Aufs Land mit dem ÖPNV?

Zuletzt geändert am 29. Mai 2022

In der taz gab es vor kurzem einen Artikel, in dem die Autorin Friederike Gräff beschrieben hat, wie sie mit ÖPNV von Hamburg-Eimsbüttel nach Vierden kommt (taz, 11.10.2021). Sie braucht dazu 3 Stunden und 40 Minuten mit fünf Mal umsteigen. Ziel ihrer Reise ist ein Wochenendgrundstück, also Erholung. Sie hat sich zum Erreichen des Ziels ein Auto gekauft. Mit dem Auto kann sie die 50 km in 45 min zurücklegen. Der Artikel ist interessant, weil er den Istzustand der Verkehrsanbindung auf dem Land beschreibt. Daran gilt es vieles zu verbessern, so dass auch Menschen auf dem Land auf das Auto verzichten können. Vielleicht vorerst nicht komplett, aber es ist ja schon etwas gewonnen, wenn einzelne Fahrten unterbleiben können.

ÖPNV + Rad

Ansonsten ist die Frage, ob man mit einer Kombination aus Rad und Bahn die Strecke nicht besser bewältigen könnte. Zuerst gibt es natürlich die Möglichkeit, die ganze Strecke zu fahren. Da die Entfernung nur 50 km beträgt, kann man die Strecke bequem in drei Stunden zurücklegen, ist also noch schneller und billiger als mit der Bahn dort (und billiger als mit dem Auto). Wenn es darum geht, sich zu erholen, dann ist eine Radfahrt Teil der aktiven Erholung. Kinder kommen in den Hänger oder fahren ab einem gewissem Alter selbst. Weniger fitte Menschen können ein E-Fahrrad benutzen.

Alternativ kann man von der Station Emilienstraße Tostedt mit einem Mal Umsteigen in 50–55 Minuten erreichen. (fährt alle 30 Minuten von früh bis spät auch am Wochenende)

Von dort sind es nur noch 23,7km oder 1h 20min mit dem Rad.

Kosten

Friederike Gäff schreibt, dass sie nicht viel Geld hat. Autos sind teuer. Abgesehen von der Anschaffung und von Wartungskosten gibt es einen Wertverfall und man bezahlt Steuern, Versicherung und Sprit. Für dieses Geld kann man genauso E-Räder oder (E-)Lastenräder anschaffen. Dafür fallen keine Steuern an und die Wartungskosten sind vergleichsweise gering. Hier habe ich die Kfz-Kosten mal zusammengestellt.

Alles sofort und schnell

Friederike Gräff beschreibt die wirklich recht abenteuerliche Tour mit mehreren Bussen und kommt zum Schluss, dass man nur als nicht arbeitender Mensch mit dem öffentlichen Nahverkehr zurecht (bzw. nach Vierden) kommt:

Die Busfahrerin von Bus 865 wünscht uns noch einen schönen Tag, als sie uns vor der Mühle absetzt. Nach 3 Stunden 40 Minuten sind wir am Ziel. Es ist möglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Mühle zu kommen. Man muss nur in der Lage sein, sein Leben darauf einzustellen und eine Existenz als Privatier führen. Wir setzen uns auf die Wiese und betrachten die Bäume, die sich zueinander neigen. Aber nur kurz: Man darf nicht länger als zwei Stunden bleiben, wenn man noch am selben Tag zurück nach Hause kommen will, der letzte Bus fährt um 16.09 Uhr.

Friederike Gräff, Verkehrswende auf dem Land: Man muss auch warten können, taz, 11.10.2021

Dieser kurze Textauszug zeigt meiner Meinung nach aber schon recht klar das Problem: Wieso muss man denn mal einen Tag schnell nach Vierden und abends wieder zurück? Ist das nicht derselbe Wahnsinn, wie mal eben schnell nach Barcelona zum Einkaufen zu fliegen oder zu einem Konzert nach London? Ist Goethe mal schnell nach Rom und wieder zurück? Nein, er blieb dort vier Monate, fuhr dann nach Neapel, blieb dort fünf Wochen, dann Sizilien und dann noch mal ein Jahr Rom. Für die Wochenenderholung könnte man also Freitag Abend mit Rad und Bahn nach Vierden fahren und dann am Sonntag wieder zurück.

