2021 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Die schwarz-rote Regierung erarbeitet in Windeseile ein neues Klimaschutzgesetz, das Treibhausgas-Neutralität bis 2045 vorsieht und Reduktionspfade für einzelne Sektoren vorgibt. Das geschah gerade noch rechtzeitig vor den Bundestagswahlen 2021.

FFF war die einflussreichste Klimagruppe in Deutschland, aber parallel entwickelte sich auch Extinction Rebellion (XR). Diese Gruppierung ist in Großbritannien viel größer als FFF, was wahrscheinlich auf die jeweiligen Einzelpersonen, die die Organisationen in den entsprechenden Ländern geprägt haben, zurückzuführen ist. XR hat im Oktober 2019 in Berlin große Blockaden gemacht. Sie forderten Klimaneutralität 2025, was ich schon damals für sehr ambitioniert hielt. Jetzt haben wir 2023 und sind immer noch seeeehr weit von der Klimaneutralität entfernt.

All diese Bewegungen und so auch Researchstrejk habe durch Corona einen erheblichen Dämpfer bekommen. Researchstrejk wurde komplett beendet, da es sinnlos gewesen wäre, vor leeren Uni-Toren zu stehen.

Das verwaiste Klimahäuschen an der Humboldt-Universität in Corona-Zeiten, 15.05.2020, Bild: Stefan Müller CC-BY

Klimamontag 2020–2022

Aber es gab einen besseren Nachfolger: Berlin for Future organisierte am Alex jahrelang den Klimamontag. Einmal im Monat um 18:00 gab es Vorträge und Musik.

Gisbert Fanselow (Scientists for Future, Researchstrejk) auf der Montagsdemo für Klimaschutz von Berlin4Future, Berlin, Alexanderplatz, 07.09.20, Bild: Stefan Müller CC-BY

Parteieingründung Klimaliste Berlin 2020

Am 09.08.2020 wurde mit Radikal Klima eine Partei gegründet, die sich noch stärker für Klimaschutz einsetzen will als die Grünen.

Gründungsparteitag radikal:klima: Parteimitglieder, In der Else, Berlin, 09.08.20

Die Partei nennt sich später in Klimaliste um. Aktivist*innen wie Kathrin Henneberger treten in die Grüne Partei ein.

FFF, XR und Hungerstreik, Letzte Generation 2021–

FFF und XR haben aber auch in der Corona-Zeit weitergemacht. Ich habe Carla Hinrichs, Henning Jeschke und Lea Bonasera im August 2021 bei einer XR-Blockade fotografiert, ohne sie zu diesem Zeitpunkt zu kennen (Album).

Henning Jeschke (hinten rufend), Lea Bonasera (vorn mit Rise-Up-Tuch) und Carla Hinrichs (mit Geste) bei der Blockade des Brandenburger Tors angeklebt an einem Tripod, Berlin, 20.08.21, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Die drei waren dann später beim Hungerstreik (Album) aktiv und haben die Letzte Generation gegründet. Zu diesem Zeitpunkt waren die Entwürfe des sechsten IPCC-Reports geleakt worden und die Hungerstreikenden wussten bestens Bescheid.

Jacob, Ruben und Henning vom Hungerstreik der letzten Generation am 13. Tag des Hungerstreiks bei der Medienarbeit. Sie hatten damals schon den geleakten IPCC-Report. Berlin, 11.09.21

Sie waren der Meinung, dass es nicht ausreichen würde, sich ab und zu mit XR zu treffen (Frühlings- und Herbstrebellion) und ein paar Straßen zu blockieren. Ihrer Meinung nach musste der Protest auf eine ganz andere Stufe gehoben werden. Die Letzte Generation begann Widerstand gegen die unzureichenden Klimamaßnahmen zu organisieren. Die erste Aktion war eine Container-Aktion. Sie verteilten gerettete Lebensmittel im und vor dem Kaufland im Wedding (Album). Die Menschen waren dankbar.

