Keine Disruption? Zum Potential und der Notwendigkeit von Bürgerräten

Zuletzt geändert am 7. Mai 2023

Bernhard Pötter schreibt in der taz zu Klimathemen. Ich schätze Ihn sehr. Zur Letzten Generation hat er geschrieben:

Verglichen mit ihrem Pathos und ihrem Störpotenzial sind ihre Forderungen fast banal: Tempolimit, 49-Euro-Ticket­, Bürgerrat, Gespräche mit der Regierung, wie am Beginn der Woche mit Verkehrsminister Volker Wissing. Alles gute Ideen – aber nichts, was uns einer echten Veränderung des fossilen Systems wirklich näher bringt. Keine Disruption.

Bernhard Pötter, Debatte um Letzte Generation: Klimakleben für alle, 06.05.2023, taz

Ich denke, dass Bernhard Pötter das Potenzial der Bürgerräte kollossal unterschätzt und habe ihm deshalb diesen Brief geschrieben:

Lieber Herr Pötter,

Vielen Dank für Ihren Beitrag zur Letzten Generation. Ich schätze Ihre Beiträge in der taz sehr! Insbesondere auch Ihren Humor. Ohne Humor wäre die gesamte Situation sehr schwer zu ertragen. So ist sie nur schwer zu ertragen.

Zu Ihrem Artikel bzgl. Letzte Generation möchte ich aber ein paar Anmerkungen machen. Ich habe mich auch oft gefragt, warum die Letzte Generation so etwas wie Tempolimit fordert und verspricht, die Proteste nach Umsetzung einzustellen. Das kann doch nicht ernst sein. Die Logik dahinter ist: Es ist klar, dass die Gegenseite (Porsche und Wissing) nicht auf dieses Angebot eingehen, obwohl ein Tempolimit nichts kosten würde und sehr einfach umzusetzen wäre. Damit kann man dann immer sagen: „Selbst zu diesen einfachsten Maßnahmen wart Ihr nicht bereit.“

Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation bringen Tempo-100-Schilder zum Verkehrsministerium und lassen einige durch die Luft segeln. v.l.n.r Miriam Meyer, Edmund Schultz, Mirjam Herrmann, Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22, Bild: Stefan Müller, CC-BY

Das 9€-Ticket (nicht das Jetzt-noch-49€-Ticket) wäre schon eine Stufe höher, denn dafür müsste der Nahverkehr massiv ausgebaut werden. Deshalb wurde das von Wissing eben auch nicht umgesetzt.

Christina Puciata, 53, Nachrichtensprecherin, und Jens Vierbuchen und zwei weitere Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation blockieren am Schönhauser Tor eine Straße. Berlin, 28.10.22

Die dritte Forderung der Letzten Generation nennen Sie auch zu soft, dabei ist das die Hammer-Forderung schlechthin und der einzige Weg, wie wir aus der Situation kommen, in der wir sind. Fridays For Future wurde dafür gelobt, dass sie (anfänglich) eben keine konkreten Forderungen gestellt haben. Sie haben „lediglich“ die Einhaltung des Pariser Abkommens gefordert. Es ist Sache der Politik, den Prozess der Transformation zu gestalten. Sache der Gesellschaft das irgendwie auszuhandeln. Fridays for Future hat das eingefordert. Nicht viel anders ist es bei der Letzten Generation: Sie haben einige Grundforderungen, Notmaßnahmen, aber die Hauptforderung ist jetzt Klimaneutralität 2030 + Gesellschaftsrat. Das große Problem, das wir haben, ist, dass Politik immer in Legislaturperioden gedacht und gemacht wird. Lobbyist*innen beeinflussen Politiker*innen. Politiker*innen wollen wiedergewählt werden. Das führt dazu, dass nicht im Sinne langfristiger positiver Entwicklungen entschieden wird. Außerdem wählt ein Großteil der Bürger*innen überhaupt nicht mehr. Sie sind durch unser Parlament also nicht repräsentiert. Ja, ihr Wille ist nicht einmal irgendwo erfasst. Diese Probleme wären mit einem Bürgerrat gelöst, denn der würde Deutschland repräsentativ abbilden. Gelost.

Raúl Semmler wird auf Polizeiauto festgenommen. Aktivisten der Letzten Generation fordern einen Gesellschaftsrat zu Klimafragen. Bei einem Slow-Walk-Protestmarsch. Schillingbrücke, Berlin, 19.04.23

Lobbyismus wäre stark erschwert. Wiederwahl egal. Es würden alle berücksichtigt. Man könnte dann – unter medialer Begleitung – aushandeln, was Deutschland bereit wäre zu tun, damit es 2030 oder wann auch immer klimaneutral wird. (Ein sehr schöner Film zum Thema ist When Citizens Assemble, der einen Bürgerrat in Irland dokumentiert. Es ging um Abtreibung, ein Thema, das mit anderen demokratischen Mitteln nicht entschieden werden konnte.)

Manche Ihrer Vorschläge würden vielleicht Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses sein. Andere Dinge, die Sie aufgezählt haben, sind freiwillige Initiativen, die man einfach jetzt schon machen könnte, und der Steuerboykott ist eine Protestform, die man dann vielleicht nicht mehr bräuchte.