Lebenswerte Städte

Aber eigentlich liegt das Problem noch viel tiefer, wie die folgenden Zitate zeigen:

Ich bin dort, um auf der Wiese auf der Bank zu sitzen und auf die Baumreihe gegenüber zu schauen, wo sich drei Bäume zueinander neigen, als seien sie müde und trostbedürftig. Ich bin dort, weil ich hier nicht jedes Mal, wenn die Kinder kreischend hintereinander herlaufen, fürchte, dass die Nachbarn hochkommen, um sich zu beschweren. Ich nutze das Land als Pause, als Kulisse meiner Pause.

Letztlich haben wir ein Auto gekauft, einen uralten Benziner. Autobesitzerin zu sein, fühlt sich an wie eine Kapitulation. „You are not stuck in traffic. You are traffic“ steht auf einem Transparent an einem Haus, an dem vorbei ich zur Arbeit radle, und jedes Mal, wenn wir auf dem Weg zur Mühle im Stau stehen, denke ich daran.

Friederike Gräff, Verkehrswende auf dem Land: Man muss auch warten können, taz, 11.10.2021

Das Auto wurde also nur angeschafft, um den Kindern eine Möglichkeit zu geben, sich auszutoben. Ansonsten steht es in der Stadt rum. Wenn es benutzt wird, erzeugt es Stau.

In meiner Kindheit war es so, dass die Straßen frei waren, weil es viel weniger Autos gab. Man konnte auf der Straße mit dem Ball spielen und diesen an der Bordsteinkante abprallen lassen, weil dort keine Autos standen. Das Ziel müsste also eigentlich sein, lebenswerte Städte mit viel mehr Grün und Spielflächen zu haben, so dass diese Fahrten überhaupt nicht nötig sind. Natürlich gibt es Gründe für diese Fahrten in der anderen Richtung vom Land in die Stadt, weshalb die Fahrten natürlich prinzipiell möglich sein sollten und entsprechende Angebote gemacht werden sollten.

Mentalitätswandel

Friederike Gäff verlinkt einen früheren Artikel ihres Hamburger Kollegen Gernot Knödler und der bringt es auf den Punkt! Erstens brauchen wir die Fortbewegungsart Rad+ÖPNV auch in den Planungstools. (Für mich war es ohne Ortskenntnis ein Abenteuer die nächstgelegene Bahnstation in der Umgebung von Vierden zu finden) und zweitens müssen wir selbst uns alle umstellen:

Wenn es darum geht, Verkehrsmittel miteinander zu verknüpfen, werden elektronische Systeme eine wichtige Rolle spielen, mit denen sich Angebote finden und buchen lassen. Sie müssen möglichst einheitlich und einfach zu bedienen sein. Für alle, die sich mit dem Smartphone oder Computer schwer tun, müsse zudem eine analoge Buchung, etwa per Telefon, möglich sein, fordert das „Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende“.

Das Bündnis, zu dem Umwelt- und Sozialverbände ebenso wie Gewerkschaften gehören, weist auch darauf hin, dass die Verkehrswende ohne einen Mentalitätswandel nicht zu schaffen sein wird. Dazu gehöre „ein kritisches Hinterfragen von Konsumgewohnheiten, die das Verkehrsaufkommen erhöhen“, Beteiligung und Mobilitätsbildung für alle Altersklassen.

„Es muss“, so das Fazit, „an vielen Schrauben gedreht werden.“

Gernot Knödler, Wie Klimaschutz im Verkehr funktioniert: Ein Leben ohne Auto, taz, 13.08.2021

Mir ist es zu einfach, wenn immer wieder betont wird, dass das Individuum nicht für irgendetwas verantwortlich gemacht werden könne. Ja, es ist schwierig, wenn man alle mitnehmen will, aber irgendwann und irgendwer muss anfangen. Jetzt!

Nachtrag: Veganer gegen Vegetarier

Mir ist klar, dass dieser Blog-Post ein bisschen komisch ist. So wie die Diskussion von Veganern mit Vegetariern. Wir sollten uns wohl lieber mit Rindfleischgrillmeister*innen und SUV-Fahrer*innen streiten, aber manche Punkte kommen mir einfach bei solchen Leider-Leider-Artikeln hoch.

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