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation verschenken weggeworfene Lebensmittel im Kaufland in der Residenzstraße, Mitte Lina Eichler, rechts Henning Jeschke. Berlin, 08.01.21, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Wenig später begannen die im Gespräch mit Scholz angekündigten Autobahnblockaden. Das war aber nicht alles. Die Letzte Generation hat ein wirklich buntes Programm an Protestaktionen entwickelt. Ich glaube, dass die Öl-Aktion vor dem Kanzleramt, bei der sechs Olaf Scholzs nach Nordseeöl gruben (Album), und auch die Weihnachtsbaum-Aktion, bei der LG vor den Augen der Polizei über 20 Minuten mit einer Hebebühne agierte, um die Spitze des Weihnachtsbaums am Brandenburger Tor abzuschneiden (Album), Gisbert gefallen hätten, denn er war für Quatsch aller Art stets zu haben. So war er auch Bestandteil des Kabinetts Müller I, das ich in meinem grenzenlosen Optimismus schon zusammengestellt hatten. Ich war ja 2021 einer der 299 Kanzlerkandidat*innen der Partei Die PARTEI. Gisbert war für den Minister für Post und Fernmeldewesen vorgesehen. Wir wollten die bestehenden Telegrafenverbindungen von der Sternwarte in Mitte zum Telegraphenberg in Potsdam zur DFG nach Köln wieder aktivieren und auch Bayern modernisieren. Leider ist aus meinen Kanzlerplänen nichts geworden, aber immerhin war ich der einzige Kanzlerkandidat, der die Forderung der Hungerstreikenden nach einem Gespräch erfüllt hat.

Aktivistinnen vom Aufstand der letzten Generation in Olaf Scholz-Kostümierung graben vor dem Bundeskanzleramt nach Öl, um auf die Unsinnigkeit der Erschließung neuen Erdöls in der Nordsee hinzuweisen. Berlin, 09.07.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY
Aktivistinnen der Letzten Generation mit Hebebühne am Weihnachtsbaums vor dem Hotel Adlon, im Hintergrund zwei Mannschaftswagen der Polizei, vorn macht Edmund Schultz ein Bild. Berlin, 21.12.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Aktionen wie die mit den sechs Ölafs und dem Weihnachtsbaum wurden jedoch von den Medien weitestgehend ignoriert. Das einzige, was zuverlässig für Schlagzeilen sorgte, waren Autobahnblockaden.

Krieg, IPCC-Bericht, Letzte Generation, Extinction Rebellion und Scientists Rebellion 2022

Am 24.02.2022 begann Putin seinen Krieg gegen die Ukraine. Die Klimakatastrophe war medial abgemeldet. Eine spektakuläre Aktion der Letzten Generation mit Luftballons am BER ging in der Kriegsberichterstattung unter.

Miriam Meyer (vorn) und Lina Eichler vom Aufstand der Letzten Generation springen mit Ballons am Flughafen BER aus einem Transporter. Miriam Meyer hat vorher im Fernsehen angekündigt, die Ballons aufsteigen zu lassen. Miriam Meyer vom Aufstand der Letzten Generation informiert den Tower. Der Aufstand der Letzten Generationen blockiert Häfen und Flughäfen, um die Ausarbeitung eines Gesetzes gegen Lebensmittelverschwendung und eine Agrarwende zu erzwingen, so dass die Ernährung auch trotz Klimakrise gesichert bleibt. Berlin-Schönefeld 25.02.22

Der IPCC-Bericht wird in drei Teilen veröffentlicht. Der erste erscheint am 28.02.2022. Extinction Rebellion blockiert die Marschallbrücke.

Extinction Rebellion zündet Weltkugel an, um auf IPCC-Bericht hinzuweisen. Aktivistin mit Scholz-Maske und Benzin-Kanister, auf dem Lobby steht, gießt weiter Benzin ins Feuer. Marschallbrücke, Berlin, 28.02.2022

Die Zeitungen sind voll mit Kriegsberichterstattung. Immerhin schafft es Antonio Guterres als einziges Nicht-Kriegsthema in die 20:00-Ausgabe der Tagesschau.

Am 5.3.22 eine erneute Blockade der Marschallbrücke durch Extinction Rebellion. Diesmal mit einem raffinierten trojanischen Pferd, in dem vier Personen versteckt und vier weitere mit Lock Ons außen verbunden sind (Album).

Extinction Rebellion blockiert die Marschallbrücke, um auf den IPCC-Report und die Verfehlung des 1,5„-Ziels hinzuweisen. Vier Menschen haben sich mit Lock Ons von außen an die Konstruktion gefesselt. In der Konstruktion sind weitere Menschen miteinander verbunden. Marschallbrücke, Berlin, 05.03.22

Zwei Aktivist*innen von Extinction Rebellion verlesen eine Rede, die man für eine typische Aktivist*innen-Rede halten könnte, aber sie ist von Antonio Guterres, dem UN-Generalsekretär (Rede).