Ich möchte Sie bitten, sich die Bürgerräte doch noch einmal genauer anzugucken. Für mich scheint es die einzige Möglichkeit zu sein, wie wir aus dem Schlamassel rauskommen. Die Letzte Generation hat eine gute FAQ zum Gesellschaftsrat auf ihrer Webseite. Die Bürgerräte stehen auf S. 8 schon im Koalitionsvertrag. Frühere Bürgerräte in Deutschland hatten CDU-Schirmherren (Schäubele, Köhler). Das heißt, dass sie parteienübergreifend als mögliche Erweiterung unserer Demokratie gesehen werden.

Das könnte etwas werden. Es muss. „Failure is not an option.“ Noam Chomsky

Herzliche Grüße

    Stefan Müller

2 Gedanken zu „Keine Disruption? Zum Potential und der Notwendigkeit von Bürgerräten

  1. Wo gibt es Daten, Fakten, Analysen dazu, was die Bürgerversammlung in Irland wirklich bewirkt hat?

    Hat die Bürgerversammlung zu einer Meinungsänderung in der Bevölkerung in Irland geführt? Wäre der Volksentscheid zur Änderung des Abtreibungsrechts in Irland ohne die Bürgerversammlung anders ausgegangen? Wenn ja, warum?

    Ich habe nur folgendes gefunden: Suiter, J. (2018). Deliberation in Action – Ireland’s Abortion Referendum. Political Insight, 9(3), 30–32. https://doi.org/10.1177/2041905818796576

    meine vereinfachte Kurzzusammenfassung/Thesen nach Querlesen:
    – die Bevölkerung war ohnehin schon mehrheitlich progressiv und für die Abschaffung des Abtreibungsverbots
    – auf Grund irischer Besonderheiten (Medien, Wahlrecht etc.) war es schwierig, diesen Mehrheitswillen politisch umzusetzen
    – dabei hat die Bürgerversammlung geschickt geholfen, diese Irland-eigenen Defizite auszubügeln

    Das wäre natürlich etwas ganz anderes, als quasi einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung zu finden und diesen dann auch politisch umzusetzen.

    In der Abstimmung haben immer noch 1/3 nicht für ja gestimmt. Das ist für die Akzeptanz bzw. Umsetzung der Abtreibungsregelung letztlich irrelevant. Es kommt nicht darauf an, dass die Nicht-Befürworter und Gegner sich aktiv bei der Umsetzung oder Ermöglichung von Abtreibungen beteiligen. Bei vielen anderen Themen sieht das ganz anders aus.

    Außerdem weist ChatGPT darauf hin, dass der Tod von Savita Halappanavar (bereits aus dem Jahr 2012) und ähnliche Fälle danach eine entscheidende Rolle gespielt hat. Nach ihrem Tod demonstrierten Zehntausende und die Bischöfe sahen sich zur Erklärung veranlasst, „dass die katholische Kirche an das „gleiche und unveräußerliche Recht einer Mutter und ihres ungeborenen Kindes auf Leben“ glaubt und dass die Kirche nie gelehrt hat dass das Leben eines ungeborenen Kindes Vorrang vor dem Leben der Mutter hat“.

    „Am 20. Mai 2018 riefen die Eltern von Halappanavar dazu auf, beim irischen Referendum über die Aufhebung des achten Verfassungszusatzes mit „ Ja“ zu stimmen. Ihr Vater sagte: „Ich hoffe, dass das irische Volk mit Ja für die Abtreibung stimmt, für die Damen Irlands und das Volk.“ von Irland. Meine Tochter, sie verlor ihr Leben wegen dieses Abtreibungsgesetzes, wegen der Diagnose, und sie konnte keine Abtreibung durchführen. Sie ist gestorben.“ Am 25. Mai 2018 stimmte das irische Volk mit einer Mehrheit von 2 zu 1 für die Aufhebung des achten Verfassungszusatzes.“ siehe Whttps://en.wikipedia.org/wiki/Death_of_Savita_Halappanavar

    Nichts gegen mehr Bürgerbeteilung, Bürgerräte, Bürgerversammlungen etc., aber was genau soll das Potential in und für Deutschland sein? Insbesondere beim Thema Klima, aber nicht nur abstrakt für mehr Klimaschutz zu sein, sondern konkret dafür selbst „Opfer“ zu bringen bzw. Nachteile in Kauf zu nehmen.

  2. ergänzend: Ein Bericht der NYT zur Ireland’s Abortion Rights Campaign kommt ganz ohne Hinweis auf die Bürgerversammlung (Citizens‘ Assembly) aus, sondern hebt nur das emotionale Einzelschicksal von Halappanavar hervor: https://www.nytimes.com/2018/05/27/world/europe/savita-halappanavar-ireland-abortion.html

    (Die Verfasser des im Blogbeitrag verlinkten Youtube-Beitrags scheinen mir selbst Lobbyisten zu sein. In eigener Sache: s. Beschreibung unter dem Youtube-Video)

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