Aktivisten von Extinction Rebellion verlesen während der Blockade der Marschallbrücke die Rede von UN-Generalsekretär António Guterres zum IPCC-Report. Berlin, 05.03.22

Zur selben Zeit sind Wissenschaftler*innen auf einem Platz an der Leipziger Straße aktiv. Mitten auf dem Platz besprühen sie Kittel mit dem Schriftzug Scientist Rebellion. Sie haben einen Eimer mit roter Farbe dabei und eine Schablone mit der „Aufschrift Ukraine Climate War“. Aufgrund des Krieges ist Berlin in erhöhter Alarmbereitschaft. Botschaften und andere Einrichtungen werden besonders bewacht. Die Zentrale von Gazprom ist gleich um die Ecke, zwei Zivilpolizisten mit offen getragener Pistole sind gleich auf dem Platz und zwingen alle auf den Boden. Erkennungsdienstliche Behandlung, Platzverweise.

Wissenschaftler von Scientists Rebellion wurden mit Schablone und Farbeimer in der Nähe der Gazpromvertretung in Berlin festgenommen. Auf der Schablone steht: „Ukraine Climate War“. vlnr. Daniele Artico, Physiker, Doktorand, Kyle Topfer, Umweltwissenschaftler, MSc Student, Christian Bläul, Physiker, Mike Lynch-White, Physiker. Jugendpark der WBM, Berlin, 05.03.22

Am 4.4. erscheint der dritte Teil des IPCC-Reports. Scientist Rebellion hat inzwischen genug Kittel besprüht, ist besser organisiert und Wissenschaftler*innen aus ganz Europa – darunter eine hochschwangere Biologin – blockieren die Kronprinzenbrücke (Album).

Wissenschaftler*innen von Scientist Rebellion blockieren die Kronprinzenbrücke in Berlin, um auf die dramatischen Folgen der Klimakatastrophe laut IPCC-Bericht hinzuweisen. Unter Fahrradverkehrsschild mit Pyro Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim, Geologe aus Bonn, Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22

Klima after work 2022

Heinrich Stößenreuter, Initiator von vielen NGOs und Ereignissen (Changing Cities, German Zero, Critical Mass Berlin) hat mit Wolfgang Oels (CEO von Ecosia), Künstler*innen von Volle Halle und Berlin 4 Future die Klima after Work-Party ins Leben gerufen.

Rebel for Life: Kleines Kind mit Extinction-Rebellion-Jacke und Oma for Future beim ersten Klima after Work, Im Hintergrund mit Mütze Antonio Rohrßen von der Klimaliste Berlin, Invalidenpark vor dem Klimaministerium, Berlin, 01.07.22

Das war im Prinzip eine lowlevelige Variante des Klimamontags. Eine Art Party, die jeden Freitag 17:00–18:00 stattfand. Die Idee Wolfgang Oehls war, dass sich die Teilnehmerzahlen jede Woche verdoppel sollten und bei 10 Mio würde es dann sehr schnell echten Klimaschutz geben. Alle waren mal da, aber zu exponentiellem Wachstum kam es nicht.

Dieser Plan war aber wohl ohne die extreme Individualisierung und Überforderung durch Corona gemacht worden. Klima after Work lief bis Weihnachten 2022.

Volksbegehren / Volksentscheid 2022–2023

Die Initiative Klimaneustart hat über Jahre für ein Volksbegehren und einen Volksentscheid gekämpft. Da Berlin wegen Schlamperei Neuwahlen durchführen musste, hätte es nahe gelegen, den Volksentscheid gemeinsam mit den Wahlen durchzuführen. Die Politik in Berlin hätte dann gewusst, was das Volk in Berlin will, aber die SPD hat das bewusst hintertrieben, hat den Volksentscheid in den März verschoben, auf einen Tag, der wegen der Zeitumstellung eine Stunde kürzer war und an dem ein Halbmarathon stattfand.

Aktion von Extinction Rebellion zum Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030 für einen gemeinsamen Termin mit der Landeswahl: Andreas Geisel, Franziska Giffey und Iris Spranger werfen zerrissene Unterschriftensammelbriefe hoch. Rotes Rathaus, Berlin, 07.11.22

Geht doch in eine/gründet doch eine Partei, startet eine Petition, geht wählen, macht einen Volksentscheid

Ich habe in den letzten Jahren viele Klimaaktionen fotografisch begleitet. Oft haben Polizist*innen mit Aktivist*innen diskutiert und versucht, sie auf den Pfad der Tugend zurück und vom zivilen Ungehorsam abzubringen.

Das Kommunikationsteam der Polizei diskutiert mit Aktivisten während der Blockade des Potsdamer Platzes durch Extinction Rebellion, Aktivist hält ein Banner mit der Aufschrift: „Wir müssen nicht das Klima retten sondern uns selbst!“ Berlin, 19.09.22

Sie hatten viele Vorschläge: Geht in eine Partei! Gründet eine Partei! Startet eine Petition, geht wählen, macht einen Volksentscheid, meldet Eure Demos an. Wie ich oben gezeigt habe, machen Aktivist*innen all das ständig. Manche auch gleichzeitig. Bis zum Burnout. Die Zeit ist knapp, denn es müssen in den nächsten Jahren die Weichen gestellt werden. Im IPCC-Report steht: „Die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen werden sich jetzt und für Tausende von Jahren auswirken.“ So, wie die Weichen jetzt stehen, zeigen sie nicht in Richtung 1,5°! Übrigens: Das 1,5°-Ziel wurde einstimmig vom Bundestag beschlossen. Es ist der Kompromiss. Man muss darüber nicht neu verhandeln. Man muss handeln.

Workshop und Berlin-Blockade 04/2023

Gisbert war ab Januar 2022 schwer krank, so dass ich ihn nicht mehr persönlich getroffen habe. Wir haben nie über die Letzte Generation vor den Kipppunkten geredet. Vom 27.–29.04.2023 fand nun der sprachwissenschaftliche Workshop zu seinen Ehren statt. Vom 24.04. an stört die Letzte Generation mit 800 Menschen den Verkehr in Berlin. Das sind Straßenblockaden mit den üblichen Klebeaktionen. Autobahnauffahrten, mit gemieteten Autos auch Autobahnen mittendrin und dann auch Kreuzungen im Innenstadtbereich. Dazu kommen so genannte Slow Walks, bei denen die Aktivist*innen einfach so die Straße langlaufen. Langsam. (Album)

Slow walk der Letzten Generation. in der Mitte Sonja Manderbach, Rotes Rathaus, Berlin, 24.03.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das erzeugt auch lange Staus. Je nach Situation sorgt die Polizei für gesperrte Straßen, indem sie Aktivist*innen kesselt. (Album)

Aktivist*innen der Letzten Generation werden am Alexanderplatz von der Polizei gekesselt. Berlin, 19.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich habe an alle Workshopteilnehmer*innen geschrieben, dass sie am besten das Rad nehmen sollten, denn beim Nahverkehr gibt es viele Baustellen und die Straßen sind dicht. Am ersten Tag, als ich auf dem Weg zum Festsaal der HU war, leitete die Polizei den Verkehr durch die kleine Nebenstraße, die ich nehme, um die Kreuzung Eberswalder/Schönhauser zu vermeiden. Ich dachte mir, diesen ganzen Verkehr tue ich mir jetzt nicht an, und bin weiter den Radweg gefahren. Auf der Kreuzung saß dann auch die Letzte Generation.

Sie haben sich dann auch unbemerkt in meinen Vortrag beim Gisbert-Workshop eingeschlichen. Sie waren einfach mittendrin auf einer Folie. Ohne Sinn und Verstand! Es hat nicht gepasst. Nur gestört. Die Bildqualität des Beamers war schlecht. Es war mir peinlich.

Einen Tag später saßen sie wieder da. Andere Menschen, gleiche Stelle:

Die Letzte Generation blockiert die Kreuzung Eberswalder/Schönhauser Allee. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich bin dann zum Ernst-Reuter-Platz zu einer angemeldeten Demonstration von Wissenschaftler*innen gefahren, die sich mit der Letzten Generation solidarisch erklärt haben (Album).

Wissenschaftler*innen solidarisieren sich mit der Letzten Generation. Auf dem Schild mit den Warming Stripes steht ein Zitat aus dem IPCC-Report: „Die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen werden sich jetzt und für Tausende von Jahren auswirken.“ Dr. Matthias Schmelzer spricht. Ernst-Reuter-Platz. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Zufällig gab es dann auch drei Straßenblockaden um den Ernst-Reuter-Platz herum.

Wissenschaftler*innen solidarisieren sich mit der Letzten Generation bei einer Blockade des Ernst-Reuter-Platzes. Auf dem Transparent steht: „Die Wissenschaft steht hinter der Letzten Generation“, Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ganz rechts im Bild steht Dr. Hartmut Ehmler, Physiker und Energiewissenschaftler. Er war einer derjenigen, die beim Researchstrejk aktiv waren. Auch Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer hat sich bereits bei einer früheren Solidarisierungsaktion mit der Letzten Generation solidarisiert (Album):

Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer, TU Berlin, Zentrum Technik und Gesellschaft (Wissenschaftliche Geschäftsführerin) spricht bei Veranstaltung zur Solidarisierung mit der Letzten Generation. Im Hintergrund Dr. Helen Feulner, Unter den Linden, Berlin, 17.02.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ich fand die Solidarisierungsaktion am Ernst-Reuter-Platz, die genau zeitgleich mit dem Gisbert-Workshop stattfand, interessant und habe mich wieder gefragt, ob er wohl heute hier gewesen wäre.

Als ich später die Bilder ausgesucht habe, habe ich etwas gesehen, was mir vor Ort nicht aufgefallen war:

Firmenfahrzeug der Firma Horst Fanselow passiert Blockade der Letzten Generation am Ernst-Reuter-Platz. Berlin, 28.04.23, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Ein großer roter Transporter von Fanselow-Berlin passierte die Blockade. Fanselow ist nun nicht so ein häufiger Name. Es kann also kein Zufall sein. Gisbert hat uns ein Zeichen geschickt und meine Frage beantwortet.

Nachwort

Ellen Brandner hat beim Workshop aus einem frühen Aufsatz von Gisbert zur Bindungstheorie zitiert: „Die Lage ist hoffnungslos aber nicht ernst“ (eine Verdrehung einer Aussage eines Kollegen). So ist es auch mit dem Klimaschutz: Die Regierung von Porschepartei, Klimakanzler und LNG-Grünen ist hoffnungslos vom Kurs abgekommen und will nun sogar auch noch das Not-Klimagesetz, das Scholz selbst mitverantwortet, so aufweichen, dass die Sektoren nicht mehr einzeln verantwortlich sind und auch nicht mehr so oft die Einhaltung überprüft wird. Das alles lässt sich nur mit Humor ertragen. Wir sind also nicht ernst. Ich glaube nicht ernsthaft daran, dass Gisbert über rote Autos mit uns kommuniziert.

Und übrigens: Das ist Ernst:

Ernst Hörmann (72, 8 Enkel), Aktivist vom Aufstand der Letzten Generation, bei der erkennungsdienstlichen Behandlung nach der Blockade der A100, Berlin, 04.02.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Er ist 73, hat 8 Enkel und ist bei der Letzten Generation aktiv.

Gedenkminute für Gisbert Fanselow von seinen Mitstreiter*innen bei Scientist 4 Future, Researchstrejk, Climate Wednesdays. Golm, 23.11.23

6 Gedanken zu „Gisbert Fanselow: Ein Klima-Nachruf

  1. Als später Nachruf: Weitermachen und Weiterkämpfen ist wahrscheinlich in seinem Sinne. Denn – Wer sich nicht wehrt lebt verkehrt…

  2. Danke für die sehr passende Würdigung des engagierten Kollegen Gisbert und der anderen Aktiven, durch deine Fotos!

  3. Pingback: Zahltag: 02.Mai 2023 - Fundstücke zur Klimakatastrophe - MartinBaron.net

  4. Lieber Stefan, danke für die sehr schöne Zusammenstellung, über die Gisbert sich sicherlich sehr gefreut hätte!

  5. Gisbert hat sichtbare Wiedergänger gefunden – welch ein tapferer Versuch. Ich bin voller Sympathien. Weil ich früher mal in meinem Leben gezwungen wurde, in sozialistischen Marschkolonnen zu spazieren, scheue ich mich vor dem Angeklebtbleibenmüssen.

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